Archive for Februar 2013

Die Masse macht’s oder Sind Sie noch ZEITGEMÄSS?

Februar 16, 2013

ZEITGEMÄSS. Alle Nase lang werden alberne Unworte des Jahres gekürt. Missliebige Vokabeln, die irgendeiner Jury nichts ins Weltbild passen. Die Rückkehr des vorväterlichen Satzes „das sagt man nicht“ im modernen Gewande. Wenn es aber ein Unwort gibt, dem für sein verderbliches Lebenswerk ein Schmähpreis gebührt, dann: ZEITGEMÄSS! Ein argumentativer Geschmacksverstärker für laue Kantinen-Kost: Let’s get the Lemming-taste!

Inflationär ist es dieser Tage gerade wieder im Umlauf bei all jenen, die den Rücktritt des Papstes zur allfälligen Abrechnung mit der Kirche nutzen und ungefragt den gewaltigen Reformbedarf des Katholizismus‘ erklären. Der Zölibat sei nicht mehr ZEITGEMÄSS, das Frauenpriestertum müsse jetzt kommen, der Umgang mit geschiedenen und wiederverheirateten Katholiken und Homo-Paaren der Lebenswirklichkeit angepasst werden… – meinen häufig ausgerechnet jene, die ohnehin nichts mit Religion am Hut haben.

Nun mag an all dem ja durchaus auch etwas dran sein, nur ist ZEITGEMÄSSHEIT beim besten Willen kein Argument für gar nichts. ZEITGEMÄSS ist ein Massemaß, eine Quantität des Praktizierten, ein klangvolles Synonym für mentales Mitläufertum, Mode und geistigen Herdentrieb. Nirgends ist ZEITGEMÄSS aber so absurd und abwegig, wie bei Fragen der Religion. Wenn Gott erst ZEITGEMÄSS ist, wäre er des Teufels.

Wenn es einen Gott gibt und man den Glauben an ihn ernst nimmt, dann kann nicht der Lebenswandel von uns Würmern als Argument dienen, SEINE Regeln zu ändern. Allenfalls kann man theologisch darüber streiten, ob die Regeln womöglich gar nicht auf SEINEM Wort beruhen, sondern lediglich menschliche Ableitungen und deshalb viel weniger verbindlich sind. Oder man streicht Gott ganz aus seinem Weltbild.

Kurioser Gipfel im Vormacht-Kampf des ZEITGEMÄSSEN war jüngst eine Debatte bei Maybrit Illner, in der beschrieben wurde, wie sich Eltern einer katholischen Kita in Köln für die Weiterbeschäftigung einer geschiedenen und wiederverheirateten Erzieherin einsetzten. Schlagendes Argument: Mehr als die Hälfte der Eltern sei ja selbst geschieden und wieder verheiratet. Mit anderen Worten: Machen wir doch alle so.

Die Frage ist erlaubt und mehr als berechtigt, ob die katholische Kirche tatsächlich Kitas und andere Sozialeinrichtungen unterhalten muss, wenn ihre Regeln mit denen von Mitarbeitern und Kundschaft nicht mehr im Einklang sind. Man kann auch die theologische Debatte darüber führen, warum die Ehe im Katholizismus ein Sakrament ist. Aber man kann nicht das Sakrament der Ehe kurzerhand schleifen, weil viele Menschen nicht mehr bereit oder in der Lage sind, es zu leben. Nach dieser Logik müsste man rote Ampeln freigeben, wenn nur genügend Leute bei Rot über die Kreuzung gehen.

Wenn Gott Gott ist, kann der Mensch nicht per Urabstimmung IHM eine neue Satzung geben. Sonst ist er nicht Gott, sondern lediglich ein beliebiger Vereinsvorsitzender. Es gehört im Übrigen gerade zu den „revolutionären“ Grundlagen des Christentums, dass auch der nicht aus der Liebe des Herrn fällt, der seine gestrenge Norm nicht erfüllt. Dem westlichen Wohlstandschristen und ZEITGEMÄSSEN Kirchenkritikern reicht das aber nicht. Statt dessen soll kurzerhand die Norm dem eigenen Lebenswandel angepasst werden, wie der Duden den marodierenden Sprachschludereien. Denn der komfortgewohnte Jetztmensch möchte seine Verstöße weder erwähnt wissen, noch an sie überhaupt erinnert werden. Halbe Leistung, volle Punktzahl. Folgerichtige Forderung: Das Grundrecht auf ein gutes Gewissen. Neben all den anderen Grundrechten eigentlich längst überfällig.

Bei näherer Betrachtung hat das Gewissen allerdings überhaupt nur einen Wert, wenn man auch ein schlechtes haben kann. Alles andere ist Selbstzufriedenheit. Und daran mangelt es auf der Welt nun weiß Gott nicht. Aber sei’s drum.

Denn das Prinzip des ZEITGEMÄSSEN hat sich längst schon viel zu tief auch ins politische System vieler westlicher Demokratien gefressen. Von Energiewende über das erodierende Familienbild bis Wirtschaftspolitik: Immer häufiger unterlässt es die handelnde Politik, für vom breiten Meinungsstrom abweichende Positionen überhaupt noch zu werben oder wenigstens ordnungspolitische Leitbilder hochzuhalten. Früher dachte der Chef noch selbst, heute schwärmt er vom Schwarm. Ein politisches Hotel Garni, das im Grunde den repräsentativen Teil der Demokratie zuschanden reitet. Verwaltung statt Führung.

Dabei geht es nicht um Bevormundung der mündigen Mehrheit. Es ginge beispielsweise darum, trotz vielerorts scheiternder Familien das immer noch mehrheitlich angestrebte Ideal immer wieder zu benennen, um einen Richtpol für den geistigen Kompass zu bewahren. Es ist zu wenig, Patchworkfamilien, Homo-Ehen, wachsende Single-Haushalte lediglich als ZEITGEMÄSS anzunehmen und die daraus erwachsenen gesellschaftlichen Reparaturarbeiten mehr schlecht als recht umzusetzen.

Der lediglich nachführende Gestaltungsverzicht führt mittelfristig zu kollabierenden Sozialsystemen, kranken Menschen und bröckelnder Wohlstandsbasis. ZEITGEMÄSS ist, was (fast) alle machen. Ob es gut ist, schlecht, dämlich oder nett, spielt keine Rolle. Wer in gesellschaftspolitischen Debatten mit ZEITGEMÄSSHEIT argumentiert, redet in letzter Instanz der geistigen Selbstaufgabe das Wort. Die Masse macht’s. Bleibt zu hoffen, dass es noch genug Menschen gibt, denen das zu wenig ist.

Schusselchen Schavan

Februar 4, 2013

Man kann nicht sagen, dass Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) und ihre Unterstützer nicht alles versucht hätten in der peinlichen Affäre um ihren Doktortitel. Mühe haben sie sich gegeben, und wenn es so etwas wie ein politisches Leistungsprinzip gibt, dann muss man das auch mal anerkennen. Trotzdem sieht es so aus, als dürfte sich Frau Doktor in naher Zukunft nur noch Annette Schavan nennen, weil die verbohrte Uni Düsseldorf partout Recht vor Gnade ergehen lassen will.

Für die Ministerin besonders bitter: Die ansonsten nicht für ihre Zimperlichkeit bekannten Doktor-Jäger im Internet („SchavanPlag“) fanden die Promotionsvergehen mehrheitlich verzeihlich. Lediglich ein SchavanPlager wollte die erwischte Akademikern nicht so leicht davon kommen lassen und schlug Alarm. Schavan flüchtete vermeintlich nach vorn, betraute die Uni Düsseldorf mit seriöser Prüfung und sah sich nun ausgerechnet dort mit voller Härte an den Pranger gestellt, wo sie sich die Vergebung lässlicher Zitier-Sünden erhofft hatte. Die Uni verbiss sich viel zäher in die Studien zur pädagogischen „Gewissensbildung“ von 1980 als die freischaffende Häscher-Meute aus dem Internet.

So clever und souverän die Ministerin die Attacken der Düsseldorfer Prüfer zu parieren versuchte, so unbeirrt blieben die auf unfreundlichem Kurs. Die Chronologie einer verlorenen Abwehrschlacht:

Nicht so schlimm wie bei Karl Theodor zu Guttenberg seien die Zitierfehler der Ministerin, hieß es zuerst. Das stimmt, und taugt als Entschuldigung doch wenig. Schlimmer geht’s immer. „Weniger schlecht“ wird trotzdem nicht „gut“.

Eigenplagiate, erfuhr die staunende Öffentlichkeit, habe Schavan begangen: sich selbst zitiert und das verschwiegen. Netter Versuch. Was nach intellektueller Selbstbefriedigung und akademischer Krümelklauberei klingt, war letztlich aber nicht der Grund des Anstoßes. Nach Ansicht von Prüfer Stefan Rohrbacher ist in Schavans Arbeit die Absicht des Plagiierens unübersehbar. Einerseits werde Sekundärliteratur so zitiert, als habe die Autorin die Original-Werke gelesen. Andererseits werde zusammenfassend indirekt referiert, was eindeutig von fremder Stelle übernommen und nicht gekennzeichnet wurde.

Fachfremd sei der Gutachter, wurde gegen die Expertise Rohrbachers argumentiert, weil dieser Judaist sei und kein Pädagogikwissenschaftler wie Schavan. Als seien Quellen und Fußnoten in der Judaistik anders zu behandeln als in der restlichen Geisteswissenschaft.

Überhaupt „Geisteswissenschaft“: In diesem Sprengl der Wissenschaft lebe man gemeinhin viel mehr vom Vordenken anderer, hieß es zu Schavans Gunsten. Man könne mithin nicht so harte Maßstäbe anlegen, wie etwa in der Naturwissenschaft.

Verjährung wurde ins Spiel gebracht und ernsthaft diskutiert, ob nicht in Strafgesetze oder Promotionsreglement entsprechende Paragraphen einzufügen wären, damit akademische Flickschuster sich irgendwann einmal beruhigt im Lichte geklauter Titel sonnen können. Mal abgesehen davon, dass eine „Lex Schavan“ immer ein Geschmäckle hätte, es ist auch nicht wirklich plausibel, dass man ein Leben lang bei der Übergabe der Visitenkarte Renommee schindet und von verjährter Unehrlichkeit dann dauerhaft prestigeträchtigen Gewinn zieht.

Indiskretion hallte es allenthalben voll Abscheu und Empörung durch die Lande, als der „Spiegel“ vorab aus dem Rohrbacher-Gutachten zitierte. Als wäre die Botschaft eine Woche später eine bessere, angenehmere gewesen. Oder sollte da womöglich die Idee im Schwange gewesen sein, die ungebührlich harte Vermessung der Schavan-Promotion ganz verschwinden oder vor Veröffentlichung weichspülen zu lassen? Nicht doch! Besonders empört: politische Verteidiger der Ministerin.  Schließlich ist im Politik-Business das Durchstechen von Papieren, Expertisen und Pamphleten ja völlig unbekannt. Unglaublich, dass die gleichen Unsitten wie im Reichstag jetzt auch schon an einer deutschen Universität Einzug halten!

Ehrenwerter Beistand kam von den Spitzen der großen Forschungsgemeinschaften, die als Empfänger milliardenschwerer Forschungszuwendungen Schavans Doktorarbeit zwar weder gelesen noch geprüft hatten, aber sich doch vollkommen sicher waren, dass der Ministerin hier großes Unrecht widerfahre. Motto: Wir wissen auch nichts Genaues, haben aber eine Meinung. Der grundsätzliche Skandal dieser Gefälligkeitsadresse aus der Wissenschaft ist in der Öffentlichkeit gar nicht hinreichend aufgegriffen worden.

Weitere Gutachten wurden gefordert. Auch auf diese ansonsten probate Methode in Politik und Gesellschaft missliebige Entscheidungen durch Gutachter-Kriege zu vereiteln, ließ sich die Uni Düsseldorf nicht ein. Immerhin hatten mehr als zwanzig Mitglieder der jeweiligen Prüfkommissionen die Expertise Rohrbachers vorliegen und konnten Zitat für Zitat dessen Analyse nachvollziehen. Schavan selbst ließ sich mit mehr als 80 Seiten Stellungnahme ein. Das gesamte Verfahren wäre in den Ruch des Dubiosen gekommen, wären weitere Gutachten – pro oder contra – hinzugezogen worden. Eine Seite wäre immer als Besteller im Verdacht gewesen.

Damals haben alle etwas laxer zitiert. Ein Vorschlag aus der Unionsfraktion im Bundestag ging dahin, dreißig andere Arbeiten von 1980 ähnlich auszuwerten wie die von Annette Schavan. Würde dort eine vergleichbare Fehlerquote zu Tage treten, sei die Ministerin entlastet. Schon kurios, die Logik: Vielleicht sind ja noch mehr bei Rot über die Ampel gegangen – dann wäre es ok. Auch im Politischen werden die argumentativen Räume zum Verteidigen der eigenen Leute mitunter ziemlich eng. Nun ist allerdings eine Uni-Broschüre der pädagogischen Wissenschaften aus dem Jahr 1978 aufgetaucht, an der auch Schavans Doktorvater beteiligt war, und in der für äußerst penible Zitat-Regeln geworben wird. Schade eigentlich. Aber einen Versuch war es wert.

Schusselfehler hat Annette Schavan nun kürzlich im „Zeit-Magazin“ eingeräumt, könnten ihr bei der Arbeit unterlaufen sein. Voll fies, wenn die Uni dafür jetzt den Doktortitel der Ministerin verschusseln würde. An gut gemeinten „Hinweisen“ und ziemlich durchsichtigem Druck hat es jedenfalls nicht gemangelt. Da hat sich der Freundeskreis Schavan nun wirklich alle Mühe gegeben.

Freiheit für Rainer Brüderle

Februar 2, 2013

Knapp zwei Wochen Brüderle-Debatte und kein Ende in Sicht. Zeit für eine kurze Zwischenbilanz. Wer sich die volle Ladung Talkshows und Diskursbeiträge gegönnt hat, entdeckt ein verblüffendes Phänomen: Der eigentliche Vorgang des Anstoßes spielt im Grunde überhaupt keine Rolle.

Dass der FDP-Fraktionschef vor mehr als einem Jahr zu der jungen Journalistin Laura Himmelreich gesagt hat: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ ist ebensowenig Gegenstand der Debatte gewesen, wie sein Bemühen, der jungen Frau (29) seine Tanzkarte (!) beim FDP-Ball aufzudrängen. Keine Analyse, keine Bewertung, kaum eine Bemerkung wurde und wird in aktuellen Beiträgen an die Ursprungs-Episode verschwendet, die das Sexismus-Palaver in Gang setzte. Der Grund ist so einfach wie bezeichnend: Es gab schlichtweg gar keine Aufregung über das etwas altbackene Baggern Brüderles. Eine Stammtisch-Befragung in „Bild“ ist in diesem Zusammenhang außerordentlich aufschlussreich: Dass Männer sich mehr oder weniger galant an Frauen heranmachen, ist „voll normal“. Kein #aufschrei nirgends.

Das ist insofern interessant, als sich die vermeintliche „Brüderle“-Debatte sofort nach Erscheinen des „Stern“-Beitrags um übergriffige Chefs, Po-klatschende Kollegen, die Rolle der Frau in der Welt, die Quote und das Geschlechterverhältnis in der Gesellschaft schlechthin drehte und dreht. Mit anderen Worten, ob der Auslöser überhaupt beispielhaft für das Thema der großen Diskurs-Walze steht, interessierte im Grunde niemanden. Schon gar nicht „die Menschen da draußen“.

Mit anderen Worten: Eine kleine, weiblich dominierte Medien-Elite führte die Debatte, die sie immer schon mal führen wollte. Emma, und wie sie die Welt sah. Alice im Macho-Land. Ein Lehrstück in Medien-Demokratie. Und ein bedrückendes Fragezeichen an die Abbildungsschärfe medialer Wirklichkeit. Denn wie schon das Blitzlicht-Phänomen Piraten-Partei, so zeigt sich auch im Kampagnen-Hashtag #aufschrei, dass via Internet innerhalb kürzester Zeit ein Meinungs-Schwarm einen oberflächlich betrachtet, mächtigen Flash-Mob veranstaltet, dessen soziale Repräsentativität niemand so schnell prüfen kann, wie die mediale Walze rollt. Gekoppelt mit einem mehr und mehr sich verfestigenden Regierungsstil, der im Grunde nur aus politischer Wetterfühligkeit besteht, ist es ein Wunder, dass der Gesetzgeber nicht längst mit irgendeiner Kurzschluss-Handlung reagiert hat.

Denn auch bei der von Brüderle völlig losgelösten Geschlechterdebatte machte sich so gut wie niemand die Mühe, einen auch nur halbwegs belastbaren Datenuntersatz zu Übergriffigkeit, Geschlechterdifferenz und nach wie vor manifesten Rollenbildern zu bemühen. Real waren vor allem die allgemeine Ahnungslosigkeit und die gefühlte Unterlegenheit der Wortführerinnen (plus Heiner Geißler). Zwar wäre auch dieses diffuse Gefühl durchaus eine ernsthafte Betrachtung wert gewesen, es unterliegt aber weitgehend dem unausgesprochenen Hinterfragungsverbot. So, wie viele Ostdeutsche sich bis heute dagegen verwahren, dass es ihnen inzwischen doch einigermaßen gut gehen könnte, so ist der sofortige Macho-Pingback unvermeidlich, wenn man die Opfer-Rolle der Frau auch nur in Teilbereichen in Frage stellt.

Fazit: Geschlechter-Debatten haben nichts an Explosivität und Interesse verloren. Sie rational führen zu können, bleibt eine Illusion.