Archive for Juli 2011

Alles beim Alten: Ein Jahr Sarrazin-Debatte

Juli 31, 2011

Das Papier hat scheinbar überhaupt nichts mit Thilo Sarrazin zu tun. „Bildungsrepublik Deutschland“ steht auf der bedruckten Blattsammlung, die Leitantrag des CDU-Bundesparteitags im November in Leipzig werden soll. Hauptstreitpunkt: die Abschaffung der Hauptschule und Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems aus Gymnasium und neu zu schaffender „Oberschule“. Bildungspolitischer Sprengstoff innerhalb der Union, heftige Reaktionen von der Schwester CSU aus Bayern und etlichen CDU-Landesverbänden.

Mindestens ebenso so explosiv und doch weitgehend ignoriert: die Begründung für die Bildungsreform. Der dramatische Rückgang der Bevölkerung und das damit verbundene Einbrechen der Schülerzahlen – in einigen Regionen um dreißig bis fünfzig Prozent – erzwinge die Zusammenlegung der Schulen, wenn man sie in stadtfernen Gebieten erhalten wolle. Und der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den Klassenräumen, der schon in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren gebietsweise bis auf 75 Prozent steigen werde, mache neue, intensive, integrative Formen der Beschulung nötig.

Letzteres sind keine Prognosen oder Hochrechnungen, die man glauben oder bezweifeln kann: Die betreffenden Kinder sind schon geboren (oder eben nicht geboren) und lassen sich zu harten Schulstatistiken zusammenzählen. In Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ konnte man das in allen Details schon vor einem Jahr nachlesen. 40 Prozent der jungen Mütter haben heute einen Migrationshintergrund. Während der Anteil von Zuzüglern an der Gesamtbevölkerung etwa 17 Prozent ausmacht, haben schon jetzt 30 Prozent der unter 15-Jährigen eine Einwanderer-Geschichte.

Während sich die Politik an technischen Korrektur-Details wie den Schulformen abarbeitet (und Sarrazin damit stillschweigend bestätigt), blendet sie bewusst oder unbewusst die wahre Dimension des heraufziehenden Wandlungsprozesses in Deutschland aus: Die Mehrheitsverhältnisse in den Klassenzimmern von morgen sind die Gesellschaftsverhältnisse von übermorgen. Und genau das macht die Bedeutung des Sarrazin-Buches auch ein Jahr nach seinem Erscheinen aus. Nie zuvor in der Geschichte ist eine hoch entwickelte Gesellschaft sehenden Auges in Zuwanderung aufgegangen und von dieser absehbar kulturell übernommen worden. Vollzogen sich derartige Prozesse bislang über mehrere Generationen hinweg, so wird dies nun innerhalb einer und sehr viel intensiver geschehen als beim bisher bekannten Einsickern von Zuwanderern in anderen Epochen.

Sarrazin protokolliert eher nüchtern und mit contra-guttenbergscher Fußnoten-Disziplin die Trends und Ursachen. Vom Geburtenmangel und dem Wegbrechen naturwissenschaftlich-technischer Hochschulabsolventen über sich verfestigende Migranten-Milieus bis hin zu einer Sozialpolitik, die durch gut gemeinte Fürsorge Menschen mehr und mehr ihrer Selbstverantwortung entwöhnt. Da sich all das klassischem politi-technokratischem Denken und kurzfristiger Steuerung im Legislaturperioden-Turnus entzieht, sind ernstzunehmende Reaktionen bislang ausgeblieben. Dass die sich verschiebenden Mehrheitsverhältnisse gesellschaftspolitisch folgenlos bleiben, ist dagegen mehr als unwahrscheinlich.

Die wachsende Zahl von Migrationsdeutschen in Kommunal-, Landes- und Bundesparlamenten wird in einer funktionierenden Demokratie Auswirkungen auf die politische Agenda und die Entscheidungen haben und hergebrachten „ur-deutschen“ Vorstellungen zwangsläufig Konkurrenz machen. Ob und wie eine immer inhomogenere Gesellschaft solche Brüche verkraftet, ist völlig offen. Den Finger in diese Wunde gelegt zu haben, ist nach wie vor das große Verdienst Sarrazins. Es geht hier nämlich nicht um Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit, sondern um den Identitätsverlust einer Gesellschaft, die in dem viel gescholtenen Bild des „Kopftuchmädchens“ (Sarrazin) äußerst präzise beschrieben ist. Niemand hegt irgendeinen Groll gegen eine individuelle verschleierte Muslima. Was zum gesellschaftlichen Sprengstoff werden kann, ist das Gefühl von Fremdheit im eigenen Land, das viele beschleicht, wenn sie in Teilen Kölns die Ladeninschriften nicht mehr verstehen oder sich wundern, warum man kaum noch Taxi-Fahrer erwischt, die normal deutsch sprechen.

Dieses Fremdeln gegenüber Fremdem mag nicht korrekt oder progressiv sein und auch nicht ins Konzept einer modernen „Melting-Pot“-Welt passen, es ist aber in den meisten Regionen dieser Erde eher die Regel als die Ausnahme. Die Konflikte, die aus solchen Verwerfungen entstehen, sind oft alles andere als friedlich. Eine Debatte über gesellschaftspolitische Zukunftstrends in Deutschland ist deshalb so verdienstvoll und dringlich, wie ihr allgemeines Abwürgen absehbar war.

Euro-Krise: Rette sich (und andere) wer kann

Juli 19, 2011

Die Euro-Krise ist eine Glaubenskrise. Die Märkte glauben nicht mehr daran, dass die schlingernden Euro-Länder Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und Italien sich allein aus dem Verschuldungssumpf werden ziehen können, und im Grunde glauben die meisten Europäer das auch nicht mehr. Sie glauben allerdings auch nicht, dass die milliardenschweren Hilfspakete den Hilfsbedürftigen Ländern noch helfen können.

Das liegt zum einen daran, dass es etwa im Falle Griechenlands noch immer kein plausibles Geschäftsmodell gibt. Würde man dem Land heute alle Schulden erlassen, würde es morgen neue machen, weil die Volkswirtschaft (vor allem Tourismus und Landwirtschaft) nicht ansatzweise das leistet, was noch immer konsumiert wird. Auch die martialischen Sparprogramme werde daran nichts ändern. Sie senken zwar das Niveau der Konsumption, würgen aber gleichzeitig die Konjunktur ab. Im Augenblick gleicht die Griechenland-Krise dem Versuch, einen Stausee aufzufüllen, dessen Schleusen weit geöffnet sind.

Zum anderen liegt das Misstrauen der Märkte aber auch in der völlig zutreffenden Beobachtung, dass die anderen Euro-Länder ebenfalls ausdauernd und Jahr für Jahr daran arbeiten, neue Fuhren auf ihre eigenen Schuldenberge zu kippen. Wie sollte man von ihnen tatsächlich belastbare Hilfe erwarten können? Schuldner schließen sich zusammen, um für einen Super-Schuldner zu bürgen und würden selbst in den Abgrund gerissen, wenn es darauf ankäme, die Hilfsversprechen einzulösen.

Gleichwohl hetzen die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone atemlos von einem Krisengipfel zum nächsten, spannen Rettungsschirme auf, schnüren Hilfspakete und indem sie dies tun, ahnen sie bereits, dass die beschlossenen Milliarden wieder nicht ausreichen werden. Ein Wettlauf, von dem mit guten Gründen kaum noch jemand glaubt, dass er zu gewinnen ist.

Ist also alle Hoffnung dahin?

Wie wäre es, einmal in eine ganz andere Richtung zu denken: Wenn den schwachen Euro-Ländern nicht wirklich zu helfen ist, und wenn die Euro-Rettung vor allem ein Glaubwürdigkeitsproblem ist – wäre es nicht sinnvoll, zunächst einmal an der Glaubwürdigkeit der starken Helferländer zu arbeiten?

Deutschland wird in diesem Jahr knapp 40 Milliarden Euro neue Schulden machen. Im nächsten Jahr stehen schon 27 Milliarden Defizit im Finanzplan. Ist es völlig undenkbar, statt Hilfszusagen in dreistelliger Milliardenhöhe, bei boomender Konjunktur 40 Milliarden aus dem deutschen Haushalt einzusparen?! Das Zeichen an die Märkte: Die Starken lassen die Muskeln spielen! Und sie sind bereit für den Euro wirklich einzustehen, indem sie sich ihrer Stärke bewusst sind und diese erhalten. Noch besser wäre es, wenn man sich auf den diversen Krisen-Gipfeln dazu verständigen könnte, dass die anderen Euro-Länder mitziehen, dass Frankreich seinen Etat ausgleicht und die Euro-Zone – anders als die USA – die Kraft aufbringt, handlungsfähig zu bleiben. Gegen gesunde Währungen kann man nicht spekulieren. Und: Nichts spricht stärker gegen einen Euro-Domino-Day als harte Fakten. Eine starke Euro-Zone müsste auch eine Umschuldung weniger fürchten und könnten viel glaubwürdiger bürgen, wenn es denn nötig ist.

Der Vorteil: Diese Euro-Hilfe wäre nicht nur plausibel, sie käme auch den starken Euro-Ländern selbst zugute, weil keine neuen Schulden mehr gemacht würden, deren Zinsen künftige Generationen belasten. Die Menschen in Deutschland dürften für einen solchen Kraftakt, der ihnen selbst und anderen hilft, durchaus motivierbar sein. Und schließlich, ganz nebenbei, hätte die Image-geplagte schwarz-gelbe Regierung für die zweite Hälfte der Legislaturperiode ein wirklich ambitioniertes Projekt, dass sich am Ende vorzeigen ließe. Welcher Finanzminister konnte sich zuletzt rühmen, die Staatsfinanzen saniert zu haben?! Wirklich saniert und nicht nur fast wie Peer Steinbrück.

Eines wäre für das Projekt Euro-Rettung aber in jedem Falle unabdingbar: Eine Kanzlerin, die es endlich schafft, den Menschen die Größe des gemeinsamen Projekts Europa so eindringlich zu erklären, wie es das verdient. Und dass es sich für diesen alten Kontinent und für seine Zukunft in Freiheit, Frieden und Wohlstand lohnt, einzustehen. Die biografischen Voraussetzungen für so einen Kurs hätte sie. Ob sie politisch und emotional dazu in der Lage ist, daran darf man in der Tat zweifeln.

PID – Auf der ethischen Rutschbahn

Juli 8, 2011

Der Beschluss des Bundestags zur Freigabe der Präimplantationsdiagnostik (PID) zeigt vor allem eines: Den alles andere dominierenden Opferblick der von den Abgeordneten repräsentierten deutschen Gesellschaft. Nach der eng begrenzten Lesart der PID sind im Jahr in Deutschland etwa 200 Paare von Erbleiden betroffen, die einen Einsatz dieser Methode sinnvoll erscheinen lassen. Das emotionale Hineinversetzen in das schlimme Schicksal dieser Menschen ist der zentrale Beweggrund, der Abstimmung: Niemand möchte unter so qualvollen Umständen um sein Wunschkind ringen oder sogar darauf verzichten müssen, deshalb werden ethische Bedenken, die nahezu alle Debatten-Teilnehmer zugaben, zugunsten wissenschaftlicher Praktikabilität zurückgestellt.

So wird also eine generelle Regelung zur Antastbarkeit werdenden Lebens in das Embryonenschutzgesetz eingefügt, weil es unter 80 Millionen Deutschen 200 tragische Fälle gibt. Um es unmissverständlich zu sagen: Es geht hier nicht um das quantitative Aufrechnen von Schicksalen. Es geht nicht darum, dass man über das Leid von verschwindenden Minderheiten einfach so hinweg gehen dürfte. Es geht vielmehr darum, dass das Grundverständnis der Demut vor dem Leben – auch vor dem menschlichen Leben – einen weiteren Schritt zurückgedrängt wird. Dass es Konstellationen im Leben gibt, die man ertragen muss, weil zur Abhilfe elementare Regel verletzt werden, ist immer weniger gesellschaftlicher Konsens.

Es gibt, um einen ebefalls aktuellen Vergleich anzustellen, auch kein Menschenrecht auf ein Spenderorgan. Selbst wenn mein Nachbar gefahrlos eine Niere hergeben könnte, gibt es keine Rechtfertigung für eine Freigabe der Zwangsspende von Organen. Nur dass in diesem Falle eben „vollwertige“, lebende Menschen die Betroffenen wären, die eine andere Lebensschutz-Akzeptanz genießen als das werdende Leben von Embryonen. Befremdlich ist allerdings, dass angesichts der inzwischen bereits riesigen und in Zukunft weiter wachsenden Möglichkeiten der Manipulation am Embryo die PID-Befürworter nicht wenigstens ein leiser Schauder beschleicht, wozu sie da Vorschub geleistet haben mögen. Aber vielleicht wird auch diese Abwägung von der Empathie mit den erblich belasteten Paaren völlig überschattet.

Dass es keinen ethischen Rutschbahn-Effekt gibt, wie die PID-Befürworter behaupten, wird indes von der Realität schon heute widerlegt. Schon jetzt wird während der Schwangerschaft bereits getestet, was nur getestet werden kann. Wer heute auf eine Fruchtwasseruntersuchung verzichtet, gilt nicht selten als unverantwortlich. Und das Verständnis dafür, dass man sein Kind anzunehmen habe, ganz gleich, wie es auf diese Erde gesandt wird, um den alles überragenden Wert des Lebens nicht zu relativieren, dieses Verständnis ist längst auf dem Rückzug. Und da nicht um des Testens selbst willen getestet wird, steht immer häufiger auch die Entscheidung an, bei erhöhten Wahrscheinlichkeiten von Fehlentwicklungen zu „reagieren“.

Auch die Tatsache, dass zugunsten der PID immer wieder auf die Möglichkeit zur Spätabtreibung verwiesen wird, zeigt, wie die schrittweise erfolgte Freigabe ethischer Grenzflächen immer wieder zu Ausbau und Erweiterung derselben genutzt werden kann und genutzt wird. Glaubt im Ernst jemand, dass in Zukunft weniger schwere Behinderungen oder Fehlbildungen bei Kindern hin- und angenommen werden, während jenseits einer noch zu ziehenden Grenze „schwerwiegende“ Beeinträchtigungen „vermieden“ werden können. Warum das Risiko erhöhter Brustkrebsgefährdung dem eigenen Kind mit auf den Weg geben, wenn man diese Option durch PID ausschließen kann?!

Für gesellschaftliches Klima und Wertewandel gibt es kaum Statistiken. Wer mit Werteverständnis argumentiert, hat es immer schwerer als Leid-Verhinderer, die dramatische Bilder ausmalen und konkrete Schicksale zeigen können. PID wird aber auch deshalb zu einem Bumerang werden, weil viele Behinderungen im Verlauf der Schwangerschaft und der Geburt entstehen. Wer schwere Erbschäden in der Petrischale hat ausschließen lassen und dann wegen Sauerstoffmangels unter der Niederkunft ein behindertes Kind bekommt, wird unter einem gesellschaftlichen Klima der erwarteter Gen-Gesundheit noch schlimmer zu leiden haben, obwohl er selbst dazu beigetragen hat.

Und noch etwas macht das PID-Votum deutlich: Glaube und Wertebewusstsein werden offenbar immer weniger als „verbindlich“ und „bindend“ angesehen. Werteüberzeugungen auch dann anzuwenden, wenn sie im Einzelfall nicht praktikabel sind und einem Gewissensbürden auferlegen, scheint immer unmoderner zu werden. So intensiv und ernsthaft die bioethischen Debatten im Bundestag in den letzten Jahren auch geführt wurden, sie endeten noch immer mit Kompromissen, wo eigentlich keine Kompromisse möglich sind.