Archive for September 2011

Es lebe der evangelische Papst

September 24, 2011

Deutschlands Protestanten sind enttäuscht. Das schreiben zumindest die meisten Kommentatoren über das Treffen des Papstes mit den Vertretern der Evangelischen Kirche in Erfurt. Sie hatten auf „deutliche Schritte“ oder Gesten des Pontifex Maximus im Sinne der Ökumene gehofft. Was genau sie sich da vorgestellt hatten, weiß man nicht. Wahrscheinlich hätte der Nachfolger Petri sich ein Beispiel an der Kanzlerin und ihrer Energie-Wende nehmen sollen: ,Wir haben jetzt 500 Jahre gestritten. Also gut: Ihr habt recht.‘

Zugegeben – eine recht banale Vorstellung. Einerseits ist die Kirchentrennung im Zuge der Reformation ja nicht grundlos erfolgt, sondern wegen bis heute bestehender unterschiedlicher Auffassungen über Gott und die Menschen. Andererseits kann der Führer einer Weltkirche nicht eben mal als nette Geste an seine Landsleute aus der Thüringischen Landeshauptstadt die Botschaft an 1,2 Milliarden Katholiken senden: Von heute an sehen wir die Sache mit dem Abendmahl einfach etwas lockerer.

Benedikt XVI. hat den Reformator Martin Luther ausdrücklich gewürdigt, hat zentrale Orte seines Wirkens besucht und damit klar gemacht, dass Rom ihn nicht länger als ketzerischen Spalter ansieht, sondern als einen Menschen auf der Suche nach Gott und dem Glauben. Mit anderen Worten: Auch wir (Rom) haben damals Unrecht getan und Anlass zu reformatorischen Umtrieben gegeben. Eine beachtliche Geste, zu der die Vorgänger Josef Ratzingers sich nicht herbeilassen konnten und eine gute Grundlage für weitere Gespräche.

Enttäuscht kann davon nur sein, wer Ökumene als eine Art Koalitionsverhandlungen versteht, die mit einem „guten Kompromiss“ für beide Seiten enden. Aber das Himmlische lässt sich nicht irdisch verrechnen. Und es ist schon ein – nicht wirklich überraschendes – Zeugnis religiöser Unkenntnis und Ignoranz vieler Medienleute, hier im Ernst liturgische oder theologische Gastgeschenke aus Rom erwartet zu haben.

Noch absurder nehmen sich da nur die Appelle etwa des Bundespräsidenten bei der Begrüßung des Papstes aus. Christian Wulff, von dem man weiß, dass er als geschiedener Katholik persönlich unter der Zurücksetzung beim Abendmahl leidet, mahnte gerade heraus Reformen beim Zölibat, bei der Rolle der Frau und im Umgang mit Geschiedenen in der Katholischen Kirche an.

Nun ist aus katholischer Sicht die Ehe ein Sakrament, das sich die Eheleute gegenseitig spenden. Würde sich Benedikt hier also großzügig zeigen, so müsste er an Kernbestände des Glaubens heran. Es beginnt mit dem Ehegelübde, sich bis zur Scheidung durch den Tod treu zu sein, in guten wie in schlechten Tagen: Einen solchen Schwur kann man sinnvollerweise nur einmal ablegen. Zumindest, wenn man ihn ernst meint. Akzeptiert man ihn – etwa in Schröder/Fischerscher Serienauflage – , müsste er konsequenterweise in eine Art lose Bemühenszusage umformuliert werden.

Nun gut, Menschen sind fehlerhaft, aber ein Sakrament, das man gern immer wieder brechen kann, wäre kein solches mehr. Dabei ist es schon einigermaßen plausibel, die innigste Beziehung zwischen zwei Menschen, die zudem normalerweise den Fortbestand der Menschheit sichert, als geheiligt anzusehen. Im Klartext: Der Papst müsste, um Wulffs Bitte zu erfüllen, mal eben rasch eines der sieben katholischen Sakramente abschaffen. Das wird er realistischerweise nicht tun, auch wenn es sicher eine schöne Geste wäre, um auf die evangelischen Christen zuzugehen.

Noch interessanter ist aber die Begründung deutscher Reform-Katholiken für diese Forderung: Die strikte Treue passe nicht zur Lebenswirklichkeit moderner Menschen, heißt es. Da haben sie zwar recht, nur ist die Logik dahinter genauso bezeichnend wie absurd: Wenn unsere Lebensweise nicht mit göttlichen Regeln harmoniert, muss Gott halt sich und seine Regeln ändern. Wir doch nicht uns! Wenn der Glaube an Gott aber einen Sinn haben soll, dann gewiss nicht den, Gott nach unserem Bilde zu formen, damit seine Religion uns dient und Spaß macht.

Wer täglichen Trost sucht, der sich als flexible Dienstleistung unseren Gewohnheiten, Irrwegen und Zivilisationsmacken anpasst, ist im reichhaltigen deutschen Vereinsleben besser aufgehoben, als in der katholischen Kirche. Die hat sich vor 500 Jahren bewusst nicht für den Weg von Martin Luther entschieden. Wer Frauenpriestertum, Abendmahl für alle und Kondomverteilung in Afrika wünscht, hat seitdem eine Alternative.

Die Großstadt-Guerilla marschiert

September 18, 2011

Was sagt es aus über eine Gesellschaft, wenn eine Nischen-Splittergruppe aus dem Stand (besser aus der Bauchlage) den Sprung in ein Landesparlament schafft?

Man wird zunächst einschränken müssen, dass Berlin kein Land ist, sondern eine Stadt. Wäre die Fusion mit Brandenburg gelungen, und hätte die Metropole dementsprechend tatsächlich ein Hinterland, so wäre dieser Erfolg der Piratenpartei nicht möglich gewesen.

Die Piraten bringen das Kunststück fertig, im gleichen Partei- und Wahlprogramm einen stärkeren Schutz personenbezogener Daten und eine weitreichende Aushöhlung des Urheberrechts zu fordern. Sie prangern einen „veralteten Begriff“ von „geistigem Eigentum“ an, wollen das Recht auf Privatkopie festschreiben, Ämterdaten frei zugänglich machen, allen Ernstes „Whistleblowerschutz“ per Gesetz festschreiben und halten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble für das geeignete Pictogramm von „Stasi 2.0“.

Für jeden einzelnen Punkt finden sich sicher geeignete Beispiele, und doch ist es schon einigermaßen atemberaubend, wie leichtfertig hier Einzelinteressen als Berechtigung für Eingriffe ins gesamte Rechtsgefüge angesehen werden. Einerseits macht es sich die Netz-Guerilla zu einfach, wenn sie unterstellt, der Staat sei der größte Orwell’sche Bruder beim Datensammeln, andererseits ist Internet-Kommunismus keine hundert Jahre nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution nun offenbar modern und wählbar.

Anstatt sich gegen das schon heute sichtbare Elend zahlloser Kreativer aufzulehnen, deren Produkte von der Gratis-Unkultur im Netz verschluckt werden, wird das „geistige Eigentum“ nun mit ähnlicher Verve geschleift, wie weiland der materielle Besitz durch die Leninisten. Software-Patente findet der fröhlich-freie „Digital Na(t)iv“ überflüssig, und den „Verpfeiferschutz“ kann nur fordern, wer die umgebende Gesellschaft für ein unnötiges, lästiges und reaktionär-finsteres Netzwerk hält.

Kurz: Die Nische fordert mehr Raum. Eine Truppe, die das Internet mit der Gesellschaft verwechselt, will die Gesellschaft dem Netz anpassen. Es ist ein Philosophie, die vernetzte Kommunikation nicht als Dienstleistung für eine reale Menschenwelt betrachtet, sondern sich die virtuelle Surf-Sorglosigkeit als Vorlage für ein soziales Gewimmel draußen vorstellt. Der Gesellschaftsentwurf, der sich aus den Programm-Rudimenten der Piraten erahnen lässt, schimmert in der schattenlosen Lichtästhetik von Science-Fiction-Laboren und Fantasy-Filmen. Kann das wer wollen?

Übertroffen wird diese programmatische Wirrnis nur durch den eindringlichen Hinweis, man habe sich zu vielen Themen noch keine hinreichende Meinung gebildet, um Antworten parat zu haben. In einer Zeit, da Leerverkäufe an den Börsen geächtet werden, schafft es eine Partei ins Parlament, die Ahnungslosigkeit zum Programm macht. Was sagt es also aus über eine Gesellschaft, die nicht nur Armut sexy findet, sondern offenbar auch Geistesarmut? Lässt man die unhöflichsten Interpretationen einmal beiseite, so kann man der Hauptstadt immerhin Konsequenz und Ehrlichkeit bescheinigen: Wer genauso doof ist, wie man selbst, der eignet sich gut zum Volksvertreter. Außerdem produziert man hinterher keine Enttäuschung, wenn man vorher sagt, dass man keine Ahnung hat.

Im Grunde leuchtet hier aber wohl auch die neue Internet-Informationsgesellschaft herauf, in der sich ein paar Individualisten mit Insel-Interessen zusammentun und sich nicht mit dem Verständnis komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge beschweren. Man muss nicht das große Ganze sehen, sondern nur vor seine eigenen Füße, und da soll es irgendwie schöner und besser sein. Wird schon.

Vielleicht ist die Erklärung für den Erfolg der Piraten aber auch viel einfacher: Immer wieder traf man in den zurückliegenden Wochen (meist junge) Berliner, die im Netz den „Wahlomat“ besucht und entsetzt festgestellt hatten: Mein Werteprofil entspricht der FDP. Da liegt der Wechsel zu den Piraten in der Tat nicht fern. Die Ideenwelt ist ähnlich konfus und bindungslos wie das Auftreten der Liberalen in jüngster Zeit, nur der Name klingt halt besser.

Eliten-Dämmerung: Galopp der neuen Herrenreiter

September 12, 2011

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Ein Standardsatz, den der engagierte Hobby-Soziologe und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit von heute einfach drauf haben muss. Pawlows Hunde schnappten, Gesellschaftskritiker von heute sagen diesen Satz. Der Wahrheitsgehalt spielt dabei keine Rolle. In der Tat nimmt die Gruppe der Geringverdiener zahlenmäßig zu, die der Spitzenverdiener auch. Man könnte also sagen, die gesellschaftliche Mitte schrumpft. Klingt aber weniger dramatisch. Ist aber auch egal, auf jeden Fall ist es schlimm.

Eine andere Schere macht den hauptamtlichen Mahnern dagegen weniger Sorge: Die wachsende Eliten-Dominanz in der Gesellschaftspolitik. Jüngstes Beispiel: der beträchtliche Erfolg der Piratenpartei in Berlin. Eine Partei, die mit dem Spartenthema „Netzfreiheit“ vermutlich den Sprung ins Abgeordnetenhaus der Hauptstadt schafft. Schmalspur-libertäre Computerfreaks, die auf ihren Plakaten ausdrücklich der Religion im öffentlichen Raum den Kampf angesagt haben und Innenminister genauso gefährlich finden wie Terroristen: „Zehn Jahre nach den Terroranschlägen am 11. September in den USA warnt die Piratenpartei Deutschland vor einer neuen Koalition der Willigen aus Terroristen und Innenpolitikern, die weltweit Freiheitsrechte bedrohen.“

Während sich der kleine Mann vorzugsweise beim Online-Shopping vor Abzocke fürchtet, sorgen sich die Piraten um die Recherchierbarkeit ihrer Browserverläufe und können offenbar gut damit leben, das Verbreiter von Kinderpornos im Netz kaum noch belangbar sind, weil die Server im Ausland stehen. Die mediale Präsenz dieser Partei steht ebensowenig in einem realistischen Verhältnis zur eigenen Bedeutung, wie die inflationären Wasserstandsmeldungen  zur Gefühlswelt von Wikileaks-Gründer Julian Assange, die man täglich lesen muss. Assanges  Treiben ist  für den durchschnittlichen Gebrauchsbürger mindestens so bedeutsam wie die inzwischen belegte Promiskuität von Kreuzottern.

Die Lebens- und Wertewelt großstädtischer Elite-Milieus prägt heute über weite Strecken den Meinungsmainstream. So gelten etwa Vegetariertum und Elektromobilität als nahezu unumstrittene Zukunftstrends, obwohl beides im bodenständigen Kleinverdienerhaushalt weder finanzierbar noch praktikabel ist. Auch die Anti-Atomkraft-Bewegung wird getragen von Multiplikatoren, denen die soziale Dimension dieses volkswirtschaftlichen Radikalschwenks entweder egal ist oder verkraftbar erscheint. 40 Euro Erhöhung der Stromrechnung pro Jahr – was ist das schon, hieß es unisono im Kreise der „Nein-Danke“-Sager, obwohl man seit der LKW-Maut eigentlich besser wissen kann, dass die Verteuerung ökonomischer „Grundnahrungsmittel“ (Transport, Energie etc.) sich in voller Breite bei Dienstleistungen und Produkten preistreibend niederschlägt.

Sowohl bei ökologischer Ernährung (mit dem Hybrid-Auto zum Bio-Markt), bei energetischer Sanierung (vs. Mieterschutz) oder Windparks (gibt es in Städten nicht) als auch etwa in der Integrationsdebatte, gibt die obere Mittelschicht den Ton der gesellschaftlichen Debatte an und setzt sich eher ungerührt über die Lebenswirklichkeit des „kleinen Mannes“ hinweg. Die sie allerdings meistens auch gar nicht zur Kenntnis nimmt, da es weder im Beruf Konkurrenz durch ungelernte Zuwanderer gibt, noch im Wohnumfeld soziale Brennpunkte. Und zur Not kann man unerwünschten Aspekten des harmonischen Zuwanderer-Panoramas geschickt ausweichen: Etwa indem Berlin-Kreuzberger Links-Öko-Bürger ihre Kinder in konfessionelle Schulen mit geringer Migranten-Quote in Mitte schicken. Sogar bei der Debatte um die Vereinigten Staaten von Europa und den Euro lässt sich konstatieren, dass nationale Bindungen und die durchaus bekannte Euro-Skepsis der einfachen Menschen auf der Straße im medial verstärkten Oberschichten-Kanon zum Tabu erklärt werden und einfach nicht vorkommen dürfen.

Es ist schon einigermaßen auffällig, dass die selbst ernannten progressiven Vor- und Herrenreiter den Blick immer seltener zum Fußvolke zurück schweifen lassen, in dessen Namen sie nicht selten zu sprechen vorgeben.