Kleine Fische und der Widerstand im Schwarm Kleine Fische stellen das Wasser nicht in Frage, sondern versuchen zu schwimmen. Jan-Hendrik Olbertz, der erst kürzlich zum neuen Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität berufen wurde, gehörte in der DDR zweifellos zu den kleinen Fischen. Er ist damals wie heute parteilos geblieben und hat versucht, in einem System erfolgreich zu sein, in dem man Aufstieg mit ideologischer Treue zu bezahlen hatte. Das konnte zwangsläufig nicht gut gehen. Die beiden Dissertationsschriften von ihm sind das beste Beispiel dafür. Will man sich der Frage nähern, ob Olbertz für die Tätigkeit als Rektor der Humboldt-Uni tragbar ist (der Vollständigkeit halber müsste man sagen: und als Kultusminister in Sachsen-Anhalt tragbar war), so gibt es mehrere Schritte, mit denen man vorsichtig versuchen kann, die weltanschaulichen Koordinaten des Mannes von damals zu rekonstruieren.
Da ist zunächst das Studienfach: Dass die DDR händeringend Lehrer suchte, musste jedem Schüler spätestens auf dem Weg zum Abitur klarwerden, als man versuchte, möglichst viele Absolventen für den Pädagogen-Beruf zu gewinnen („Umlenkung“ hieß das im Schulbetrieb). Welche Aufgaben den Lehrern und dem Schulwesen in der DDR zukamen, konnte gleichfalls niemandem verborgen bleiben, der mit wachen Sinnen in der DDR dabei war oder gar auf Distanz zu ihr stand, wie Olbertz es für sich in Anspruch nimmt. Erziehung, Bildung und Erziehungswissenschaft waren ideologische Kampffelder. Wer wie Olbertz Erziehungswissenschaften wählte, wusste, dass es genausowenig neutrales Forschen und Arbeiten geben würde, wie in jedem anderen „gesellschaftswissenschaftlichen“ Fach. Viele hätten deshalb diese Richtung gar nicht erst eingeschlagen, wie sie auch Philosophie oder Ökonomie nicht wählten. Richard Schröder hat zudem zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wahl der Themen für die beiden inkriminierten Dissertationen zumindest nicht den Eindruck befördert, da sei einer weltanschaulicher Phrasenhuberei aus dem Weg gegangen.
Pflichtgemäßer Alltagsopportunismus, gedankenloses Phrasenschwurbeln oder tiefsitzende Überzeugung: „Das aktuelle Anliegen der moralischen Erziehung an der Hochschule besteht in der Ausprägung und Fortpflanzung eines dem Sozialismus gemäßen Ethos der Hervorbringung, Vermittlung, Aneignung und Nutzung von Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft in Einheit mit der harmonischen Persönlichkeitsentwicklung der Studenten, das sich als spezifische Form der Realisierung und Neuschaffung gesamtgesellschaftlicher, sozialistischer Moral im Hochschulbereich entwickelt und bewährt.“ – Gesinnung aus Schriftstücken zu rekonstruieren ist schwierig. Tonfall und Duktus der weltanschaulichen Passagen legen Menschen mit DDR-Erfahrung den Eindruck nahe, dass hier zumindest keine erkennbare Vermeidungsstrategie am Werke war. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk belegt zudem, dass sich die ideologische Durchsetzung nicht nur auf pflichtgemäße Einleitung und Schluss-Sermon begrenzen, sondern die gesamten Texte durchziehen. Das musste nicht sein. Hinzu kommt schließlich, dass etwa der gleichfalls überflüssige Einschub plastischer Passagen über den menschlichen Verrohungsgrad US-amerikanischer Forscher (die in Jeans, mit Popcorn und Cola entwurzelt an Sternenkriegen basteln) nun wirklich zum Repertoire des gehobenen Propaganda-Dienstes à la Karl-Eduard von Schnitzler gehörte. Jeder pflichtgemäße Opportunist hätte sich solches verkniffen. Dennoch kann es sein, dass Olbertz zu jenen gehörte, die ihre Nische offensiv verteidigten. Je vollkommener, je strahlender die ideologische Fassade, desto größer die Chance, nicht mit weitergehenden Forderungen (wie etwa Partei-Eintritt etc.) behelligt zu werden. Ein Mechanismus, der nicht selten war in der DDR und bei dem das „Schwärmen“ (für den DDR-Sozialismus) im Schwarm der Schwadroneure eine allerdings verhängnisvolle Stabilisierung des Systems zur Folge hatte und dazu beitrug, die hermetische Geschlossenheit der Gesellschaft als Drohkulisse weiter auszubauen. Allerdings wäre in diesen Falle interessant zu erfahren, wofür Olbertz die so erkämpften Freiräume genutzt hat: Nur, um seinen Parteieintritt abzuwehren oder gar, um humanistische Ideale in die Erziehungswissenschaften hineinzutragen? Bislang bleibt dieser Aspekt eher im Dunkeln. Die beiden Arbeiten atmen eher den Geist jener charakterlichen Disposition von Menschen, die es einfach nicht ertragen können, für schlecht gehalten zu werden – selbst wenn es die Sache nicht wert ist, in ihr als gut zu gelten. Es sind diese Typen, die vorher im Sport-Unterricht immer erzählen, sie würden sich nicht anstrengen, es hinterher aber trotzdem verbissen tun und auf deren Solidarität bei Klassenstreichen man nie bauen kann.
Vom Rektum-Inspektor zum Rektor?: Das mögen andere entscheiden. Klar ist, dass Jan-Hendrik Olbertz als HU-Rektor fehl am Platze wäre, wenn es darum gehen soll, die Rolle der Eliten, auch der Hochschul-Eliten in der DDR kritisch zu diskutieren. Produktiv könnte der Vorgang auch sein, um Rolle und Mechanismen von „Alltagsopportunismus“ in der DDR und grundsätzlich zu beleuchten. Warum haben wir in so vielen kleinen Ecken des täglichen Lebens Fahnen rausgehängt, Slogans an Wandzeitungen geschrieben und leere Demonstrationen besucht. Zumindest eine Generation lang böte das authentische Erleben der DDR die Chance, sich diese Wirkmechanismen vor Augen zu halten. Nicht jeder muss sich da verurteilt fühlen, aber ein wenig Verunsicherung wäre manchmal vielleicht ganz gut. Gerade auch im von Opportunismus alles andere als freien Politikbetrieb der Bundesrepublik. Denn eigentlich kann es nie schaden, immer erst einmal zu prüfen, in welchem Gewässer man da als kleiner oder großer Fisch schwimmen lernt.