ZEITGEMÄSS. Alle Nase lang werden alberne Unworte des Jahres gekürt. Missliebige Vokabeln, die irgendeiner Jury nichts ins Weltbild passen. Die Rückkehr des vorväterlichen Satzes „das sagt man nicht“ im modernen Gewande. Wenn es aber ein Unwort gibt, dem für sein verderbliches Lebenswerk ein Schmähpreis gebührt, dann: ZEITGEMÄSS! Ein argumentativer Geschmacksverstärker für laue Kantinen-Kost: Let’s get the Lemming-taste!
Inflationär ist es dieser Tage gerade wieder im Umlauf bei all jenen, die den Rücktritt des Papstes zur allfälligen Abrechnung mit der Kirche nutzen und ungefragt den gewaltigen Reformbedarf des Katholizismus‘ erklären. Der Zölibat sei nicht mehr ZEITGEMÄSS, das Frauenpriestertum müsse jetzt kommen, der Umgang mit geschiedenen und wiederverheirateten Katholiken und Homo-Paaren der Lebenswirklichkeit angepasst werden… – meinen häufig ausgerechnet jene, die ohnehin nichts mit Religion am Hut haben.
Nun mag an all dem ja durchaus auch etwas dran sein, nur ist ZEITGEMÄSSHEIT beim besten Willen kein Argument für gar nichts. ZEITGEMÄSS ist ein Massemaß, eine Quantität des Praktizierten, ein klangvolles Synonym für mentales Mitläufertum, Mode und geistigen Herdentrieb. Nirgends ist ZEITGEMÄSS aber so absurd und abwegig, wie bei Fragen der Religion. Wenn Gott erst ZEITGEMÄSS ist, wäre er des Teufels.
Wenn es einen Gott gibt und man den Glauben an ihn ernst nimmt, dann kann nicht der Lebenswandel von uns Würmern als Argument dienen, SEINE Regeln zu ändern. Allenfalls kann man theologisch darüber streiten, ob die Regeln womöglich gar nicht auf SEINEM Wort beruhen, sondern lediglich menschliche Ableitungen und deshalb viel weniger verbindlich sind. Oder man streicht Gott ganz aus seinem Weltbild.
Kurioser Gipfel im Vormacht-Kampf des ZEITGEMÄSSEN war jüngst eine Debatte bei Maybrit Illner, in der beschrieben wurde, wie sich Eltern einer katholischen Kita in Köln für die Weiterbeschäftigung einer geschiedenen und wiederverheirateten Erzieherin einsetzten. Schlagendes Argument: Mehr als die Hälfte der Eltern sei ja selbst geschieden und wieder verheiratet. Mit anderen Worten: Machen wir doch alle so.
Die Frage ist erlaubt und mehr als berechtigt, ob die katholische Kirche tatsächlich Kitas und andere Sozialeinrichtungen unterhalten muss, wenn ihre Regeln mit denen von Mitarbeitern und Kundschaft nicht mehr im Einklang sind. Man kann auch die theologische Debatte darüber führen, warum die Ehe im Katholizismus ein Sakrament ist. Aber man kann nicht das Sakrament der Ehe kurzerhand schleifen, weil viele Menschen nicht mehr bereit oder in der Lage sind, es zu leben. Nach dieser Logik müsste man rote Ampeln freigeben, wenn nur genügend Leute bei Rot über die Kreuzung gehen.
Wenn Gott Gott ist, kann der Mensch nicht per Urabstimmung IHM eine neue Satzung geben. Sonst ist er nicht Gott, sondern lediglich ein beliebiger Vereinsvorsitzender. Es gehört im Übrigen gerade zu den „revolutionären“ Grundlagen des Christentums, dass auch der nicht aus der Liebe des Herrn fällt, der seine gestrenge Norm nicht erfüllt. Dem westlichen Wohlstandschristen und ZEITGEMÄSSEN Kirchenkritikern reicht das aber nicht. Statt dessen soll kurzerhand die Norm dem eigenen Lebenswandel angepasst werden, wie der Duden den marodierenden Sprachschludereien. Denn der komfortgewohnte Jetztmensch möchte seine Verstöße weder erwähnt wissen, noch an sie überhaupt erinnert werden. Halbe Leistung, volle Punktzahl. Folgerichtige Forderung: Das Grundrecht auf ein gutes Gewissen. Neben all den anderen Grundrechten eigentlich längst überfällig.
Bei näherer Betrachtung hat das Gewissen allerdings überhaupt nur einen Wert, wenn man auch ein schlechtes haben kann. Alles andere ist Selbstzufriedenheit. Und daran mangelt es auf der Welt nun weiß Gott nicht. Aber sei’s drum.
Denn das Prinzip des ZEITGEMÄSSEN hat sich längst schon viel zu tief auch ins politische System vieler westlicher Demokratien gefressen. Von Energiewende über das erodierende Familienbild bis Wirtschaftspolitik: Immer häufiger unterlässt es die handelnde Politik, für vom breiten Meinungsstrom abweichende Positionen überhaupt noch zu werben oder wenigstens ordnungspolitische Leitbilder hochzuhalten. Früher dachte der Chef noch selbst, heute schwärmt er vom Schwarm. Ein politisches Hotel Garni, das im Grunde den repräsentativen Teil der Demokratie zuschanden reitet. Verwaltung statt Führung.
Dabei geht es nicht um Bevormundung der mündigen Mehrheit. Es ginge beispielsweise darum, trotz vielerorts scheiternder Familien das immer noch mehrheitlich angestrebte Ideal immer wieder zu benennen, um einen Richtpol für den geistigen Kompass zu bewahren. Es ist zu wenig, Patchworkfamilien, Homo-Ehen, wachsende Single-Haushalte lediglich als ZEITGEMÄSS anzunehmen und die daraus erwachsenen gesellschaftlichen Reparaturarbeiten mehr schlecht als recht umzusetzen.
Der lediglich nachführende Gestaltungsverzicht führt mittelfristig zu kollabierenden Sozialsystemen, kranken Menschen und bröckelnder Wohlstandsbasis. ZEITGEMÄSS ist, was (fast) alle machen. Ob es gut ist, schlecht, dämlich oder nett, spielt keine Rolle. Wer in gesellschaftspolitischen Debatten mit ZEITGEMÄSSHEIT argumentiert, redet in letzter Instanz der geistigen Selbstaufgabe das Wort. Die Masse macht’s. Bleibt zu hoffen, dass es noch genug Menschen gibt, denen das zu wenig ist.