Sarrazins Irrtum

Warum sich Thilo Sarrazin auf den Abweg genetischer Expertisen begeben hat, ist nicht ganz klar. Die verheerenden Milieuprägungen von Migrantenkindern in Problemkiezen hätten völlig ausgereicht, um seinen Alarmruf hinreichend zu motivieren. Das zentrale Missverständnis, dem Sarrazin offenbar aufgesesen ist, ist die Verwechslung von erblicher „Veranlagung“ und „Vererbung“. Das legen zumindest diverse Interviews der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern nahe, auf die sich Sarrazin im Buch bezieht.

Demnach ist die Entfaltung von Intelligenz (ganz gleich, ob man sie nun mit einem IQ-Test misst oder anders bestimmen will) tatsächlich von genetischen Anlagen zu großen Teilen abhängig. Da man Gene gemeinhin auch als Erbanlagen bezeichnet, nimmt Sarrazin offenbar an, diese Anlagen würde ebenso weitergegeben wie etwa Wuchsgröße oder Augenfarbe etc. Stern weist nun darauf hin, dass diese Vererbung von Intelligenz nach Mendelschem Gesetz so nicht nachweisbar ist. So könnten selbstverständlich hochintelligente Eltern weniger begabte Kinder haben und bildungsferne Paare Kinder, deren Anlagen zu Höchstem befähigen.

Vor diesem Hintergrund ist auch Sarrazins Stern-Zitat zu verstehen, dass gute Schulen nicht Gleichheit hervorbringen, sondern die Unterschiede vergrößern: Zwar könne man mit einer guten Schulbildung Kinder mit geringerer Veranlagung bis an das Optimum ihrer Möglichkeiten führen, Kinder mit angelegter Hochbegabung gingen dann gewissermaßen durch die Decke. All dies sei aber nicht mechanisch zu verstehen, da auch Bildungsangebote, Fleiß und andere Faktoren eine Rolle spielten. Dass aber Anlagen zur Hochbegabung in negativem Milieu meistens verschüttet werden und sich nicht von selbst entfalten, gehört zur Wahrheit dazu. Womit wir wieder bei Sarrazin und den Problemkiezen wären.

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8 Antworten to “Sarrazins Irrtum”

  1. EJ Says:

    Dass aber Anlagen zur Hochbegabung in negativem Milieu meistens verschüttet werden und sich nicht von selbst entfalten, gehört zur Wahrheit dazu.

    Die viel geschmähten „Integrationisten“ fordern längst, durch entsprechend maieutische befähigte Kindergärten, Schulen und sonstige Einrichtungen solche milieu-bedingten Verschüttungen zu verhindern. Und nicht nur die Verschüttung von Hochbegabung. Von Begabung überhaupt.

    Und das sollte umso zustrimmungsfähiger sein, als entsprechende Einrichtungen begabte Kinder aus „besserem“ und „guten“ Milieu keinesfalls daran hindern, „durch die Decke“ zu gehen. Im Gegenteil. An der der breiten Zustimmung dazu fehlts aber irgendwie. An entsprechender Praxis sowieso. Warum?

    Und warum – „womit wir wieder bei Sarrazin wären“ – in diesem geläufigen Problemzusammhang der Rekurs ausgerechnet auf Sarrazin? Um – trotz seines „zentralen Missverständnisses“ – was von ihm zu retten? Was wäre da zu retten?

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    • ralfschuler Says:

      Womit wir wieder bei Sarrazin wären… – Ich glaube nicht daran, mit staatlichen oder anderen Einrichtungen Milieus korrigieren zu können. Das funktioniert bei anderen Unterschichten nicht und ich bin auch bei der angestrebten Korrektur in Migranten-Milieus skeptisch, lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Der Kern bleibt für mich der familiäre Hintergrund und der dort bestehende Aufstiegswille. Dem hilft man aus meiner Sicht am besten auf mit der Methode der klassischen Einwanderungsländer auf die Sprünge: Jeder Einwanderer weiß dort, dass ER selbst seine Chance nutzen muss, es wird ihm niemand eine geben. Das ist auch der Kern von Sarranzins Buch: Soziale Sicherheit motiviert nicht, alles, was man Menschen abnimmt, gewöhnen sie sich ab. Kinder, die man bei jedem Stolpern aufhebt, verlernen das Aufstehen.

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  2. EJ Says:

    O.K. Da steht Unglaube gegen Unglaube. Sie „glauben nicht“. Wahrscheinlich sind Sie Protestant, protestantischer Herkunft. Ich „glaube nicht“ – auf katholisch.

    Sie argumentieren mit Familie. Und zitieren (wie es die eine Hälfte Deutschlands tut) damit das evangelische Pfarrhaus, aus dem sich die Elite nicht nur der protestantischen Kirchen regeneriert hat.

    Ich berufe mich in meinem Unglauben (an die Familie) auf das konkurrierende Paradigma. Wenn Sie von den klassischen historischen mistakes absehen, hat sich in der katholischen Kirche bekanntlich nix mit (regenerierender) Elite-Familie.

    Weit länger als die protestantischen Kirchen regeneriert sich deshalb die katholische Kirche nicht zuletzt auch aus der Unterschicht. Der gegenwärtige Papst und sein Vorgänger – beide auch Intellektuelle! – sind vergleichsweise harmlose Beispiele dafür. Aus meiner Klosterschulzeit kenne ich weit „dramatischere“.

    Natürlich haben Sie mit Ihrem Glauben an die (protestantische) Familie die Moderne auf Ihrer Seite. Womöglich ist diese Moderne (und die moderne Familie) aber inzwischen von sich selbst überholt worden, wahrscheinlich!

    Sie sollten deshalb vielleicht überlegen, ob Sie nicht rüberkommen – konvertieren – wollen. Womöglich sind die postmodernen Trümmer der modernen Familie (und nicht nur der Familie), wenn überhaupt, nur noch „katholisch“ aufzufangen. – Hm … wenn Sie verstehen, was ich sagen will.

    Ansonsten: Klar, jeder Einwanderer weiß, dass er seines Glückes Schmied ist. Aber nicht jeder, der das Land wechselt, sieht sich als Einwanderer. Und er kommt auch nachträglich eher nicht drauf, wenn er nicht als Einwanderer gesehen wird.

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    • ralfschuler Says:

      Ich bin nicht sicher, ob dies ein glücklicher Zeitpunkt ist, jemandem das Konvertieren zum Katholizismus anzubieten. Steht gerade nicht so gut da, der Verein. Und es kommt mir auch nicht ernsthaft in den Sinn. Mit dem Zölibat müsst Ihr klakommen und beim Rest seid Ihr herzlich eingeladen (Abendmahl etc.).
      Dass es um das Funktionieren der Familie nicht zum Besten bestellt ist, sehe ich in der Tat auch. Allerdings gehe ich davon aus, dass diese Gesellschaft eben auch dann nicht von ihrem Lebensstil lässt, wenn sie sieht, dass er nicht funktioniert oder in eine fatale Richtung führt. Familie (oder die kleinen Kreise, wie Biedenkopf es formuliert) sind meiner Ansicht nach immernoch das Ideal, auch wenn viele meinen, dass andere Dinge vorgehen.

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      • EJ Says:

        Nein, bleiben Sie gern Protestant! Mit meiner Einladung zur Konversion ging mir eher nur um einen schnellen, sozusagen probeweisen Blickwechsel: Die zölibatäre Kirche hat über Jahrhunderte Begabung jenseits der von Ihnen mehr oder weniger als conditio sine qua non genannten Familie und Schicht rekrutieren und fördern müssen und – können. Das ist nicht nichts! Oder? Sie tut es (wenn ich von Polen mal absehe) jetzt außerhalb Europas und mit außerordentlichem Erfolg.

        (Ich hätte das sozial- (und kultur-)integrative Modell „Knabenlese“ auch an den Janitscharen exemplifizieren können. Unter die versuchten die ärmeren Bürger des osmanischen Reiches, ihre Söhne zu schmuggeln, um ihnen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. (Weil aber gerade wieder die Türken vor Wien stehen, wollte ich Ihnen nicht noch zusätzlich Angst machen.) )

        Wie Sie angesichts der Probleme, die einen Sarrazin, samt seiner „Bevölkerungswissenschaft“ und seiner „Genetik“, zum Wahrsager schlechthin machen, Ihr Heil in den Nettigkeiten von Patchworkfamilie und „kleinen Kreisen“ (und im zugehörigen Konsumismus) finden wollen, ist mir etwas schleierhaft. Nach dem von Ihnen verteidigten Sarrazin gibt’s (u.a.) doch gerade davon mehr als uns guttut, und mit einem eklatanten Mangel an Nettigkeit. (Mag aber sein, dass ich da nicht so ganz auf der Höhe der Zeit bin und nicht bemerkt habe, dass wir uns demnächst en passant aus der schönen bunten Welt des Kaufhauses über Fertigkinder reproduzieren und Childsharing nach dem Modell des Carsharings betreiben werden.)

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      • ralfschuler Says:

        Bin ich etwa so verstanden worden, dass ich Patchworkfamilien das Wort rede? Das wäre ein kolossales Missverständnis. Ich wollte gerade das klassische Modell als Ideal und Anspruch hochhalten, ganz gleich, ob es nun von einer Mehrheit noch favorisiert wird oder nicht. Das ist es übrigens auch, was mich an der katholischen Kirche glegentlich beeindruckt und wofür ich in unserer religiös mitunter etwas unmusikalischen Hauptstadt-Region für Verständnis werbe: Ein Ideal einfach hochzuhalten, nicht zu verhandeln und in taktischen Schrittchen anzustreben, ist für mich gerade der Unterschied zwischen Religion und politischer Partei. Der Past geht keine Koalitionen ein – zumindest seit geraumer Zeit nicht mehr.
        Verstehe ich Sie richtig, dass Sie die katholische Kirche als Beispiel dafür nehmen, dass eine Institution intern anders lebt (Zölibat) und dennoch das Gegenteil (Familie) zu befördern vermag? Die spannende Frage wäre, in welchem causalen Zusammenhang beides steht. Gelingt das Hochhalten des Familien-Ideals deshalb so gut, weil die Protagonisten vom zermürbenden Ehe-Altag ausgeschlossen bleiben? Oder könnte das Ideal nicht womöglich noch viel besser befördert werden, wenn die Funktionsträger nicht zu ewiger Einsamkeit verpflichtet wären. Es ist keine rhetorische Frage, ich weiß die Antwort nicht. Aber von Sarrazin sind wir damit schon ziemlich weit weg.

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  3. ricarda Says:

    Auch jenseits familiären Aufstiegwillens lassen sich die verborgenen Worte finden. Selbst ohne Bücher im Elternhaus können Heranwachsende dem Faszinosum der geistigen Welt erliegen. Wissensdrang ist anfangs pur, lässt sich zum Aufstiegswillen ökonomisieren. Kinder laufen weiter, weil sie die Welt entdecken KÖNNEN. Ob das den Eltern passt oder nicht.

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    • ralfschuler Says:

      Klingt nach Selbstläufer. Was ich als Vater dreier Kinder in der Grundschule und auf Klassenfahrten erlebt habe, war da aber eher traurig. Überall „verschüttete Seelen“ wenn man es mal pathetisch ausdrücken will.

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