Archive for Mai 2010

Wenn kleine Fische ins Schwärmen geraten

Mai 31, 2010

Kleine Fische und der Widerstand im Schwarm Kleine Fische stellen das Wasser nicht in Frage, sondern versuchen zu schwimmen. Jan-Hendrik Olbertz, der erst kürzlich zum neuen Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität berufen wurde, gehörte in der DDR zweifellos zu den kleinen Fischen. Er ist damals wie heute parteilos geblieben und hat versucht, in einem System erfolgreich zu sein, in dem man Aufstieg mit ideologischer Treue zu bezahlen hatte. Das konnte zwangsläufig nicht gut gehen. Die beiden Dissertationsschriften von ihm sind das beste Beispiel dafür. Will man sich der Frage nähern, ob Olbertz für die Tätigkeit als Rektor der Humboldt-Uni tragbar ist (der Vollständigkeit halber müsste man sagen: und als Kultusminister in Sachsen-Anhalt tragbar war), so gibt es mehrere Schritte, mit denen man vorsichtig versuchen kann, die weltanschaulichen Koordinaten des Mannes von damals zu rekonstruieren.

Da ist zunächst das Studienfach: Dass die DDR händeringend Lehrer suchte, musste jedem Schüler spätestens auf dem Weg zum Abitur klarwerden, als man versuchte, möglichst viele Absolventen für den Pädagogen-Beruf zu gewinnen („Umlenkung“ hieß das im Schulbetrieb). Welche Aufgaben den Lehrern und dem Schulwesen in der DDR zukamen, konnte gleichfalls niemandem verborgen bleiben, der mit wachen Sinnen in der DDR dabei war oder gar auf Distanz zu ihr stand, wie Olbertz es für sich in Anspruch nimmt. Erziehung, Bildung und Erziehungswissenschaft waren ideologische Kampffelder. Wer wie Olbertz Erziehungswissenschaften wählte, wusste, dass es genausowenig neutrales Forschen und Arbeiten geben würde, wie in jedem anderen „gesellschaftswissenschaftlichen“ Fach. Viele hätten deshalb diese Richtung gar nicht erst eingeschlagen, wie sie auch Philosophie oder Ökonomie nicht wählten. Richard Schröder hat zudem zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wahl der Themen für die beiden inkriminierten Dissertationen zumindest nicht den Eindruck befördert, da sei einer weltanschaulicher Phrasenhuberei aus dem Weg gegangen.

Pflichtgemäßer Alltagsopportunismus, gedankenloses Phrasenschwurbeln oder tiefsitzende Überzeugung: „Das aktuelle Anliegen der moralischen Erziehung an der Hochschule besteht in der Ausprägung und Fortpflanzung eines dem Sozialismus gemäßen Ethos der Hervorbringung, Vermittlung, Aneignung und Nutzung von Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft in Einheit mit der harmonischen Persönlichkeitsentwicklung der Studenten, das sich als spezifische Form der Realisierung und Neuschaffung gesamtgesellschaftlicher, sozialistischer Moral im Hochschulbereich entwickelt und bewährt.“ – Gesinnung aus Schriftstücken zu rekonstruieren ist schwierig. Tonfall und Duktus der weltanschaulichen Passagen legen Menschen mit DDR-Erfahrung den Eindruck nahe, dass hier zumindest keine erkennbare Vermeidungsstrategie am Werke war. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk belegt zudem, dass sich die ideologische Durchsetzung nicht nur auf pflichtgemäße Einleitung und Schluss-Sermon begrenzen, sondern die gesamten Texte durchziehen. Das musste nicht sein. Hinzu kommt schließlich, dass etwa der gleichfalls überflüssige Einschub plastischer Passagen über den menschlichen Verrohungsgrad US-amerikanischer Forscher (die in Jeans, mit Popcorn und Cola entwurzelt an Sternenkriegen basteln) nun wirklich zum Repertoire des gehobenen Propaganda-Dienstes à la Karl-Eduard von Schnitzler gehörte. Jeder pflichtgemäße Opportunist hätte sich solches verkniffen. Dennoch kann es sein, dass Olbertz zu jenen gehörte, die ihre Nische offensiv verteidigten. Je vollkommener, je strahlender die ideologische Fassade, desto größer die Chance, nicht mit weitergehenden Forderungen (wie etwa Partei-Eintritt etc.) behelligt zu werden. Ein Mechanismus, der nicht selten war in der DDR und bei dem das „Schwärmen“ (für den DDR-Sozialismus) im Schwarm der Schwadroneure eine allerdings verhängnisvolle Stabilisierung des Systems zur Folge hatte und dazu beitrug, die hermetische Geschlossenheit der Gesellschaft als Drohkulisse weiter auszubauen. Allerdings wäre in diesen Falle interessant zu erfahren, wofür Olbertz die so erkämpften Freiräume genutzt hat: Nur, um seinen Parteieintritt abzuwehren oder gar, um humanistische Ideale in die Erziehungswissenschaften hineinzutragen? Bislang bleibt dieser Aspekt eher im Dunkeln. Die beiden Arbeiten atmen eher den Geist jener charakterlichen Disposition von Menschen, die es einfach nicht ertragen können, für schlecht gehalten zu werden – selbst wenn es die Sache nicht wert ist, in ihr als gut zu gelten. Es sind diese Typen, die vorher im Sport-Unterricht immer erzählen, sie würden sich nicht anstrengen, es hinterher aber trotzdem verbissen tun und auf deren Solidarität bei Klassenstreichen man nie bauen kann.

Vom Rektum-Inspektor zum Rektor?: Das mögen andere entscheiden. Klar ist, dass Jan-Hendrik Olbertz als HU-Rektor fehl am Platze wäre, wenn es darum gehen soll, die Rolle der Eliten, auch der Hochschul-Eliten in der DDR kritisch zu diskutieren. Produktiv könnte der Vorgang auch sein, um Rolle und Mechanismen von „Alltagsopportunismus“ in der DDR und grundsätzlich zu beleuchten. Warum haben wir in so vielen kleinen Ecken des täglichen Lebens Fahnen rausgehängt, Slogans an Wandzeitungen geschrieben und leere Demonstrationen besucht. Zumindest eine Generation lang böte das authentische Erleben der DDR die Chance, sich diese Wirkmechanismen vor Augen zu halten. Nicht jeder muss sich da verurteilt fühlen, aber ein wenig Verunsicherung wäre manchmal vielleicht ganz gut. Gerade auch im von Opportunismus alles andere als freien Politikbetrieb der Bundesrepublik. Denn eigentlich kann es nie schaden, immer erst einmal zu prüfen, in welchem Gewässer man da als kleiner oder großer Fisch schwimmen lernt.

Mürrisch

Mai 30, 2010

Es gibt so wunderbare alte Worte. Mürrisch ist so eins, dass von Murren, Brummen, ablehnen, unzufrieden sein… – herkommt. Synonyme können freilich nie den ganzen Gefühlskosmos ausleuchten, der in einer Vokabel steckt. Für das Wort „mürrisch“ gibt es jetzt allerdings eine umfassende Ausdeutung auf anderthalb Zeitungsseiten: Das jüngste Interview mit „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (30. Mai 2010).

Mit bewunderungswürdiger Langmut hat sich Johanna Adorján von dem angehenden Jubilar (90. Geburtstag am 2. Juni) patzig kommen lassen. Ein bockiger, missmutiger, gelangweilter, maulfauler, genervert und widerwilliger MRR brilliert in der Kunst des Journalisten-Kujonierens und gibt am Ende gar unumwunden zu, dass er auch über die Dinge, über die er gern sprechen würde, nicht sprechen wolle. Besser ist „mürrisch“ nie inszeniert und aufgeführt worden. Über den Befragten erfährt man im Grunde nichts, dafür präsentiert sich der Literatenfresser in einer Verfassung, in der ihn jeder Tatort-Ermittler sofort aufs Präsidium geladen hätte. „Wenn Sie nicht reden wollen, können wir auch anders…“ Nur lädt man Reich-Ranicki eben zu nichts mehr und schon gar nicht vor.

Dieses Dokument einer Geisteshaltung der rhetorischen Sitzblockade ins Blatt gehoben zu haben, ist mutig und verdient hohe Anerkennung. Bleibt zu hoffen, dass Johanna Adorján nach Abschalten des Diktiergerätes dem alten Griesgram wenigstens ordentlich die Meinung gesagt hat. Auch für Neben-Päpste gilt Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.  Journalisten sind auch Menschen. Meistens jedenfalls.

Angeköhlert mit Löschpapier

Mai 28, 2010

Dem deutschen Bundespräsidenten steht nicht viel mehr zu Gebote als die Kraft des Wortes. Diese Macht freilich nutzt er weidlich – um die Deutschen aufzurütteln und zu verstören. Man weiß nicht so genau, welcher präsidiale Auskenner Horst Köhler jüngst ins Manuskript geschrieben hat, die internationalen Truppen verfolgten nicht zuletzt auch wirtschaftliche Ziele mit ihrem Einsatz in Afghanistan. Das ist – milde gesagt – Humbug und anders gesagt, ein Witz.

Kupfer, Eisen, Kohle, Öl und Lapislazuli gibt es in Afghanistan, und es müssten noch beträchtliche Mengen an Gold oder Diamanten entdeckt werden, um nach Ausbeutung aller Lagerstätten auch nur annähernd an das Volumen jener Beträge heranzukommen, die der Einsatz bislang gekostet hat. Infrastruktur gibt es nahezu keine, und außer den Chinesen baut derzeit niemand etwas in nennenswerter Größenordnung ab. Dass sich der Westen ausgerechnet an Afghanistan gesundstoßen wolle, vermutet nicht einmal die ewig witternde Sahra Wagenknecht von der Linkspartei. Es wäre derzeit auch unmöglich. Und Pipelines durch die Wüstenei zu legen wird auch kein strategischer Blindfuchs versuchen.

Die Ansage vom Bundespräsidenten also war Blödsinn, hat aber erfolgreich alle Reflex-Hörnchen auf die Bäume gescheucht, die schon immer wussten, dass das internationale Monopolkapital im Hintergrund die Fäden zieht. „Aus wirtschaftlichen Interessen“ sei Deutschland also am Hindukusch engagiert, schallt es empört von Klaus Ernst (Linke) bis zu SPD und Grünen  herüber, und: Rückzug jetzt erst recht. Das ist in zweierlei Hinsicht witzig. Zum einen, weil die Deutschen zu den wenigen Völkern gehören, die ihre Soldaten ausschließlich auf Schlachtfeldern sterben sehen wollen, auf denen sie keine Interessen haben. Andere Länder sehen das aus unerfindlichen Gründen umgekehrt.

Und zweitens, weil der Deutsche an sich von Luft und frischem Bio-Wetter lebt und die inkriminierten „wirtschaftlichen Interessen“ selbstverständlich nur von „der Industrie“ und „den Reichen“ verfolgt werden. Der kleine (deutsche) Mann braucht weder Energie noch Rohstoffe, und wenn ausnahmsweise doch, dann kauft er sie mit resourcenschonenden Mikrokrediten im fairen Handel vom alternativen Grün-Markt in Verrotterdam.

Interessanterweise ist der Einsatz der Deutschen Marine gegen die Piraten am Horn von Afrika in der Bevölkerung nicht umstritten, obwohl dort im Grund ausschließlich wirtschaftliche Interessen verfolgt und die Handelsstraßen von Asien nach Europa freigehalten werden. Wer die Fregatten zwischen Jemen und Dschibouti einmal begleitet hat, der weiß, dass mit dieser Armada dem internationalen Terror (so steht es im Mandat) absolut nicht begegnet werden kann. Es geht um die Seewege. Was ja völlig in Ordnung ist, weil „Piraten“ ja fiese Halunken sind, die Selbstmordbomber der Taliban aber ehrenwerte Widerständler und wirtschaftliche Interessen in Afghanistan nun das Allerletzte wären.

Die deutsche Erregungskultur könnte man auch mit dem schönen alten Kinderspruch zusammenfassen: Angeköhlert mit Löschpapier, morgen kommt die Braut zu dir. Völlig sinnlos, und stimmen tut es auch nicht.

Das deutsche „Normal-Ich“

Mai 28, 2010

Ein „neuer Nationalismus“ sei im Zuge der Euro-Krise aufgebrochen, beklagen betrübte Freunde der europäischen Einigung. In Wahrheit ist der „neue Nationalismus“ der alte, und er kann nur diejenigen erstaunen, die immernoch glauben, man könne europäische Integration beschließen. Nicht umsonst ist die schrittweise institutionelle Wandlung von EWG über EG zu EU nicht zur basisdemokratischen Abstimmung gestellt worden. Wo man die Völker befragte, ging es prompt schief.

Dass vor allem deutsche Europa-Freunde nun enttäuscht sind, ist allerdings verständlich: Keine andere Nation hat sich im Laufe der jüngeren Geschichte so danebenbenommen wie die Deutschen, und deshalb hat auch keine andere Nation so radikal mit ihrem eigenen Nationalismus gebrochen. Deshalb haben vermutlich mehr Deutsche als alle anderen tatsächlich geglaubt, sie seien vor allem Europäer mit deutschem Migrationshintergrund. Hinzu kommt, dass für den Kriegsverlierer Deutschland das Aufgehen im europäischen Verbund die einzige Chance war, unbeargwöhnte Außenpolitik zu betreiben. Bonn wurde zum Motor Europas, weil es auf eigene Rechnung nicht agieren konnte, durfte und deshalb auch nicht wollte. Europa wurde zu einer Form deutscher Machtausübung, die man ihm als souveränem Nationalstaat nie zugebilligt hätte. Mit der Wiedervereinigung ist dieser Zwang zur Integration entfallen.

Früher brauchte Deutschland Europa, heute braucht Europa immer öfter Deutschland – und zwar das wirtschaftlich starke, souveräne, außenpolitisch einflussreiche, das für Griechenland zahlt und sich an militärischen Einsätzen beteiligt. In dem Maße, wie Deutschland hier gefordert wird, beginnt Deutschland auch wieder sich selbst zu denken: Vom nationalsozialistischen „Über-Ich“ zum europäischen „Wir“ und zurück zum „Normal-Ich“. Hoffentlich.

Eine ganz andere Frage ist, ob und wie Europa zurechtkommt ohne den von starken Eigeninteressen getriebenen deutschen Motor. Dass es nun ohne den innigen Integrations-Trieb aus Berlin gleich wieder zum Krieg kommt, wie jene vermuten, die Europa als Friedensprojekt für unersetzlich halten, ist eher unwahrscheinlich.  Denn auch der Nationalismus hat im Laufe der Zeit sein Wesen verändert und ist heute nicht mehr die „nationalistische Bedrohung“, > d.h. nicht mehr ein hasserfülltes Gegeneinander der Völker, sondern  tritt vielmehr in Erscheinung als individualistisches Beharren auf  dem eigenen Weg auch in internationalistischen Kontexten und vor allem darin, dass keine Bereitschaft zur Solidarität besteht.

Solange es folgenlos bleibt, können Rumänen und Spanier gern mit uns in einem Boot sitzen. Aber es wird heikel, sobald auf irgendeinem Feld zurückgesteckt werden oder gar gezahlt werden soll. Nationalismus hat heute – glücklicherweise – kein aggressives Gesicht  mehr, sondern ein verweigerndes. Er beginnt, wo immer aktiver Vollzug der europäischen Liebe gefordert ist – um es mal bildlich zu sagen.

Vieles spricht dafür, dass es besser ist, diesem alten, neuen Nationalismus in Zukunft Rechnung zu tragen. Der Euro hat als zeichenhaftes finanzpolitisches Konstrukt der europäischen Vermelzung weiteren Vorschub leisten sollen. Auch hier sind mit Bedacht die Völker nicht gefragt worden (wo sie gefragt wurden….). Es ist zwar richtig und logisch, dass der europäisierten Währung nun die europäisierte Wirtschafts- und Finanzpolitik folgen müsste als Konsequenz aus der Krise. Nur ist es eben wenig sinnvoll der institutionellen Überschätzung des Integrationsgedankens nun auch noch illusionäre Verschmelzung der sehr unterschiedlichen Fiskalregime nachzuschieben, ohne dass es dafür Akzeptanz gibt.

Visionen, und seien sich noch so gut gemeint, kollabieren wie überschuldete Haushalte, wenn sie sich zu weit von der Gefühlslage der Menschen entfernen. Solange ein kontinentaler Fernreisender nach der Herkunft befragt, noch Franzose oder Pole statt Europäer sagt, sollte man es in Brüssel mit viel Ruhe angehen lassen.>

Blog-weise

Mai 16, 2010

Es gehört zu den fundamentalen Paradoxien der Moderne, dass niemand überholen kann, wenn alle auf der Überholspur fahren.

(PS: In großen Teilen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns werden dazu auch heute wieder umfangreiche Praxis-Tests durchgeführt. Verkehrsexperten gehen dem Vernehmen nach davon aus, dass das Problem durch einen flächendeckenden Rückbau der unbenutzten rechten Spur gelöst werden kann. Diese könnte dann links von der linken Spur wieder angefügt werden, hieß es.)

Käßmanns Katechnismus

Mai 14, 2010

„Also kann man sagen, die Pille ist ein Geschenk Gottes“ – Margot Käßmann ist eine Frau des Herren, und deshalb geht es wahrscheinlich keine Nummer kleiner. Die Pille hat vieles verändert, aber vor allem hat sie das Leben angenehmer und einfacher gemacht. Vor allem das Sexualleben. Wenn aber alles, was das Leben schöner macht, gleich ein Geschenk Gottes ist, werden wir demnächst wohl Dankgebete für die Erfindung des Fernsehsessels gen Himmel richten und eine bekannte Parfümerie-Kette zur Kirche des Herrn erklären.

Immerhin lässt sich mit dem guten alten Kondom ein ähnlicher Effekt erzielen, und auch die Möglichkeit des eigenverantwortlichen Umgangs mit Sex bestünde ja rein theoretisch auch noch. So gesehen, schenkt uns nach Käßmanns Katechismus der Herr auch die Dinge, die uns von unserer eigenen Verantwortung entbinden. Das wird sie wohl nicht im ernst so gemeint haben.

Gemeint hat Margot Käßmann noch, dass die Pille ein Geschenk „für das Leben“ sei, weil sie Frauen selbstbestimmter und mehr Kinder zu Wunschkindern gemacht habe. Das kann man so sehen. Angesichts der dramatischen Geburtenrückgänge im Nachspiel der Pille heißt das aber nüchtern betrachtet: weniger Leben, dafür besseres. Die Dialektik ist etwas so feinsinnig wie die des Papstes, der ja durchaus zu Recht darauf hinweist, dass der Einsatz von Kondomen in Afrika verhindert, dass an der verheerenden Sexualmoral und aids-begünstigenden Lebensweise der Menschen dort sich etwas ändert. Deshalb bringe das Kondom den Tod. In diesem Sinne bringt auch die Pille Leben. Nur waren wir Protestanten eigentlich bisher immer recht stolz darauf, nicht in den dialektischen Spuren des Papstes zu wandeln. In der Kunst des mediengerechten Schlagzeilen schmiedens ist Margot Käßmann aber nach wie vor nahezu unschlagbar in ihrer Kirche.

Der Euro geht auf Grundeis

Mai 10, 2010

Es gibt eine einfache Wahrheit: Spekulation braucht Nahrung. Rosige Aussichten, üble Nachrede, das jüngste Gerücht. Gegen solvente Staaten kann man nicht spekulieren, auch nicht gegen ihre Währung. Aber die Märkte müssen der Politik nicht vertrauen. Das ist das ärgerliche an ihnen. Zumindest aus Sicht der Politik. So entschlossen, aber auch so panisch die jüngsten Gipfel Rettungspakete in Höhe von etwa 700 Milliarden Euro beschlossen haben, so deutlich spüren die Akteure an den Finanzmärkten die Angst, die dahintersteht. Und sie spüren, dass diese Angst berechtigt ist.

Da finden sich Länder zusammen, die allesamt schwer verschuldet sind und beschließen, dass sie sich notfalls gegenseitig Kredite geben, wenn sie in Geldnot geraten sollten. Schulden mit Krediten zu zahlen heißt, sie nicht zu zahlen. Und: Woher kommen eigentlich diese Milliarden, die da nun zur Notrettung im Topf sein sollen? Wo lagen sie bisher? In Wahrheit handelt es sich nämlich gar nicht um reales Geld, sondern um ein kompliziertes Netz gegenseitiger Zusicherungen unter Banken, Ländern und internationalen Institutionen.

Die Erfahrung jedes einfachen Bürgers besagt, dass Notzahlungen, bei denen alles einfach so weitergeht, nicht real sein können. Deutschland hat im vergangenen Jahr mehr als 80 Milliarden Euro neue Schulden machen müssen und hilft nun mit weiteren 22 Milliarden für Griechenland aus: Wird deshalb der Straßenbau eingestellt? Werden die Renten gekürzt? Die meisten Menschen spüren, dass dieses System des schmerzlosen Geldverschiebens und Weitermachens schon zu lange dauert, um weiter gutzugehen. Nicht umsonst ist seit einigen Jahren schon ein banges Geraune im Gange, ob ein Währungsschnitt kommen werde, eine Abwertung, Währungsreform – kurz eine tiefe Verunsicherung auch bei jenen, die sich mit den Finessen des Finanzmarktes nicht im Detail auskennen.

Die Finanzmärkte artikulieren auf ihre, gnadenlose, von keiner repräsentativ-demokratischen Geschäftsordnung gedämpfte Weise dieses Misstrauen und Unbehagen des kleinen Mannes. Die aktuelle Krise ist das Ringen der wirtschaftlichen Realität mit der zur Gewohnheit gewordenen Beschönigung und Vertuschung der Politik, die sich zu lange in populistischen Wahlkämpfen gegenseitig hochgeschaukelt und den Menschen vorgemacht hat, ihre Ansprüche seien bezahlbar. Die Aggressivität, mit der jetzt gegen vermeintliche Spekulanten gewettert wird, ist die verzweifelte Wut von politischen Fassadenkletterern, denen die Fassade gerade unter den Händen wegbröckelt.

Besonders beruhigend ist das alles nicht. Vor allem nicht, weil weder Ablauf der Krise noch Auswege absehbar sind. Vielleicht sollte die Politik langsam dazu übergehen, sich von dem Versuch zu verabschieden, retten zu wollen, was nicht mehr zu retten ist und statt dessen mehr Gedanken an ein kontrolliertes Crash-Szenario zu verwenden, damit der Absturz nicht in wüstem Chaos endet.