Archive for August 2012

Deutschland, deine Idole

August 24, 2012

Gutes Personal zu bekommen, ist schwer. Und das weltweit. Zum Beispiel ordentliche Freiheitskämpfer. Sicher, alle müssen sparen. Auch bei der Protest International Inc. sitzen die Mittel nicht mehr so locker seit die Finanziers aus Kalte-Kriegs-Zeiten weggefallen sind. Aber so dürftig im Niveau war es schon lange nicht mehr.

Zum Beispiel „Pussy Riot“: In Russland müssen wir uns da zur Projektion unseres Protestes gegen das autoritäre Putin-Regime mit drei post-pubertierenden Twenager-Mädels begnügen, die mit bunten Pudelmützen über dem Gesicht arhythmisch durch den Altarraum der Christ-Erlöser-Kathedrale springen und „Heilige Mutter Gottes, erlöse uns von Putin“ durch die Gegend schreien. Nicht alle Gläubigen auf der Welt schätzen solche Indienstnahme ihrer geweihten Stätten zum Zwecke des Aufrüttelns der Gesellschaft. Klar, dass eine freiheitliche Gesellschaft so etwas ertragen und wegstecken muss. Klar, dass zwei Jahre Lagerhaft für solche Klingelstreiche des Kleinhirns unangemessen und nicht hinnehmbar sind. Nur zum Fanal des russisch-demokratischen Aufbruchs möchte man die lustige Combo (deren Band-Namen hierzulande seltsamerweise noch niemand übersetzt hat) dann doch nur in Notfällen machen.

Zum Beispiel Julia Timoschenko: In der Ukraine hat sich eine bemerkenswerte Zopfkranz-Trägerin mit gutaussehender Tochter zur Inkarnation des Kampfes gegen Autoritarismus, Korruption und Clanwirtschaft hochgearbeitet, die nun schon geraume Zeit nach einem absurden Schauprozess in fadenscheinig begründeter Haft gehalten wird. Julia Timoschenko hat nach dem Ende der Sowjetunion auf undurchsichtige Weise sich und ihrer Familie die Taschen mit einem Millionenvermögen gefüllt. Als ehemalige Ministerpräsidentin in Kiew ist auch sie nicht als lupenreine Demokratin aufgefallen. Aber all das rechtfertigt natürlich nicht die Prozess-Farce, der sie zum Opfer fiel oder die Willkürherrschaft der Donezk-Seilschaften von Präsident Janukowitsch. Selbstverständlich muss auch im Knast ein Bandscheibenvorfall ordentlich behandelt werden – zur Not von Spitzenärzten, die eigens aus Deutschland eingeflogen werden. Aber sollte man deshalb in Carrara schon mal den Marmor für ihr künftiges Standbild auf dem Kiewer Kreschtschatik-Boulevard brechen?

Zum Beispiel Julien Assange: Nimmt man die Intensität der Berichterstattung über den weißhaarigen Petzportal-Gründer zum Maßstab, dann lautet die Botschaft: „Völker der Welt, schaut auf diesen Nerd! Jeder der irgendwo Daten geklaut hat und wen anschwärzen will, kann sich bei Wikileaks an die Spitze von Assanges Weltbewegung für Transparenz und gegen die Mächtigen setzen. Und weil der gejagte Held für dunklen Mächte so gefährlich ist, wie Leo Trotzki im mexikanischen Exil, muss er sich seit Monaten gegen eine Anklage wegen sexueller Übergriffe in Schweden wehren. Und gegen die befürchtete Auslieferung an die ehedem erfolgreich auf Wikileaks verpetzten Amerikaner. All das ist ein völlig überdrehter Justiz-Irrsinn und hätte durch eine Befragung in London leicht geklärt werden können. Aber wenn der Held der schönen neuen Netz-Welt nun ausgerechnet in Equador um Asyl nachsucht, einem wegen Korruption und politischer Bandenwirtschaft nicht sonderlich gut beleumundeten Regime, dann muss die Not schon ziemlich groß sein.

Man verlangt ja nicht viel, keinen Gandhi, Mandela oder Martin Luther King. Aber warum kann man uns mit Freiheit und Demokratie auf der Welt mitfiebernden Westlern nicht einen Kämpfer-Mindeststandard der Kategorie Sacharow, Havel oder Havemann bieten?! Statt durchgeknallter Schreihälse mit tragischem Schicksal und Verfolgten-Vita, gern mal wieder jemanden, der für sein Land eine Idee hat, wirklich etwas erreichen und kämpfen will. Und mit dem man sich irgendwann einmal gemeinsam über den Sieg freuen würde und auf Besserung hoffen dürfte. Das wäre toll.

Ecce homo: „Seht, was für ein Mensch!“

August 19, 2012

Es ist ein großes Opus geworden – eine ganze Seite 3 in der „Süddeutschen Zeitung“ vom Samstag. Eine Großreportage über die Normalität homosexueller Lebensgemeinschaften in Deutschland. Verbohrte Unionsparteien, so die mehr als deutlich untergebrachte Botschaft, die sich noch immer gegen volle Gleichstellung sperren.

Ein Beitrag, der angesichts seiner unreflektierten Schlichtheit frösteln macht.

Da sitzen Axel und Jürgen Haase aus Neuss an ihrem Küchentisch und breiten fröhlich ihre schöne neue Ehe-Welt vor dem wohlwollenden Reporter aus. Das muntere Töchterchen Jasmin haben die Haase-Männer vor zwei Jahren in Mumbai mit gespendeten Eizellen von einer Inderin austragen lassen. Geradezu schäbig, dass der gleichgeschlechtlich orientierte Bundesaußenminister den Vater mehrere Monate in Indien mit konsularischen Umständen behelligte, als der das fremdgeborene Kind mit nach Deutschland bringen wollte.

Doch die Haases sind schon wieder froher Hoffnung. Diesmal trägt eine Latino-Frau in San Diego die Zwillige aus, die durch künstliche Befruchtung mit den gespendeten Eizellen einer schwarzen Amerikanerin gezeugt wurden.

Über so unerhebliche Kleinigkeiten, wie die Tatsache, dass Leihmutterschaft in Deutschland aus guten Gründen verboten ist, geht der Autor leichtfüßig hinweg. Angesichts der von den Haases gelebten gesellschaftlichen Modernität, wird dieses reaktionäre Tabu lediglich in einem Halbsatz angeprangert. Gesetzestreue ist ohnehin nur etwas für Deppen. Der fortschrittliche Zeilenschmied entblödet sich auch nicht, den türkischen Gemüsehändler mit dem Satz zu zitieren: „Es hat mit denen noch nie Probleme gegeben“, als handele es sich bei Homosexuellen gemeinhin um Schläger, Junkies oder eine heikle Nazi-Bruderschaft… – und wenn selbst der Türke nichts gegen die hat, ja dann!

Das Verrückte, ja fassungslos machende an diesem Text ist, dass im Dienste der vermeintlich toleranten Sache die Gesellschaft in einem Aufwasch dazu aufgefordert wird, ihren kompletten bioethischen Kompass über Bord zu werfen. Wenn es um Schwule und Lesben geht, dann ist es geradezu geboten, indische Leihmütter auszubeuten. Da darf weltweit schwunghaft mit Eizellen gehandelt und fremdausgetragen werden, als sei der Mensch eine agrarische Produktionsgenossenschaft. Wenn Gleichgeschlechtler den weltweiten Kinderhandel ankurbeln, werden keine Fragen mehr gestellt. Dass auch „Heteros“ aus gutem Grund der Kinderkauf verweigert wird, interessiert nicht. Und von dort bis zum Menschenrecht auf ein Kind ist es nur noch ein Katzensprung. Der kleine Mensch wird zum Objekt (der Begierde), und wir sind dabei gewesen. 

Ethikräte hin oder her, wenn Axel und Jürgen ein Kind wollen, dann wird das schon später damit klarkommen, dass da irgendwo auf der Welt eine dunkelhäutige Mama herumläuft, die ihr Kind nicht kennt. Da wird ein Kind in Neuss aufwachsen, dessen Wurzeln sich irgendwo zwischen den Kontinenten verlieren.

Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, dass gleichgeschlechtlichen Partnern testamentarische oder steuerliche Rechte vorenthalten werden sollen. Es geht darum, dass hier aus einem irrwitzigen Homozentrismus heraus die Gesellschaft in ihren innersten Wertmaßstäben umgebaut werden soll und sich die Protagonisten all dessen noch nicht einmal bewusst sind. Man kann eine Gesellschaft wollen, in der Kleingruppen nicht mehr nur frei und unbehelligt leben, sondern auch die Maßstäbe der Mehrheit prägen. Man kann eine Gesellschaft wollen, in der es kein tragendes Lebensmodell mehr gibt, sondern jeder irgendwie sein Ding durchzieht. Man kann eine Gesellschaft wollen, in der man sich seine Kinder so beschafft, wie es sich gerade am praktischsten anbietet. All das kann man wollen.

Man kann und darf so eine Gesellschaft aber auch nicht wollen. Und das, ohne sich bei Jürgen und Axel aus Neuss entschuldigen zu müssen.

Auf Sand gebaut

August 16, 2012

Mit viel Brimborium hat die Kanzlerin zu Jahresbeginn ihren „Bürgerdialog“ gestartet, bei dem Hinz und Kunz, Kreti und Pleti, Plitsch und Plum ihr mal die Meinung sagen konnten. Auf der Web-Seite gab’s ein munteres Themen-Casting, und wie’s die Klickzahlen wollten, belegten Hanf-Liebhaber und Waffen-Freunde die Spitzenplätze. Sie werden nun zum Kanzlerinnen-Plausch ins Amt eingeladen. Bei den vier „Townhall-Meetings“ im Lande war Merkel schon im Frühjahr live dabei.

Als unlängst bei Sekt und Schnittchen im Kanzleramt die erste Auswertung der fröhlichen Volksbefragung gefeiert wurde, gab es vor allem eine Botschaft, die eigentlich niemand hören wollte: Die Deutschen sind sich der Grundlagen ihres Lebens, ihres Wohlstands und ihres Wirtschaftens nicht bewusst, wie die Kanzlerin sekundiert von etlichen Professoren anmerkte. Sie nehmen all dies als gegeben und selbstverständlich hin.

Eine beängstigende Analyse.

Wirtschaftlich sehen die Deutschen ausweislich der Befragungen und Untersuchungen der betreffenden Arbeitsgruppe weder eine Abhängigkeit des inländischen Wohlstands von der Energieversorgung, noch vom Zugang zu Rohstoffen oder dem Rahmen-Reglement für die Arbeit. Im Gegenteil: Energie wird schon da sein, lautete mehrheitlich die Aussage der Bürgerdialog-Bürger. Statt dessen gab es viele gute Ideen, wie deutsche Firmen klimaneutral wirtschaften, soziale Verpflichtungen übernehmen und ihren internationalen Handel nach „Fairtrade“-Regeln ausrichten sollten.

Finanziell sieht die Mehrheit der Dialog-Teilnehmer ebenfalls keine Notwendigkeit für Rücksichten bei politischen Entscheidungen. Standardwendung: „Ein reiches Land wie Deutschland wird doch….“ Dann folgen viele schöne, wünschenswerte Projekte von Atomausstieg bis zur Integration von Migranten. Wie oft das gleiche Geld des „reichen Deutschland“ da für visionäre Unternehmungen ausgegeben wurde, haben die Dialog-Experten allerdings nicht gezählt.

 Politisch muss sich einiges ändern – darüber sind sich die hauptamtlichen Mitsprachler ebenfalls einig. Sorgen, ob und wie das Gemeinwesen funktioniert, treiben die meisten Deutschen nicht um. Dafür sehen alle reichlich Reformbedarf. Entscheidungen müssen nicht nur transparent sein, sie sollen auch klar und schnell getroffen werden, aber unter Einbeziehung der Bürger – am besten per Volksentscheid, -abstimmung, -befragung. Dass all dies möglicherweise nicht gleichzeitig zu haben ist, wird als kleinliche Verhinderungsrhetorik zurückgewiesen. Grundsätzlich Schuld: „die etablierten Parteien“, „die Politiker“, „die Wirtschaft“…

Gesellschaftlich ist vor allem wichtig, dass die individuellen Lebensentwürfe nicht durch gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeiten beeinträchtigt oder eingeengt werden. Vor allem sieht sich jeder, der nicht im gleichen Maße gefördert wird wie andere als Opfer von Diskriminierung. Motto: Was ich nicht bekomme, soll keiner haben oder alle.  Dabei ist das gesellschaftliche Selbstbild der Deutschen kein egozentrisches. Es soll allen gut gehen, Migranten sollen alle nötigen Hilfen bekommen, sexuelle Identitäten sollen völlig gleichgestellt sein, Familien gefördert werden und Sozialschwache unterstützt. Maximale Solidarität bei maximaler Freizügigkeit.

Das Fazit ist ernüchternd. Die Deutschen – eine Horde wohlstandsverwöhnter Flausenköpfe? Träume von der schönen neuen Welt, obwohl man die alte noch gar nicht verstanden hat? Und vor allem: Welche Schlussfolgerungen wird die Kanzlerin aus ihrem Bürgerdialog ziehen? Eine unscheinbare, aber bezeichnende hat sie schon gezogen: Es werden nicht nur die bestplatzierten und meistunterstützten Wortmeldungen des Online-Forums zum Date ins Kanzleramt eingeladen, sondern auch noch zehn Einreicher von Vorschlägen, die Experten als besonders wichtig und sinnvoll taxiert haben. Im Grunde ein schönes Plädoyer für die repräsentative statt der TED-Umfrage-Demokratie…

Beschnittenes Selbstbild

August 3, 2012

Eines muss man den Richtern vom Landgericht Köln, die das jüngste Urteil zur Knabenbeschneidung gefällt haben, lassen: Sie haben wirklich mal echtes Neuland beschritten!

Die Liste der Vorwürfe, die Juden in den vergangenen 2000 Jahren (mehr oder weniger handgreiflich) gemacht wurden, ist weiß Gott lang. Von Brunnenvergiftung bis Kindermord, von Raffgier bis zu geheimbündlerischem Umsturz und der großen Weltverschwörung ist so ziemlich alles dabei gewesen. Dass die Beschneidung ihrer Kinder Körperverletzung sei, hat ihnen noch nie jemand vorgehalten.

Ein erstaunlicher Umstand, wenn man bedenkt, dass doch sonst kein Hirngespinst abwegig genug gewesen ist, um ein neues Pogrom zu begründen oder wenigstens ein wenig übel nachzureden. Vielleicht liegt das daran, dass es die Muslime auch tun? Oder sollte sich tatsächlich Gleichgültigkeit darüber durchgesetzt haben, was „die“ mit ihren Kindern machen?

Oder wurde das Ganze gar als eine Art religiöser Spleen der „anderen“ abgetan? – was ein eher erstaunlicher Ausweis interreligiöser Toleranz wäre. Fakt ist aber auch, dass die Debatte um die Frühbeschneidung von Jungen ein Schlag in die Magengrube der deutschen Selbstwahrnehmung ist. Und das nicht nur für gefühlige Befindlichkeitsfeuilletonisten: Die wirre, verwirrte Weltsicht ist längst auch in deutsches Recht gegossen.

Kruzifix-Urteil: Die „negative Religionsfreiheit“ (Freiheit, von Religion nicht behelligt zu werden) ist den Deutschen ein so hohes Gut, dass der Blick auf ein Kruzifix im Klassenzimmer für Nichtchristen unzumutbar ist. Kruzifixe müssen abgehängt werden, aber Beschneidungen an Minderjährigen, die nicht nur optisch ärgern, sondern mit der körperlichen Unversehrtheit von Kindern kollidieren, müssen (laut Kanzlerin, Außenminister & Co.) möglich sein?

Abtreibung: Ein neues Menschlein im Mutterleib zu töten, ist nach deutschem Recht illegal, wird aber im Konsens aller Parteien nicht verfolgt. Warum also so ein Geschrei um ein paar Millimeter Vorhaut, ohne die man zweifellos in den allermeisten Fällen trotzdem ganz gut durchs Leben kommt?

Kinderschutz: Handgreifliche Erziehungsmethoden von der Ohrfeige bis zur Tracht Prügel sind nach deutschem Recht belang- und strafbar. Aber das irreparable Entfernen einer Körperpartie kurz nach der Geburt soll als Ausweis religiöser Weltoffenheit gesetzlich ausdrücklich gestattet werden?

Kosmetische Operationen: Will Chantalle (16) aus Delitzsch ein Pfund Brust (darf ruhig ein bisschen mehr sein) am eigenen Balkon anbauen, plant der Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben – selbst wenn Mutti mitspielt. Sogar der Solariumsbesuch soll Minderjährigen untersagt werden. All das passt schlecht zusammen mit einer ausdrücklichen Freigabe von Beschneidungen.

Kopftuch-Urteil: Warum ist das für alle Beteiligten schmerzlose Tragen eines Kopftuches als Zeichen der religiösen Identität im öffentlichen Dienst nicht hinnehmbar, während sich nun fast alle Parteien im Bundestag dafür einsetzen, dass ein verkürztes Pimmelchen möglich sein müsse, damit Deutschland nicht als „Komikernation“ (O-Ton Merkel) dasteht?

Kann es sein, dass die Deutschen

a)  mit Religion grundsätzlich ein Problem haben

b)  mit der eigenen (christlichen) noch viel mehr und

c)   von dem seltsamen paternalistischen Wahn getrieben sind, jeden Menschen vor allem auch vor sich sich selbst zu schützen?

Die Antwort lautet: Ja.