Archive for August 2010

Thilo Trotzig

August 27, 2010

Es verspricht das Skandal-Buch des Herbstes zu werden. In „Deutschland schafft sich ab“ spricht Thilo Sarrazin (65) Urängste und Aversionen der Deutschen an. Politik und Verbände reagieren mit alten Reflexen. Nur was genau sie dem politischen Sturkopf vorwerfen, sagen sie nicht.

Inwendig muss es brodeln. Wenn Thilo Sarrazin auf dem Talkshow-Sessel Platz nimmt, wippt er nervös und wartet angespannt auf das Rotlicht. Ein wenig verkniffen blickt er hinter seiner Brille hervor, misstrauisch mal, dann wieder mürrisch und unsicher. Kein Obama aus Gera, wo er geboren ist, kein Feuerwerks-Rhetoriker, der Säle in kämpferischen Gleichklang der Worte zwingt. Und doch muss drinnen ein Wurm namens Ehrgeiz wohnen, der sich von Schelte und Verachtung draußen nährt.
„…vielmehr machte mir die Tatsache zu schaffen, dass ich bei subjektiv gleichem Leistungsvermögen nicht mehr zu den Besten gehörte, sondern unter lauter Besten nur noch Mittelmaß war“, schreibt er mit Blick auf seine Schulzeit. „Diese narzistische Kränkung, die sich mit meinem Selbstbild nicht vertrug, wirkte noch viele Jahre nach.“
Ganz über den Berg ist Sarrazin wohl bis heute nicht. Mit geradezu stoischem Trotz bohrt der Sozialdemokrat und Bundesbankvorstand in den empfindlichen Stellen der Gesellschaft herum, in den allerempfindlichsten, versteht sich, wo es am meisten wehtut. Endlich einmal Bester sein unter lauter Mittelmaß. Wie punktgenau er mit seinem Buch ins eitrige Schwarze getroffen hat, bestätigen ihm seine Kritiker, vom eigenen Parteichef Sigmar Gabriel (legt den SPD-Austritt nahe) bis zur Kanzlerin (Kritik ist wenig hilfreich und verletztend).
Dabei ist Thilo Sarrazins Buch – bislang nur im Vorabdruck auszugsweise in „Spiegel“ und „Bild“ zu lesen – viel weniger skandalös und spektakulär als die Kritiker meinen. Da ist zum einen die gut mit Zahlen untersetzte Abhandlung darüber, dass die Geburtenzahlen der einheimischen Deutschen seit Jahren sinken, diejenigen zugezogener Muslime seit Jahren auf hohem Niveau rangieren. Sarrazin rechnet hoch und kommt zu dem Schluss, dass bei anhaltendem Trend in 90 Jahren nur noch 200000 bis 250000 Kinder in Deutschland geboren werden. Höchstens die Hälfte davon seien Nachkommen ohne Migrationshintergrund. Ein Befund, der seit mindestens 25 Jahren im Umlauf und statistisch belegbar ist. Ist Sarrazin nun ein „brauner Ungeist“, weil schon die Nazis „deutsche Frauen“ zum Gebären aufforderten? Wenn man ihn so sehen will, dann schon.
Sarrazin dekliniert die gängigen und weitgehend unbestrittenen Sozialstatistiken durch, wonach muslimische Einwanderer überdurchschnittlich Sozialtransfers in Anspruch nehmen und deutlich unterdurchschnittlich am Arbeitsmarkt vertreten sind. Die Bildungskarrieren von Muslimen in Deutschland liegen weit unter dem Niveau der Deutschen, aber auch sichtbar unter dem anderer Migrantengruppen. Die Kinder von asiatischen Einwanderern zeigen gar eine höhere Abiturquote als die Deutschen. Muslime sind stattdessen in der Kriminalitätsstatistik überrepräsentiert, auch in der dritten Einwanderergeneration noch wenig integriert und sprechen vergleichsweise schlecht Deutsch. Auch von Sarrazins Kritikern hat diese Zahlen niemand beanstandet oder korrigiert.
Ist also bereits die Erwähnung der Tatsachen tabu? „Nicht hilfreich“ und „verletzend“, umschreibt es die Kanzlerin, nur stellt sich die Frage, ob der verschwiegen-diskrete Umgang mit dem längst erkannten Integrationsproblem der bessere Weg ist. Der Blick in die Nachbarländer, wo von Jörg Haider (Österreich) bis Geert Wilders (Niederlande) deutlich dumpfere Gestalten sich mit erheblichen Wahlerfolgen gesellschaftlicher Blindfelder annahmen, legt eine andere Herangehensweise zumindest nahe.
Der sensible Punkt in Sarrazins Thesen ist wohl, dass er Urängste von Deutschen anspricht, die sich in einer Moderne nicht zurechtfinden, in der die Grenzen zwischen Gastgeber und Gast verwischen. Ein Gast mit deutschem Pass ist keiner mehr, selbst wenn er türkisch spricht, ganze Stadtteile mit seinem fremden Lebenswandel prägt oder Kopftuch trägt. Darf man dieses Unwohlsein artikulieren? Oder ist der einzig statthafte Standpunkt multikulturelles Mutmachen? Ja, darf man überhaupt die massiven Integrationsprobleme so scharf konturiert auf eine Herkunftsgruppe fokussieren? Ist Thilo Sarrazin ein Rassist oder gehört er zur inkriminierten Spezies der „Islamkritiker“? Belastbare belastende Indizien liefert der Autor für beides nicht. Das kann clevere Taktik sein oder schlicht der Tatsache geschuldet, dass der Sozi Sarrazin doch kein Nazi ist. Dass er freilich eine muslimisch geprägte Gesellschaft für sich und seine Enkel nicht will, daraus macht er keinen Hehl: „Wenn ich den Muezzin hören will, buche ich eine Reise ins Morgenland.“ Man kann das auch netter sagen. Oder besser gar nicht?

Eine andere untergründige Angst – wohl nicht nur der Deutschen – liegt in dem diffusen Gefühl, die individualistische, fragmentierte westliche Gesellschaft der Moderne mit ihren Selbstblockaden und Auswüchsen könnte womöglich untergepflügt werden von einer vormodernen, viel dupfer reflexhaften und sich nicht ständig selbst hinterfragenden Kultur. Muslime kriegen einfach Kinder, während wir ein schier ausuferndes Bedingungsgebäude rund um die Nachwuchsentscheidung errichtet haben, das an den Geburtenraten unterhalb der Reproduktionsschwelle auch nichts ändert. Muslime gehen in vielen Fällen einfach davon aus, dass ihre Religion die Wahre ist – im Grunde der einzig logische Umgang mit einer überirdischen Annahme. Wir stellen uns selbst in nahezu allen Lebensbereichen so sehr in Frage, dass wir oft nicht einmal bereit sind, unsere ureigenen Überzeugungen gegen Ungeist zu verteidigen. All dies wird von Sarrazin mit seiner schnörkellosen, zuweilen harten Beschreibung bedient und provoziert. Wohlweislich verschweigt er freilich, welche Konsequenzen aus seiner Bestandsaufnahme zu ziehen wären.
Viele Tabus zum Brechen hat diese Gesellschaft nicht mehr. An einigen rührt Thilo Sarrazin. Da ist der gleichfalls nicht ganz neue Befund, dass die Geburtenzahlen in bildungsfernen und sozial schwachen Schichten steigen, wenn die Sozialsysteme sich am Bedarf orientieren und mit jedem neuen Kind neue Leistungen bezogen werden können. In den USA hat Bill Clinton 1997 unter dem Eindruck rapide steigenden Bevölkerungszuwachses notgedrungen den Bezug von Sozialhilfe auf vier Jahre begrenzt. Danach sank die Fruchtbarkeit in Problem-Milieus wieder. In Deutschland hat der Bremer Sozialstatistiker Gunnar Heinsohn vergleichbare Trends nachgewiesen. Sarrazin greift diese Untersuchungen auf und empfiehlt drastische Einschnitte bei Sozialtransfers, da das Wissen um Verhütung heute Allgemeingut sei. Da mag er recht haben, aber er wird auch wissen, dass gesellschaftspolitischer Druck via Sozialsystem in Deutschland nicht vorgesehen und wohl auch nicht akzeptiert ist.
Gänzlich vermintes Terrain betritt der Ex-Senator allerdings, wenn er beiläuftig genetische Fragen streift. Kritiker werfen ihm ohnehin vor, mit „kulturellen“ Unterschieden tatsächlich „genetische“, sprich: „rassische“ zu meinen. Das ist eine Frage der Interpretation, und in diesem Falle keine gutwillige. Wo Sarrazin auf erhöhte Quoten von Behinderungen und Erbschäden unter Muslimen hinweist, kann er sich ebenfalls auf Studien etwa aus Großbritannien berufen. Die kamen vor einiger Zeit schon zu dem Schluss, dass die verbreitete Cousinen-Ehe innerhalb von Familienclans im Einzelfall kein Problem ist. Wo sie aber über Generationen praktiziert wird, kommt es zu genetischen Fehlbildungen.
Sowas sagt man nicht, sagte man früher zu Kindern. Thilo Trotzig sagt es trotzdem. Gerade weil es die anderen nicht sagen und weil er weiß, dass es stimmt. Inwendig brodelt es. Ganz gleich, was all die anderen sagen, die noch gewählt werden wollen.

Mythos Ostschule und ein Zentralismus-Streit

August 27, 2010

Für die „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ habe ich einen Beitrag mit dem Titel „Mythos Ostschule“ geschrieben, in dem es um die Verklärung der zehnjährigen Polytechnischen Oberschule der DDR geht, die heute von Ost-Nostalgikern gleichermaßen gepriesen wird wie von altbundesdeutschen Bildungsreformern. In meinen Augen hat das gemeinsame Lernen dort keineswegs die viel beschworene soziale Durchlässigkeit geförderte. Da in DDR-Klassenbüchern die „Klassenzugehörigkeit“ der Eltern vermerkt wurde, ließ sich das sehr konkret nachvollziehen. Positiv erwähne ich allerdings, dass – jenseits all der unerträglichen Indoktrinierung – der fächerübergreifend abgestimmte Lehrplan von Vorteil gewesen ist, weil der Stoff auf diese Weise wie eine große, geschlossene Geschichte erzählt wurde. Heute entscheidet jeder Lehrer selbst darüber, mit welchem didaktischen Ansatz er wann was vermittelt. Mit dem Ergebnis, dass irgendwann über die Atombombe gesprochen wird, zwei Jahre später über die Kernspaltung und irgendwann auch über den Zweiten Weltkrieg. Fragmentiertes Insel-Wissen, das beim Schüler kaum hängen bleibt und immer wieder neu vermittelt werden muss.

In einem großen Beitrag in der WELT beschäftigte sich Alan Posener mit den Auswüchsen autoritärer Ost-Pädagogik an Berliner Schulen und zitierte unter anderem auch aus meinem Beitrag. Selbst der Mythen-Kritiker Schuler, schreibt Posener, hänge noch zentralistischen Bildungsideen an. Weil ich das so auf mir nicht sitzen lassen wollte, entspann sich ein munterer Meinungsaustausch über Zentralismus und Freiheit im Bildungssystem, den man auf Margaret Heckels Seite „Starke Meinungen“ nachlesen kann.

De Maizières Misere

August 26, 2010

Diesmal war es Lothar de Maizière, der am Rechtsstaats-Status der DDR zu retten versucht, was nicht zu retten ist. Sie sei kein „vollkommener Rechtsstaat“, so ihr letzter Regierungschef, aber eben auch kein „Unrechtsstaat“, weil es durchaus funktionierende Teile des Rechtssystems gegeben habe. Ein bisschen ist ein Tapir auch eine Giraffe, weil beide laufen können. Oder gilt eine Diktatur schon als gemäßigt, weil es eine funktionierende Straßenverkehrsordnung mit klaren Vorfahrtsregeln gibt. Ganz offensichtlich hat der Anwalt de Maizière hier versucht, zu erklären, dass man auch in der DDR Jurist sein konnte, ohne sich zu diskreditieren. Und er hat ja Recht, dass das eigentliche Problem das politische Strafrecht war. Und die festgeschriebene Herrschaft einer Partei. Aber sonst. Das Herz stand still, aber der Rest war gesund. Bei allem Verständnis für de Maizière und seine Biografie: Es verwundert schon, mit welchen verschwurbelten Windungen bei diesem Thema nicht zum ersten Mal um den Kern der Sache herumgeredet wird. Die Diktatur der Arbeiterklasse war eine. Punktum. Das entwertet nicht automatisch Lebensläufe. Es ist einfach nur ein Fakt.

Wasch‘ die Hände in Unschuld, aber wasch sie!

August 25, 2010

Es ist mal wieder ein Aha-Erlebnis der besonderen Art: Wir Menschen mit Kindern predigen Jahr ein Jahr aus „Wasch‘ dir die Hände“, und müssen jetzt feststellen, dass es in deutschen Krankenhäusern dafür spezieller Beauftragter, Weiterbildungen und neuer Gesetze bedarf.

Man hat ja Verständnis dafür, dass an Hygiene in Krankenhäusern besondere Anforderungen gestellt werden. Nur dachten wir Naiven bisher eben immer, dass all die Rituale des Waschens und Sterilisierens zum gewöhnlichen Geschäft des Mediziners gehören. Wie man sich doch täuschen kann! Während sie in der Computerherstellung heute nackt durch Reinstraum-Schleusen gehen, damit auch ja kein Stäubchen und keine Hautschuppe im Chip-Gericht landen, geht es im deutschen Gesundheitswesen offenbar zu wie bei einem Steptänzer, dem man sagen muss, dass er seine Schuhe zum Auftritt mitbringen soll.

Einen Klempner, der Feierabend macht, obwohl das Rohr noch tropft, würde man aus der Handwerkskammer werfen, aber in der milliardenschweren Gesundheitsindustrie braucht es Beauftragte und schärfere Gesetze. Da war Pontius Pilatus irgendwie schon weiter. Überlebt hat sein Patient allerdings auch nicht.

Blog-weise

August 9, 2010

Das Ermüdende und Ernüchternde an vielen politischen Debatten ist, dass man immer wieder Leute tifft, die mit dem Dazulernen ganz vorn anfangen.

Quoten-Reigen: Die einheitliche Gesellschaft

August 2, 2010

 

Vor einiger Zeit machte die Deutsche Telekom damit Schlagzeilen, bis 2015 dreißig Prozent aller Führungsposten im oberen Management mit Frauen besetzen zu wollen. Der Verlag Axel Springer zog alsbald nach, und überhaupt ist die Löblichkeit solcher Vorstöße in öffentlichen und veröffentlichten Meinung weitgehend unumstritten. Die Wirtschaft, heißt es in entsprechenden Kommentaren dann meist, könne sich nicht länger leisten, auf diese kompetenten weiblichen Fachkräfte zu verzichten. Woraus wir schließen, dass auch die ansonsten in puncto Eigennutz recht kompetente Wirtschaft hier Nachhilfe braucht.

Lediglich über die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll, gibt es Debatten. Plausibel und folgerichtig sind derartige Initiativen allerdings nur, wenn man unterstellt, dass eine anteilmäßige Gleichverteilung sozialer Merkmale in der Gesellschaft gewissermaßen der Normalfall sein müsste, dem mit derlei Quoten auf die Sprünge zu helfen sei. Für diese Art von regelmäßiger Homogenität gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

Wenn es eine Gesetzmäßigkeit in dieser Richtung gäbe, ließe sich zunächst einmal schwer erklären, warum sich die Initiativen zur Korrektur des Missstands nahezu ausschließlich auf die Elite-Bereiche der Gesellschaft beschränken. Wäre das Gleichmaß der Geschlechter ein Naturgesetz, so wären vermutlich nicht nur ein Fünftel aller deutschen Gefängnisinsassen Frauen. Eine unziemliche Bevorzugung von Männern bei der Aufnahme in den Strafvollzug scheint ja nicht vorzuliegen.

Es stellte sich aber auch die Frage, warum vor allem das Geschlecht zur einheitlichen Verteilung prädestiniert sein sollte und nicht auch andere soziale Merkmale. Die Ostdeutschen stellen zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung aber nur fünf Prozent der Eliten. Warum machen Springer und Telekom also kein Selbstverpflichtungsprogramm für einen angemessenen Ossi-Anteil in ihren Unternehmen? Die Erklärung ist so einfach, wie die Vorstellung einer solchen Quote absurd ist: Die Geschlechter-Parität ist eine gesellschaftliche Wunschvorstellung, die einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie entspringt wie etwa auch die Vision einer sozialistischen Gemeinschaft weitgehend gleicher, friedfertiger und fleißiger Menschen.

Man kann diesem Ideal gut und gern anhängen und durch die Beseitigung aller rechtlichen Ungleichheit zuarbeiten. Wo dynastische Verfilzungen auftreten oder ungerechte Zugangsbedingungen herrschen, kann man einschreiten. Sobald man aber aktiv in die Gestaltung sozialer Verteilung eingreift, wird es problematisch. Die Parteitage der Bündnisgrünen sind dafür ein gutes Beispiel. Weil sich in Debatten meist mehr Männer als Frauen zu Wort melden, ist es seit langem Usus, die „Redeliste“ nach der letzten Frau zu schließen. Melden sich sechs Frauen und neun Männer, so dürfen abwechselnd also je sechs „RednerInnen“ ans Pult, drei Männer müssen auf ihren Beitrag verzichten. Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Konsequent zuende gedacht, wird das urdemokratische Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ hier bereits ausgehebelt, und es geht nicht mehr um die sachliche Substanz der Beiträge, sondern um eine mechanische Symmetrie, wie sie in freien Gesellschaften eigentlich nicht vorkommt. Es empfiehlt sich zudem stets Wachsamkeit, wenn Rechtsgrundsätze vermeintlich im Namen der guten Sache preisgegeben oder ausgesetzt werden.

Auch der vorwurfsvolle Verweis auf die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen ist im Grunde völlig absurd. Natürlich gibt es gute Gründe, warum zwanzig Jahre nach der Wende noch kein DDR-Mensch einen Dax-Konzern führt – weder konnte und wollte man 1990 verdiente Kombinatsdirektoren in die Vorstände holen, noch sind Nachwende-BWL-Studenten heute in ihrer Erwerbsbiografie schon so weit aufgestiegen, dass eine solche Karriere logisch wäre. Im Grunde aber müsste man sich angesichts dieser Debatte fragen, ob eigentlich eine Mehrheit deutscher Führungskräfte aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen kommt. Wenn nicht, müsste dies korrigiert werden. Auch Bayern und Schwaben müssten bundesweit gleich verteilt sein, wenn es eine natürliche Homogenitätsregel gäbe. Gibt es aber nicht.

So haben etwa die Kinder asiatischer Einwanderer eine höhere Abiturquote als die deutschen Schüler, arabische Migrantenkinder sind an Gymnasien dramatisch unter-, in Haftanstalten deutlich überrepräsentiert. Am Ende gerät man mit diesem mechanischen Gesellschaftsbild in ziemlich trübes Fahrwasser, weil die Vokabel „Überfremdung“ ja im Grunde nichts anderes ist, als das Einklagen einer vermeintlich „normalen“ Dominanz der Mehrheiten im Sinne der Sozialstatistik: Frauen hälftig verteilt, Ausländer gemäß ihrem Anteil etc. Juden hatten vor Hitlers Machtergreifung einen Anteil von 0,9 Prozent an der deutschen Bevölkerung und wären demnach in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Elite (Richter, Hochschullehrer, Kunst, etc.) überrepräsentiert gewesen. So waren etwa 70 Prozent der Zeitungsverlage in jüdischer Hand. Kein normal denkender Mensch käme ernsthaft auf die Idee, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen zu wollen oder gar Quotierungen zu fordern. Diejenigen, die Schlussfolgerungen zogen, waren Verbrecher.

Gesellschaften sind nicht homogen. Und es ist auch gar nicht wünschenswert, dass sie es sind, weil auch Menschen nicht gleich sind, gleich sein wollen, gleich sein sollen. Gibt es eine sinnvolle Erklärung dafür, dass nahezu alle bedeutenden deutschen Entertainer – von Jauch bis Schmidt, von Gottschalk bis Kerner – katholisch sind? Müsste es nicht ein Quote für deutschsprachige Musik geben? Und sind Homosexuelle wirklich gleichverteilt im Land? Man kann durchaus Quotierungen in allen möglichen Gesellschaftsbereichen einführen, nur sollte man sich immer klarmachen, dass man damit meist keinem realen Missstand abhilft, sondern eine gesellschaftspolitische Vision anstrebt. Das ist meistens gut gemeint, schadet nicht oder nur wenig, ob es wirklich gut ist, wird man später sehen.