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(K)ein Grund zu feiern – der Sozialismus, die Einheit und wir

August 14, 2020

Corona schreibt nicht nur Geschichte, es tilgt sie auch. Mit einem Hilferuf wandte sich unlängst das deutsche Bundesinnenministerium an Abgeordnete und Mitglieder des Festkomitees 30 Jahre Deutsche Einheit: Weil wegen der Pandemie sämtliche öffentliche Großveranstaltungen zum Jubiläum entfallen, wollte man all die vorproduzierten Werbegeschenke loswerden und bot kartonweise Schlüsselbänder, Kugelschreiber, Tassen, Schals, Stirnbänder, Powerbanks und sogar weiße Frotteesocken mit dem offiziellen Logo der nun abgesagten Feierlichkeiten (einem schwarz-rot-goldenen Herz mit Aufschrift) zur freien Mitnahme an.

So skurril die Idee gewesen sein mag, ausgerechnet einen der wenigen historischen Glücksmomente der Deutschen auf Frotteesocken in sommerlichen Schlappen durch die Welt zu tragen, so tragisch ist es, dass wegen der ausfallenden Volksfeste, Foren und Gedenkmomente auch die Reflektion über 30 Jahre Einheit, Erfahrungen, Episoden und Lehren nahezu komplett im Schatten von Corona versinken. Einige seltsam monochrom besetzte Gesprächsrunden im Amtssitz des Bundespräsidenten, bei denen ein schmaler von Verlustschmerzen linksalternativer Protagonisten gezeichneter Erinnerungsstreifen kultiviert wurde, kann da ebenso wenig ein Ersatz für breiten Diskurs sein, wie die gespenstig stillen Staatsakte, die uns das Virus bereits zum 75. Jahrestag des Kriegsendes bescherte: die Vertreter der vier Verfassungsorgane Kanzlerin, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts auf einsamen Abstands-Stühlen vor der Alten Wache in Berlin dem Bundespräsidenten lauschend.

Dabei drängen sich rückblickende Reflexionen in diesen Tagen nicht nur für mich auf, der ich mein Leben etwa hälftig (plus fünf Bonusjahre) in der DDR und in Freiheit verbracht habe. Es geht da nicht um eigenwillige Deja-vu-Episoden, wie etwa im Falle der 1988 aus der DDR ausgereisten Schriftstellerin Monika Maron, die im Zuge der Corona-Krise eine „Ausreiseverfügung“ für ihr Landhaus in Mecklenburg-Vorpommern erhielt und dies mit der galligen Bemerkung kommentierte, die deutschen Binnengrenzen ließen sich offenbar konsequenter schließen als die deutschen Außengrenzen.

Es geht vielmehr um gesellschaftliche Grundströmungen der Gegenwart, die vor der Folie des versunkenen Staatssozialismus‘ durchaus mit Gewinn zu diskutieren wären und wie schon die 30. Wiederkehr der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen DDR und Bundesrepublik nahezu geräuschlos vor den Fenstern des medialen Alltagszuges am 1. Juli vorbeiflogen.

Angesichts der geradezu dominohaft ins Freie kippenden Ostblock-Länder, kam man damals um die Frage nicht herum, ob dies einfach eine glückhafte Fügung der Geschichte sei und wenn nicht, welche systemischen (Denk)Fehler zum Kollaps des vermeintlichen Realsozialismus‘ geführt hatten.

Aus meiner Sicht besteht die Ursache für den Zusammenbruch östlich des Eisernen Vorhangs nicht in erster Linie in der äußerlichen Repression, der Mangelwirtschaft oder der ideologischen Gängelung. Der Kern des Scheiterns steckt in dem (durchaus gut gemeinten) Versuch, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen und dann mechanisch planvoll herbeiführen zu wollen. Auf dem etwas wackeligen ideologischen Unterbau von Marx und vor allem Lenin sollte die ewige Konkurrenz, die Ellenbogengesellschaft, die Arm und Reich, oben und unten, sprich verschiedene Klassen hervorbringt, überwunden und durch die Herrschaft der Massen (des Proletariats) ersetzt werden. Nicht die Eliten sollten das Sagen haben, sondern der breite, werktätige Unterbau der Gesellschaft, der seine bodenständigen, quasi blaumanntragenden Vertreter in die Regierungskomitees entsendet.

Als Denkexperiment eine immerhin nachvollziehbare Idee, bei der es formal mehr Gewinner als Verlieren geben sollte. Wenn der Mensch ein ideales, solidarisches Kollektivwesen wäre, hätte der Plan vielleicht funktionieren können. Ist er aber nicht. Wer durch Tüchtigkeit seinen Vorteil suchte und in der Masse nicht marschieren mochte, musste zwangsläufig unterdrückt werden, um die große Vision nicht zu gefährden. Die egalitäre Gesellschaft als globales Ziel, dass sich auch bei machtvoller Rahmensetzung nicht einstellen wollte.

Als ich Ende der 70er Jahre in der DDR aufs Gymnasium (Erweiterte Oberschule) wechseln sollte, ging es um die Erfüllung einer Quote von Arbeiter- und Bauernkindern, damit eben nicht wie im Westen Kinder von Beamten und Intelligenz schrittweise wieder zur nichtproduzierenden Elite aufsteigen sollten. Dazu wurde der Proletariernachwuchs im gesamten Bildungszug gezielt gefördert (und die Definition von Arbeiter großzügig auch auf Staatsbedienstete und bewaffnete Organe ausgedehnt). Nur durch glückliche Fügung und freiwilligen Verzicht einer Arbeitertochter gelangte ich auf die höhere Schule. Und genau hier schlägt sich die Brücke zur Gegenwart.

Eine Quote, die damals genauso wenig funktionierte, wie die heute mit Macht angestrebte Frauenquote. Weder auf den Schulen noch beim anschließenden Studium konnten sich die Kinder der einfachen DDR-Malocher in gewünschter Zahl etablieren. Es scheiterte nicht an den materiellen Voraussetzungen – die schuf der sozialistische Staat – , es scheiterte an Elternhäusern und oft auch daran, dass Intelligenzler konsequenterweise im Arbeiter- und Bauernstaat oft schlechter bezahlt wurden als die „herrschende Klasse“.

Mit anderen Worten: Bei beiden Quoten geht es darum, eine gewünschte gesellschaftliche Verteilung sozialer Merkmale herbeizuführen, die sich auch bei massiver Förderung per Selbstorganisation nicht einstellt. Für mich gehört das zu den zentralen Erkenntnissen aus dem Zusammenbruch des Sozialismus‘: Man kann fördern und anreizen, aber man muss nüchtern analysieren, wenn vorgestelltes gesellschaftliches Ideal und Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen sind, ob das Ziel womöglich unrealistisch, ob der Weg dorthin vielleicht einfach nur länger oder ein anderer ist.

Erst nach und nach im Laufe der Nachwendejahre habe ich gemerkt, dass die Überzeugung, Ziele in erster Linie evolutionär zu erreichen, im Westen gar nicht so selbstverständlich und tief verankert ist, wie ich dies immer vermutet hatte. Offenbar sind ehedem viele durchaus zentrale Grundsätze nicht aus freiheitlich-demokratischer Erkenntnis, sondern lediglich aus der Augenblicksopposition zum Realsozialismus abgeleitet worden und stehen deshalb heute (für mich verblüffend) wohlfeil zur zeitgeist-taktischen Preisgabe an.

Es sind diese historischen Linien, die das Einheitsjubiläum durchaus auch für die politische und gesellschaftliche Gegenwart produktiv machen könnten und durch den Wegfall des eigentlich geplanten breiten Veranstaltungsteppichs zwischen Mauerfall und Einheitsfeier am 3. Oktober 2020 nun unbeleuchtet bleiben. So drängt sich der Verdacht auf, dass die egalitäre Gesellschaft ebenso eine Illusion war, wie es die beschworene Geschlechter-Parität heute ist. Dafür spricht zumindest, dass etwa bei der Wahl von Studienfächern nach wie vor starke, von klassischen Rollen geprägte Geschlechterdifferenzen bestehen, also die individuellen Lebensentscheidungen nicht dem gesellschaftlichen Wunschbild angepasst werden.

Wenn das Volk, „der große Lümmel“ (Heinrich Heine), aber trotz alljährlicher „Girls Days“, druckvoll in öffentliche Texte und Medien eingeführten Gender-Sprech und massiver Frauenförderung, schon wieder nicht den Visionen der Vordenker folgen mag, dann muss die gewünschte Realität eben verordnet werden, wie ehedem die nächst höhere Stufe des Sozialismus‘. Das ist viel weniger polemisch gemeint, als analytisch. Auch die Vermutung, dass die Verwendung bestimmter Worte und die Unterdrückung anderer das Denken wunschgemäß in einen angestrebten Zielkorridor lenke, war den Bewohnern des verblichenen Ostblocks nicht fremd.

Ich erinnere mich beispielsweise, wie Ende der 80er Jahre unser Chefredakteur der „Neuen Zeit“ von den wöchentlichen Anleitungen beim Chef des DDR-Presseamts, Kurt Blecha (gestorben 2013) mit der Botschaft zurückkam, das fortan die Vokabel „Volksschwimmhalle“ (nebst anderen Komposita mit „Volk“) nicht mehr zu verwenden sei. Der Grund: Sie insinuiere, dass es außer dem Volk noch etwas anderes oder gar eine Hierarchie geben könnte. Massiven Ärger hatte ich bereits in der Grundschule, als statt des progressiv konnotierten Wortes „Kampuchea“ für die Mörderbanden des Pol Pot, das im West-Rundfunk gebräuchliche „Kambodscha“ verwendet und mich schließlich mit „Rote Khmer“ völlig entlarvt hatte.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob derartigen Erscheinungen von einem repressiven Staatssystem ausgehen oder unter den Bedingungen der Freiheit im Kräftespiel der politischen Ideen hervorgebracht werden. Die auffällige Ähnlichkeit der Erscheinungen und deren offenkundige Erfolglosigkeit beim Hervorbringen gewünschter gesellschaftlicher Verhaltensmuster, darf aber durchaus zu denken geben. Es ist eine Art Rückwärts-Denke: Da das Ziel (weil zweifellos gut), nicht zur Disposition stehen kann, das vertrackte Volk bei freiem Willen sich dem aber nicht annähert, müssen die Zügel administrativ angezogen werden. Offenbar erliegen damals wie heute viele der Vorstellung, dass aus Wunsch zwingend Wirklichkeit werden müsse und kommen nicht auf die Idee, dass eine homogene, nach zahlenmäßigem Anteil sozialer Merkmale repräsentative Gesellschaft nicht nur lebensfremd, sondern sogar gefährlich ist, wenn man sie mit administrativem Furor herbeiführen will.

Dabei sind Parität und Gender-Sprech nur ein kleiner Aspekt, der im Rückblick auf Wende und Einheit nachdenklich macht. Die nachträgliche Säuberung von Geschichte, der Sturz von Denkmalen und die Umbenennung von Straßen und Gebäuden nach heutigen moralischen Reinheitsvorstellungen – all das muss man zwar nicht gleich mit Stalins Gruppenbildern assoziieren, auf denen die Retuscheure mit fortschreitender Raserei des Diktators immer weniger Gruppe übriglassen durften. Aber die zum Teil bis heute sichtbare Inflation an Karl-Marx-Straßen, Lenin-Alleen oder Ernst-Thälmann-Plätzen im Osten zeigt doch, wie zeitgeistgetrieben, untauglich und sinnlos der Versuch ist, alles misstimmige aus dem kollektiven Gedächtnis drängen zu wollen. Das Leben mit und im Wissen um die menschliche Widersprüchlichkeit und moralische Fehlbarkeit ist wichtiger und produktiver für offene Gesellschaften, als das ahistorische Planieren des und der Gewesenen.

Und noch ein Effekt ist vor dem Hintergrund des Jubiläums interessant: Die Verwechslung des Europäischen Ideals mit den Wegen und Mitteln zu seiner Erreichung. Es gehörte zu den Dauerphänomenen im Osten, dass die Kritik an konkreten Alltagsmissständen augenblicklich als Infragestellung des Sozialismus‘ in seiner Existenz und als Ziel gegen einen verwendet werden konnte. Ein Kniff, der selbst (partei)treue Sozialisten rasch zu Feinden und Dissidenten umzuetikettieren erlaubte und heute in vielerlei Bezügen wieder anzutreffen ist: Wer die Quote für untauglich hält, ist Frauenfeind, wer die Homo-Ehe nicht verficht, homophob, und wer auf innereuropäische Bruchlinien und fatale Mechaniken zur Vertiefung der europäischen Integration hinweist, stellt angeblich die Vision des geeinten Kontinents insgesamt in Frage.

Ein Reflexbogen, der mich immer verwundert hat. Je intensiver man ein Ziel anstrebt, desto wichtiger ist doch der nüchterne, ungeschönte Blick auf die Tatsachen, um sich nichts vorzumachen und der Gefahr idealistischer Hohlraumkonservierung zu entgehen.

Und schließlich lohnt im 30. Jahr nach Wende und Einheit ein weiteres Phänomen der Betrachtung: die raffinierten Formen des Entstehens von Konformität unter den Bedingungen der freiheitlichen Gesellschaft. Versuchte der reale Sozialismus ehedem, den mentalen wie gesellschaftlichen Gleichschritt mit Repression, Angst, Bespitzelung, Entzug und Zuteilung von Lebenschancen zu erzwingen, so fügen sich heute relevante Gruppen offenbar einem seltsamen Sog aus Vorteil, Diskursvermeidung und wohl auch gelegentlicher Gedankenlosigkeit.

Als im Zuge von Corona auch politische Spitzengremien notgedrungen zu Videokonferenzen übergingen und damit (ohne ins Detail gehen zu wollen) auch journalistischer Nachverfolgung neue Möglichkeiten des Einblicks in interne Abläufe lieferten, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass sich ein gewisser devoter Gestus offenbar über die Zeiten gerettet hat. Selbst kritische Geister, die in der öffentlichen Wahrnehmung durch ihr beherztes Kontra gegen die eigene Partei- und Regierungsspitze auffallen, leiteten intern ihre Wortbeiträge mit dem Lob etwa der Kanzlerin und deren erfolgreicher Politik ein, um anschließend allenfalls mögliche Fehlentwicklungen zu bedenken zu geben. In der anschließenden Schilderung klang das dann wieder nach Pulver und Aufstand.

Man kann das als lässliche menschliche Schwäche sehen, darf aber doch zur Kenntnis nehmen, dass der Schutz der wärmenden Gruppe offenbar auch ganz ohne Repression gesucht wird, wenn man für die eigene Meinung im Grunde nichts zu fürchten hätte. Abgeordnete, die bei kritischen Beiträgen unter dem Tisch klopfen, um vom Präsidium her nicht ortbar zu sein, unangenehme Shit-Stürme, denen man sich lieber durch Wegducken entzieht, das Vorsortieren von Fakten nach Herkunft und das parteiische Delegitimieren bestimmter Quellen oder Autoren – all das sind Erscheinungen, die das Gefühl des „aufgestoßenen Fensters“ (Stefan Heym) der Wendezeit dreißig Jahre Später mitunter wieder durch ängstliche Muffigkeit ersetzt.

Nun ist Klagen schon traditionell des Ossis liebstes Geschäft. Deshalb sei hier nicht wehleidiger Miesepetrigkeit das Wort geredet, sondern der große Schritt von damals in die Freiheit gewürdigt, der das ungehinderte Referieren eben auch solch seltsamer Analogien erst möglich machte. Denn auch das Einfordern von Optimismus („Wo bleibt das Positive?“) und die Neigung, dass Kritik ausschließlich „konstruktiv“ zu sein habe, sind Reflexe, die sich gut über die Zeiten gerettet haben.

Ralf Schuler (geb. 1965) in Ost-Berlin ist Leiter der Parlamentsredaktion von BILD. Zuletzt erschien sein Buch „Lasst uns Populisten sein“ im Herder Verlag

(Dies ist die ungekürzte Fassung eines Gastbeitrags, der am 11. August 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.)

Aber gepflegt: Spahn, Islam und lange Haare

April 7, 2018

Mit gesellschaftlichen Debatten ist es wie mit Nietenhosen, Beat-Musik und langen Haaren: Wer Protest-Posen mit gönnerhafter Herablassung die bürgerliche Blümchen-Kittelschürze wohlmeinender Einhegung überstreifen will, macht sich lächerlich. Ich habe ja nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein…

Müssen sie nicht.

Und Debatten über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland, die Politik und die Zukunft des Landes dürfen auch das sein, was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), „folgenlos“ nennt. Denn erstens stimmt es nicht, dass dieser Diskurs „folgenlos“ wäre, weil er klärt und erklärt, und seien es die Fronten. Zweitens sind Debatten das täglich‘ Brot der Demokratie. Drittens sind wir nicht mehr in der DDR, wo Diskussionen – wenn es denn überhaupt zu den Weisungen von Partei- und Staatsführung noch weitere (Wider)Worte geben musste – ausschließlich im realsozialistischen Sinne „konstruktiv“ zu sein hatten oder gar nicht. Und viertens schließlich wären allen Disputanden nichts lieber, als dass ihr Beitrag Folgen hätte: Die einen wollen, dass sich was ändert, die anderen nicht.

Das gilt auch für Kommentatoren, die dem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorwerfen, mit seinen Wortmeldungen zu Hartz-IV oder dem Gefühl vieler Bürger, der Staat könne oder wolle sie nicht mehr schützen, illegal über die Grenzen seines Ressorts gewandert zu sein. Besonders drollig wirkt dieses Argument, wenn es von uns Journalisten kommt, die wir uns ja per se allzuständig fühlen und gern überall mitreden. Nicht auszudenken, da wollte sich wer erdreisten, Fachkundeprüfungen einzuführen oder Berechtigungsscheine auszuteilen! So frustrierend es mitunter sein mag: Wir dürfen das, und Jens Spahn darf es auch. Als Bürger, Politiker und Mensch.

Wenn dieses Land freiheitlich und demokratisch bleiben soll, braucht es vermeintlich „folgenlose“ Debatten ebenso, wie vermeintlich „nicht hilfreiche“ Bücher und streitbare Politiker. Denn in Wahrheit sorgen sich die Einwender nicht um das Ressortprinzip innerhalb der Bundesregierung, sondern ihnen passt schlicht die vorgebrachte Meinung nicht. Am schönsten ist in diesem Zusammenhang der beliebte Hinweis, das nütze doch alles nur der AfD. Motto: Wenn Wahrheit dem Falschen nützt, bleibt sie besser unausgesprochen. Ansonsten ist Widerlegung des Gesagten die bessere und eigentlich naheliegende Gegenwehr. Seltsam nur, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, Debatten abwürgen zu wollen, weil sie vermeintlich FDP, Linken oder Grünen nützten.

Ein gutes Beispiel für das Umgehen nicht mit dem Diskurs, sondern um ihn herum, sind die Einlassungen zur „Erklärung 2018“, die sich häufig um die Unterzeichner, die „neue Rechte“ aber nur selten um den im besten Sinne inklusiv überschaubaren Inhalt drehen. In dem nur 33 Worte umfassenden Text wird ein Ende der „illegalen Masseneinwanderung“ gefordert, was eigentlich niemanden aufregen dürfte, weil Illegales zu unterbinden in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Der einzige argumentative Versuch, mit der Erklärung umzugehen, ist regelmäßig der Verweis darauf, dass die Migrantenzahlen ja schon deutlich zurückgegangen seien. Das stimmt. Doch noch immer kommen rund 15 000 Menschen monatlich nach Deutschland, ein großer Teil davon illegal (z.B. über sichere Drittstaaten). Mehr als 20 000 Illegale wurden 2017 bei der widerrechtlichen Einreise an Deutschlands südlichen Grenzen aufgegriffen, rund 3000 (auf Grund der verschärften Grenzsicherung in Skandinavien) im Norden. Die Logik, man solle sich nicht so haben, schließlich werde inzwischen ja deutlich seltener Recht gebrochen, wird aber niemand ernsthaft akzeptieren wollen. Die Autoren der Erklärung mahnen mithin Selbstverständliches an. Dass sie das müssen, ist der Skandal!

Eine ganz andere Frage, an die sich derzeit freilich niemand heranwagt, lautet: Ist die von der GroKo vereinbarte jährliche Migrationsquote (puh, nur nicht „Obergrenze“ sagen!) auch dann noch verkraftbar, wenn schon mehr als 1,5 Mio. Migranten aus 2015/2016 im Land sind? Die 200 000 Zuwanderer pro Jahr sind eine Erfahrungsgröße aus der Nachwendezeit, die nur sechs Mal erreicht wurde und sich dabei bislang als unproblematisch erwies. Zum Vergleich: 1,5 Mio. Menschen leben in Köln und Essen zusammen, eine Stadt wie Kassel (rd. 200 000 Einwohner) käme jährlich hinzu. Die Metapher einer Stadt ist dabei durchaus passend, denn der allgemein geltende Anspruch besteht ja darin, jeden mit Job, Wohnung, sozialem Umfeld, Schulen, medizinischer Betreuung etc. zu versorgen.

Illusion Integration

Und weil wir gerade dabei sind: Die schönen Reden über die Anstrengungen für mehr Integration sollten wir uns dabei ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Wer gezählt hat, wie oft die neue, in Berlin-Neukölln erprobte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) bei Maybrit Illner die Wendungen „ich wünsche mir“, „wir brauchen mehr“ oder „wir müssen dafür sorgen, dass“ verwendet hat, der ahnt zumindest den Grund: Integration wird auch in Zukunft in Deutschland Glückssache bleiben und vom individuellen Willen des einzelnen Migranten abhängen. Integrations- und Deutschkurse sind ein rührender Versuch des Verwaltungsstaats, mit seinen Mitteln zu befördern, was er in Wahrheit nicht befördern kann. Unser freiheitliches Staats- und Rechtswesen ist bis in die letzte Ecke mit Abwehrrechten der Bürger gegen die Bevormundung durch den Staat ausgestattet. Jeder einzelne von uns würde sich dagegen verwahren, wollten ihm Behörden in die persönliche Lebensweise hineinreden. Mit welchem Recht wären an Migranten andere Maßstäbe anzulegen?

So kommt es zu der absurden Konstellation, dass Aktivisten alljährlich gegen das aus christlicher Kulturgeschichte hervorgegangene Tanzverbot an Karfreitag aufbegehren, aber sich in jede Bresche werfen würden, um verhüllende Kleidungsgebote des Islam als individuelles Recht und gelebte Religionsfreiheit zu verteidigen. Unter libertären Gesichtspunkten ein konsequenter, sympathischer Zug: Die einen wollen tanzen, die anderen Kopftücher und archaische Geschlechterrollen, beide sollen es bekommen. Für das organische Einwachsen von Migranten in unsere Gesellschaft freilich ist das schlicht kontraproduktiv. Das Ausleben einer antiwestlichen, islamischen Gegenkultur mit Ablehnung von Säkularität und autoritärem Verständnis von Staat und Religion wird so geradezu unter den Schutz unserer freiheitlichen Ordnung gestellt.

Die einzige gangbare Alternative dazu findet bei uns in Deutschland allerdings ebenfalls politisch weder Akzeptanz noch Mehrheiten: Klassische Einwanderungsländer wie USA, Kanada oder Australien verfügen über ein deutlich „schlankeres“ Sozialsystem und erzwingen einen großen Teil der Integration durch materielle Interessiertheit. Die Greencard ist die Chance, wenn du sie nicht nutzt, dich nicht jobdienlich anpasst, winken Armut, Heimreise oder letzter Halt in landsmannschaftlicher Seilschaft, nicht selten kriminell. Aber Migranten integrativ „aushungern“? Der Aufschrei wäre in Deutschland programmiert. Der stetige Zulauf zu schon jetzt oft prekären Migranten-Milieus wird das integrative Scheitern weiter beschleunigen.

Grund und Gegenstand genug für jede Menge Debatten. Nie waren sie so wertvoll wie heute.

Mission Berlin – wie die Kirchen um ungläubige Hauptstädter ringen

Juli 30, 2013

(Der illustrierte Beitrag erschien in der Zeitschrift „Credo“)

Christoph Telschow hat das ganze Trauerspiel in seiner Kladde. „Am 4. Januar waren zwei Leute hier, am 11. Januar schaute einer vorbei, am 18. kam niemand…“ Woche für Woche rutscht sein Finger in den Spalten nach unten durch das Frühjahr 2013. Jeden Freitag von 16 bis 19 Uhr hat die „Eintrittsstelle“ der Evangelischen Kirche im Berliner Dom geöffnet. Wenn sich ein einziges Schäflein in das holzgetäfelte Zimmer der Hohenzollern-Kirche verirrt und wieder offiziell evangelisch werden möchte, dann war es ein guter Tag. Es gibt auch viele andere Tage“.

Dabei könnte es so einfach sein. Vier „Eintrittsstellen“ hat die evangelische Kirche in Berlin. Wer Taufschein, Konfirmationsurkunde und im Falle von Wiedereintritten die Austrittserklärung mitbringt, ist sofort wieder DRIN in der Kirche. One-Stop-Agency nennen Unternehmensberater solche Kinderleicht-Büros, wo man ohne langen Papierkram und Bürokraten-Marathon seine Dinge erledigen kann. Dass sich bei Christoph Telschow trotzdem keine Schlangen vor der Tür bilden, hängt allerdings auch damit zusammen, dass sich viele Neuchristen an die nächste Kirchgemeinde wenden, anstatt die zentralen „Eintrittsstellen“ anzusteuern. Aber bezeichnend für die Situation der beiden großen Kirchen ist die Einsamkeit des pensionierten Superintendenten in seinem Büro schon.

Leise dringt die Orgel aus der kleinen Tauf- und Traukirche des Doms herüber. Eine Hochzeitsgesellschaft blickt verkrampft auf die Gesangbücher, Karpfenmünder mit musikalischer Begleitung: „Freuet euch im Herren allewege“.   Wenn es um die Absicherung einer ungewissen gemeinsamen Zukunft geht, greift man gern auf das Alte zurück. Oder aus praktischen Gründen: „Die meisten kommen, weil sie einen Job in einer kirchlichen Einrichtung antreten und nun wohl oder übel einer Kirche angehören sollten“, sagt Christoph Telschow. Vor ihm auf dem Tisch ein Keramik-Engel, eine Kerze, traurige Tulpen. „Oder es sind Zugezogene aus den alten Bundesländern, die sich in Berlin noch nicht so auskennen und sich an die christlichen Wurzeln ihrer Kindheit erinnern. Bei manchen ist es auch die Heirat mit einem christlichen Partner, Geburt eines Kindes oder ein anderer Einschnitt, der den Glauben wieder belebt.“

Ossis kommen kaum. Während sie draußen Tellermützen von DDR-Grenzern und Rotarmisten aus taiwanesischer Billigproduktion verhökern, blickt Telschow drinnen einsam über die religiöse Trümmerlandschaft, die der leider ehedem reale Sozialismus hinterlassen hat. Vierzig Jahre DDR haben gereicht, um bei vielen die Wurzeln völlig zu kappen. Telschow weiß, wovon er spricht: Im östlichen Plattenbaubezirk Hohenschönhausen gab es zur Wende knapp sechs Prozent Christen, im eher bürgerlichen Weißensee, Telschows früherer Wirkungsstätte, rund zwölf Prozent.

Doch der Sozialismus erklärt nicht alles. Auch in West-Berlin, dem einstigen Mekka bundesdeutscher Kriegsdienstverweigerer, wachsen heute die Revoluzzer-Kids der 68er Eltern mit einem vitalen Desinteresse an Kirche und Glauben heran. Eher finden sie ihre spirituelle Erweckung in einem indischen Ashram als sich mit einem dreifaltigen Gott zu beschweren, der so uncool nach Alt-Deutschland riecht, von konservativen Parteien gepflegt wird und selbst im App-Store von Apple nur mit kreuzlangweiligen Geschichten von vor 2000 Jahren daher kommt. Überhaupt ist das mit dem Glauben heute so eine Sache. Manche glauben, dass Öko-Strom die Lösung und Atomkraft des Teufels sei, andere klappen ihr Laptop auf wie einen Hausaltar, gründen die Piraten und halten das Internet für die Erlösung 2.0. Kein Wunder, dass es irgendwie old-school wirkt, zur Andacht in ein altes Backsteinhaus mit Turm zu gehen, das nicht mal WLAN hat. Existiert ein Gott, der nicht bei Facebook ist? Oder anders gesagt: Ich glaube gern mal, wenn’s passt – aber deshalb gleich Mitglied werden? Auch eingetragene Kegelvereine gibt es immer weniger in Berlin.

„Berlin ist längst keine christliche Stadt mehr“, sagt Ernst Pulsfort, Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Berlin und Pfarrer in St. Laurentius. „Allenfalls noch auf dem Papier.“ Gehörten nach letzten Erhebungen (2011) bundesweit mehr als 60 Prozent der Deutschen einer der großen Kirchen an, so ist es in Berlin genau umgekehrt: In der Hauptstadt sind 60 Prozent konfessionslos. Christen machen nicht mal ein Drittel aus. Einzig die Zahl der Muslime wächst und dürfte bereits die Zehn-Prozent-Marke der rund 3,4 Mio. Berliner überstiegen haben. Ihre strenge Religiosität wird als multikulturelle Besonderheit besonders geschützt, da ziehen eingefleischte Atheisten auch schon mal gegen „Islamkritiker“ zu Felde.

Doch auch der Berliner Senat unter dem Regierenden Katholiken Klaus Wowereit (SPD) macht es den Kirchen nicht leicht. Als 2009 der Volksentscheid über Religion („Pro Reli“) als Wahlpflichtfach an Desinteresse und Ablehnung der Berliner scheiterte, ging der Senat einfach zur Tagesordnung über, obwohl die von den bürgerlichen Parteien, Kirchen, Prominenten und sogar jüdischen und muslimischen Verbänden unterstützte Bewegung eine beeindruckende Mobilisierung für Glaube und Bekenntnis an den Tag brachte. Seitdem ist es so gekommen, wie die Pro-Reli-Unterstützer damals befürchteten. In den Klassen 7 bis 10 ist Ethik Pflichtfach, wer den Religionsunterricht besuchen will, findet sich irgendwann nachmittags zur achten Stunde als kleine Exoten-Truppe unter der Häme der anderen zusammen, die dann schon frei haben. Hinzu kommt, dass der Übergang zu flächendeckendem Ganztagsschulbetrieb auch den Besuch des Konfirmandenunterrichts immer schwieriger macht. Sohn Julius musste unlängst eine Bestätigung des Pfarrers vorlegen, dass es sich um eine außerschulische Arbeitsgemeinschaft von mindestens zwei Wochenstunden handele, für die er ausnahmsweise von der Nachmittagsbetreuung befreit werden könne. Der Direktor ließ es generös durchgehen.

Diaspora Berlin. Wer durch die Kieze der Hauptstadt reist, durch Szene-Bezirke, Shopping-Meilen und Zonenrand, der trifft auch die anderen: Hauptamtliche, die Glauben und Leidenschaft noch nicht verloren haben, Laien, die einfach anpacken, wo es Not tut und Überzeugungstäter, die eine christliche Navigationssoftware für ein unerlässliches Update halten im Leben.

„Natürlich versuche ich zu missionieren“, sagt Pfarrer Pulsfort. „Hier können Sie katholisch werden. Es ist viel einfacher als sie denken!“ steht auf einem Poster im Aushang seiner Gemeinde in Berlins Mitte, nicht weit vom Kanzleramt. „Ich will den Menschen die Ängste nehmen vor der Institution Kirche. Die Menschen unterscheiden sehr zwischen Kirche und Glauben.“ Damit trifft er wohl den Kern des Problems: Hauptfeind der Kirchen ist häufig die Kirche.

„Die kirchliche Sexualmoral ist meilenweit von der Realität entfernt“, meint Ernst Pulsfort. Kein Einwand, den man noch nirgends so gehört hätte. Doch der Pfarrer und Buchautor sieht auch keine theologisch tragfähige Begründung für viele Dogmen zum Sex-Leben. „Heute ist alles transparent, durchsichtig, auch die Kirche und das Leben ihrer Würdenträger. Überzeugen können wir aber nur mit authentischen Personen und lebensnaher Lehre.“ Wo immer mehr Katholiken ihre Distanz zu Rom als Ausweis persönlicher Glaubwürdigkeit in den Vordergrund stellen, nimmt die Gemeinschaft schaden. „Die beste Kampagne ist jeder Einzelne.“

Dabei weiß er sogar seinen Erzbischof, Rainer Maria Kardinal Woelki, an seiner Seite: „Jede und jeder Einzelne ist durch Taufe und Firmung aufgerufen und befähigt, Zeugnis zu geben von der erlösenden Kraft des Glaubens. Ich sehe meine Aufgabe darin, dazu zu ermutigen: Ich traue Euch das zu, Ihr könnt das und Ihr dürft das!“ Problem erkannt, Herausforderung der weltlichen Konkurrenz angenommen? Woelki: „Schon die Einsicht, dass wir kein Monopol haben für Sinn, Transzendenz und Werte, ist ein wichtiger Schritt. Das Wort ,Konkurrenz‘ würde ich nicht verwenden, aber wenn, dann ,belebt sie das Geschäft‘.“ Soll heißen: Wir müssen besser werden, neue Wege suchen. Eine Einsicht, die nicht überall zu finden ist in den Amtsstuben der Kirche. Denn auch über die Ursachen des negativen Christen-Saldos reden Würdenträger – politikergleich – nicht gern. Wer zugibt, dass er ein Problem hat, bekommt größere. Woelki dagegen spricht Klartext: „Am problematischsten finde ich die, die nicht mehr suchen, die keine Fragen haben, die sich nicht auf den Weg machen. Die können wir überhaupt nicht erreichen.“

 

Cecilia Engels gehört zu denen, die sich damit nicht abfinden wollen. Irgendwo tief drinnen, glaubt sie, weiß jeder, dass wir nicht aus uns selbst heraus leben, dass da eine größere Kraft ist, die uns hält. Mancher ahnt es zumindest. Und um diese Nachdenklichen geht es.  Ausgerechnet in Berlin-Kreuzberg, wo Linke und Muslime längst ihre eigenen Hochämter feiern. Ausgerechnet in einer Samstagnacht, wenn sich die Großstädte des Westens auf der dunklen Seite der Welt ins Vergnügen stürzen. Ausgerechnet hier in St. Bonifatius, wo wummernde Bässe aus tiefergelegten 3er-BMWs die Yorkstraße entlang pumpen und erfolgreich die Abendstille bekämpfen. Ausgerechnet hier hat Cecilia Engels mit einigen Mitstreitern Transparente und Fahnen auf den Gehweg gezogen, um Passanten zum „Night Fever“ in die Kirche einzuladen.

 

Was dem Namen nach wie ein Cover-Musical mit dem flirrenden Glitzersound der Bee Gees klingt, ist in Wahrheit eine Aktion, die 2005 vom katholischen Weltjugendtag in Köln ausging und inzwischen in ganz Deutschland, ganz Europa und sogar schon in Nordamerika junge Leute zu zwanglosen Andachten in die Kirchen zieht. Drinnen in St. Bonifatius stehen kleine Lichter an den Kopfseiten der Bänke zu beiden Seiten des Mittelgangs. Eine warm flackernde Landebahn für die Seele, die vorn am Altar bei der Monstranz mit der geweihten Hostie ausläuft. „Laudate omnes gentes“ singt ein kaum sichtbarer Chor im Seitenschiff. Ein Hauch von Taizé mitten in Kreuzberg. Und das Wunderbare: Es wirkt.

 

Irgendwann schieben sich unsichere Gestalten durch den Mittelgang. Manche mit Rucksäcken, mit dicken Kopfhörern, Taschen und Tüten. „Christus, dein Licht erstrahlt auf der Erde“. Flöte und Gitarre mischen sich mit dem leisen Ächzen der Bänke, steigen auf im Dämmerlicht des Gewölbes, das in dieser Samstagnacht einen Menschenraum im Erdendunkel freilässt. „Es geht nicht in erster Linie um den Eintritt in die Kirche“, sagt Cecilia Engels leise. Ob die nächtliche Laufkundschaft die Gegenwart Christi in der Monstranz selbst erkennt und erlebt, weiß die promovierte Meeresbiologin nicht. „Es geht darum, verschüttete Erinnerungen wieder hervorzuholen, vielleicht einen Faden von Besinnung und Suche wieder aufzunehmen, der bei vielen noch immer lose daliegt.“ Glaube first, wen die Jesus-Geschichte dann nicht mehr loslässt, der kann sich mit Fragen an Priester wenden, die unauffällig am Rande dabei sind.

 

Katharina Hohenstein (Name geändert) ist so eine, die Fragen hatte. Mit Mitte 30 merkte die promovierte Chemikerin, dass etwas fehlte. Familie, Kinder, Erfolg – aber warum das alles und wozu? Mit 36 ging sie in die Christenlehre, ein Jahr später ließ sie sich taufen, trat in die Kirche ein. Wegen einer Sinnkrise? „Nein“, sagt Katharina Hohenstein, „aus Berechnung.“ Einen Augenblick genießt sie die Verblüffung, lacht. „Wenn man in der Geometrie auf einer endlosen Geraden einen Punkt festlegen will, braucht man einen Orientierungspunkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, sonst geht es nicht. So ist es auch bei uns Menschen. Es ist ein Unterschied, ob ich IHM gegenüber Rechenschaft ablege oder mir gegenüber. Ich selbst neige mir gegenüber zur Großzügigkeit.“

 

Genau das ist der Punkt, an dem der evangelische Bischof Markus Dröge die Menschen abholen möchte. „In einer Zeit, in der Bindungen mehr und mehr verlorengehen, wächst die Sehnsucht nach Verbindlichkeit.“ Das Problem: Menschen wie Katharina Hohenstein, die sich mit offenem Herzen und wachem Verstand in die großen Kirchen zurückgrübeln, gibt es zu wenig, um den Strom der Kirchensteuervermeider und Wellness-Religiösen auszugleichen, die jeden Monat austreten. Aber Dröge hofft, dass Leute wie Katharina Hohenstein ausstrahlen auf andere. Ehrenamtliche Mission im Schneeballsystem sozusagen: „Wir laufen nicht mit dem Megaphon durch die Straßen. Jeder der selbst überzeugt ist, überzeugt auch andere“, sagt er.

Während bei vielen Katholiken die Freiburger Rede von Benedikt XVI. noch nachhallt, in der er „Entweltlichung“, Rückbesinnung auf Seelsorge und Verkündigung gefordert hatte, gehen Berlins Protestanten geradezu in die Welt hinaus, erklärt Dröge: „Wir setzen da andere Akzente. Wir glauben, dass gerade die ,Treue zur Welt‘, das ,Kirche für andere sein‘ (Dietrich Bonhoeffer) die Hemmschwelle überwindet, die es oft gegenüber der Institution Kirche und ihrer Dogmatik gibt.“ 35 evangelische Schulen gibt es im Bistum inzwischen; vielleicht wächst da eine Generation heran, die wieder ganz selbstverständlich mit Religion umgeht.

Doch Illusionen macht sich auch Bischof Dröge nicht: „Im Ostteil der Stadt gibt es noch immer ein nichtchristliches Milieu, das stark von der Alltagsideologie der DDR geprägt ist. Der Glaube galt damals als wissenschaftlich widerlegt. Hier wollen wir vor allem zeigen, dass der Glaube gesellschaftlich relevant ist. Die religiöse Trümmerlandschaft des SED-Regimes zu beseitigen ist eine Generationenaufgabe.“

Roland Jacob ist dieser Ost-Berliner Trümmerlandschaft auf seine ganz eigene Weise entgegengetreten. Er hat sich kurzerhand seine eigene Kirche gebaut. Gut zehn Jahre hat der langjährige Radiologe und Chefarzt im Klinikum Berlin-Buch in seinem Garten an dem Gotteshaus gewerkelt, hat für 25 000 D-Mark den Korpus eines Holzhauses erstanden, dann nach und nach zwölf historische Bleiglas-Fenster gekauft und aufwändig restaurieren lassen. Zwischen 4000 und 5000 Euro hat das pro Stück gekostet. Ein funkgesteuertes Uhrwerk läuft im Giebel über der Inschrift „Gott ist getreu“ und stimmt morgens um neun Uhr („Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne“), mittags um 13 Uhr („Großer Gott, wir loben dich“) und abends um 18 Uhr („Weißt du, wieviel Sternlein stehen“) ein hell klingendes Glockenspiel an.

„Die Nachbarn mögen das“, sagt Roland Jacob und sieht sehr zufrieden aus. Farbiges Licht fällt durch die Fenster in den kleinen Raum, auf den weißen Marmor-Altar, vor dem der Heiland mit nach oben gefesselten Armen hängt. „Ein Holzbildhauer im südfranzösischen Roquebrune hat ihn aus einem Olivenstamm geschnitzt.“ Jacob macht keine halben Sachen. Nebenan hat er eine Tischlerwerkstatt mit modernsten Abrichten, Fräsen und Werkzeug in ordentlichen Wandkästen. Wenn die Gesundheit mitspielt, soll das Glockenspiel noch einen Apostel-Zug bekommen, wie am Rathaus in Prag.

Wie aber kommt man auf die Idee, im eigenen Garten eine Kirche zu bauen? „Ich habe in Ecuador in einem Hotel mit eigener Kirche gewohnt“, sagt Jacob. Seitdem hat ihn das Projekt nicht mehr losgelassen. 1940 in einem streng christlichen Elternhaus im Vogtland geboren, war der Mediziner später Mitglied der Block-CDU in der DDR und hat mit der Amtskirche seinen eigenen Hader: „Im Osten störten mich die Bischöfe, die mit dicken Mercedes-Karossen vorfuhren. Und wegen Pfarrer Gauck bin ich dann nach der Wende ausgetreten“, sagt Jacob. Der damalige Chef der Stasiunterlagen-Behörde habe ihm eine IM-Täterschaft nachweisen wollen, die er nicht hatte. Darüber gibt es inzwischen ein Gerichtsurteil. Der Frust sitzt noch immer tief. Inzwischen ist Roland Jacob wieder in die evangelische Kirche eingetreten – und hat ein anderes Problem: Die örtliche Kirchengemeinde schickte argwöhnische Emissäre, um die vermeintliche Konkurrenz in Augenschein zu nehmen.

Die Furcht war unbegründet. Roland Jacob ist kein Kampfprediger, Spinner oder gewinnorientierter Glaubensstifter. Er sehe sich und sein Kirchlein eher als Ergänzung, sagt Jacob und hat auch schon eine kleine Reihe mit Lesungen und Musik geplant, die er gemeinsam mit der Gemeinde veranstalten will. Vor gut einem Jahr ist sein Gotteshaus sogar offiziell eingeweiht worden, und eine „Privatkirche“ will er auch nicht gründen. Aber auch er kennt viele Leute „mit christlicher Weltanschauung, die aber mit der Firma Kirche nichts zu tun haben wollen“. Und so ein kleiner Kirchen-Rebell steckt auch in Roland Jacob. Welche Konfession sein Kirchlein eigentlich habe? „Meine!“, sagt er keck.

Und so trifft man beim Streifzug durch das christliche Berlin die kraft- und hoffnungsvollsten Missionare vor allem dort, wo die Amtskirchenstuben etwas weiter weg sind. Pater Heiner Wilmer zum Beispiel ist Provinzial der Herz-Jesu-Priester, die vor wenigen Wochen erst ihr Kloster im Szenebezirk Prenzlauer Berg eingerichtet haben. „Die Leute stellen heute ganz andere Fragen als wir denken“, sagt Wilmer. „Ob es Gott gibt, ist für viele Menschen gar nicht die Frage. Sie wollen wissen: Was bringt mir der Glaube, was bedeutet er für mich.“ In seinem Buch („Gott ist nicht nett“. Herder Verlag) hat Wilmer sich auch kritisch selbst befragt. „Manchmal höre ich mir selbst beim Beten zu und merke, wie ich Floskeln und Palaver irgendwohin, in den Himmel, in die Dunkelheit schicke. Seltsamerweise erträgt Gott das.“ Eine Diagnose, die in seinen Augen auch auf den Zustand der großen Kirchen passt: verflachte Botschaften, abgestoßene Kanten, kein Gesicht.

Sein Fazit: „In den großen Kirchen sind wir abgerutscht und reden viel zu oft über Moral und Strukturen. Zölibat, Frauenpriestertum, Homo-Ehe – das sind alles Nebensätze. Unser Hauptsatz ist in Wahrheit aber das Evangelium Jesu Christi, es ist keine Moral, sondern Erlösung, das Wachsen als Mensch im Glauben.“ Und so ist Pater Wilmer auch im mondänen „Prenzelberg“ mit seinen Öko-Kitas und Bio-Läden als Ersatzreligion nicht verzagt. „Die Menschen wollen nicht belehrt werden, aber sie haben einen natürlichen Sinn für die Tiefenbohrungen des Lebens.“ Deshalb wollen die Herz-Jesu-Priester einfach im Namen Gottes für die Menschen da sein, Begegnungen in der Kirche: „Zusammenkünfte für Schwangere, für Menschen, die gerade Prüfungen ablegen, für Kinder mit ihren Haustieren…“

Er gerät fast ein wenig ins Schwärmen vor lauter Vorfreude auf all die Zusammenkünfte, Andachten, lebensvolle Liturgie. Schwärmen für die Menschen, Schwärmen für den Glauben, Schwärmen für Gott. In einer Stadt wie Berlin nicht das Schlechteste.

Ossi-Peer und die SED

Juli 3, 2013

Man kann ihm nicht vorwerfen, nicht wenigstens alles versucht zu haben. Im Interview mit der „Zeit“ (4. Juli 2013) hat SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück jetzt auch den Verständnis-Ossi gegeben. Zum Beispiel für SED-Mitglieder. Im Grunde, meint Steinbrück, waren Genossen eine Art DDR-Folklore, so ein echtes Stück Gemütlichkeit Ost: „Das geschah oft mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, und zwar derselben, mit der man in Bayern in die CSU eintrat oder im Ruhrgebiet in die SPD.“

Sah das vom Westen aus tatsächlich so aus? Hattet ihr von den Aussichtsplattformen an der Mauer diesen Eindruck vom Funktionieren des SED-Regimes? Waren all die Aufmärsche und Paraden in euren Augen ein ausgelassenes Schuhplattler-Äquivalent mit Fahnen, Fackeln und Fanfaren?

Nun gibt es auch für Interview-Situationen wie diese eine goldene Regel von Dieter Nuhr, die im Zweifelsfalle noch immer weitergeholfen hat: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal sie Fresse halten!“ Aber Lila-Laune-Peer, weiß eben auch, wie das so war, damals im Osten. Wie bei der CSU. Nur ohne Lederhosen. Es sind Situationen wie diese, in denen man gern Gernot Hassknecht wäre, Steinbrück gegenüber stehen möchte und den Mundgeruch von Shrek haben: „JA HAT DIR DENN EINER INS GEHIRN GESCH…..!“

Hast Du, bestbestallter Vortragsreisender, eigentlich jemals einem Parteisekretär gegenüber gestanden?! Einem Mental-Zwerg in Polyamid-Anzug mit dem SED-Bonbon am Revers, der dir mit einem dummen Spruch in der Beurteilung oder einer klitzekleinen Weitermeldung das Leben ruinieren konnte? „Diskutiert destruktiv, steht nicht auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse…“

Nein, hast Du nicht, also rede auch nicht so einen Klugscheiß daher, den Dir irgendwer mal erzählt hat, der ehedem Bestzeiten im Mitlaufen bei der Bezirksspartakiade in Dessau errungen hat! In die SED gingen die 125%igen, Ideologen, Hetzer und Vordenken-Lasser. Und es gingen mindestens ebenso oft jene hinein, die einfach Angst hatten um ihre Familie, um ihren Job, Angst aufzufliegen mit ihrem geheimen Abkotzen über den Lauer- und Bekenntnisstaat. Nein, lieber Peer, das war nicht witzig, kein fröhliches Brauchtum im Politbüro-Stadl. Keine lässliche Vereinsmeierei, sondern die Indienstnahme der Gedankenlosen und die Erniedrigung der Ängstlichen. Systemparteien war vor 1945 nicht komisch, und sie waren es nach 1945 nicht.

Muss man dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokratie 23 Jahre nach dem Ende der DDR ernsthaft erklären: Dass man aus der CSU noch immer ohne Schaden austreten konnte? Dass sich gar die Freien Wähler von den Christsozialen abgespalten haben und die CSU zu freien Wahlen antritt, theoretisch sogar abwählbar ist (wenn man nicht gerade Christian Ude aufstellt)?! Diese SED-Leute, haben nach 1945 Deine Genossen drangsaliert, Peer, und verhöhnen Euch bis heute, wenn sie es „Elemente von Zwang“ bei der Zwangsvereinigung zur SED nennen. Wer gedankenlos in die SED eintrat, wurde vom System inhaliert, missbraucht, zu einem Rädchen, das andere zermahlte. Wer für die SED „geworben“ wurde und sich aus Vorsicht und wegen des Drucks nicht entziehen wollte/konnte, war kein zechender Bajuwar oder büttenredender Karnevals-Sozi, sondern ein Umstands-Arrangeur, dessen Würde damals durchaus antastbar, formbar war.

Wenn es denn partout der Ossi-Peer sein muss, der sein Wählerstimmen-Schleppnetz über Neufünfland zieht, dann sag‘ es in Herrgottsnamen doch grad heraus: „Es war nicht alles schlecht!“. Trainiere Dir das Sächseln von Katja Kipping an und preise das  „positives Erbe der DDR“ wie im „Zeit“-Interview, dass so viele Frauen im Osten arbeiteten. Ebenso gelte das für die bessere Kinderbetreuung. Es war eine schöne Zeit in der Produktion mit der Betriebs-Kita, wo wir schon „Kleine weiße Friedehhheeenstaube“ und den „Kleinen Trompeter“ (dieses „lustige Rotgardistenblut“!) singen konnten, bevor wir noch richtige Jungpioniere waren. Und Deine Kompetenz-Schattenministerin Manuela Schwesig, die den rhetorischen Charme einer Grundorganisationsleiterin (GOL) nie so ganz wegbekommen hat, will ja auch wieder dahin zurück. Das Leitbild ist die vollbeschäftigte Frau, hat sie kürzlich verkündet. Wir brauchen sowieso viel mehr Leitbilder. Wie gut, dass rund um das „Haus des Lehrers“ in Berlin noch die Mosaike vom SED-Maler Walter Womacka erhalten geblieben sind, und auch am Bundesministerium der Finanzen gibt es noch diesen Wandfries mit den jungen, optimistischen Werktätigerinnen, die in eine lichte Zukunft marschieren. Mit uns zieht die neue Zeit. Lieber Peer, wir danken deer.

Blender Mainstreaming

September 28, 2010

Manchmal ist da wieder diese Urangst. Andere träumen davon, nackt in der Fußgängerzone zu stehen und nicht fortzukommen. Ich sehe mich in der DDR-Schule sitzen. Wie die Lehrerin auf und ab geht und sich die Mädchen umgedreht haben: „Warum willst du der Gesellschaft nichts zurückgeben?“, fragt die Frau, die eigentlich für Deutsch zuständig ist, jetzt aber klären will, warum alle anderen Jungs als Unteroffiziere auf Zeit zur Nationalen Volksarmee gehen nur ich nicht. „Oder willst du etwa den Sozialismus nicht verteidigen?!“

Die einzige Strategie dagegen war Schweigen. Einfach nichts sagen, dasitzen wie ein menschenunwürdiger Pudel, aber eben auch nicht zustimmen. Irgendwann würde es klingeln, und man konnte rausrennen in die Straßen mit den Fahnen und den Spruchbändern, wo manche, die genauso dachten, zur Selbstverteidigung in den Hetzchor einstimmten oder einfach nur schwiegen, um nicht selbst in die Schusslinie zu kommen. Bis zur nächsten „Mitgliederversammlung“ oder dem Treffen mit Offizieren der Paten-Kaserne.

Nein, ganz so schlimm ist es heute nicht, und doch frage ich mich machmal, wie in all der Freiheit dieser Gleichschritt der Meinungen durch den Alltag marschiert, der einen wieder zum Außenseiter macht, wenn man zweifelt, dass die Mehrheit recht hat. Ein harmloses und doch bezeichnendes Beispiel ist das Dosenpfand. Dabei ist das Interessanteste an der 2003 eingeführten Abgabe in Deutschland noch nicht einmal die absurde Logik, wonach eine missliebige Verpackung in Abhängigkeit vom Inhalt zurückgebracht werden muss oder weggeworfen werden kann. Das Exemplarische des Dosenpfands liegt im nicht zu durchbrechenden Konsens aller Gutmeinenden es einzuführen. Angesichts des zwanzigsten Tages der Einheit ein schöner Anlass, sich Gedanken über die Bildung der öffentlichen Meinung damals und heute zu machen.

Dass gegen die rasante Verbreitung von Einwegverpackungen etwas unternommen werden müsse, war vor der Einführung breiter Konsens. Die heutige Kanzlerin hatte in ihrer Zeit als Umweltministerin ebenfalls damit  geliebäugelt und gedroht. Die öffentliche Debatte drehte sich im Vorfeld nahezu ausschließlich um Pro oder Contra Dosenpfand. Über die Tauglichkeit des Instruments wurde nicht gestritten. Der Autor dieser Zeilen hat die Frustration noch gut in Erinnerung, wie einsam und als gestrig belächelt man damals beiseite geschoben wurde, wenn man auf die schlichte Logik hinwies, dass ein Pfand zum Zurückbringen hinterlegt wird, nicht zum Abschrecken oder Vermeiden. Andernfalls hätte die klassische Bierflasche ja seit Jahrzehnten unter Akzeptanzproblemen leiden müssen. Heute hat Deutschland die höchste Einwegquote der Nachkriegsgeschichte, die Metalldose feiert gerade ihren Wiedereinzug in die Ladenregale, und die bepfandeten PET-Flaschen werden nach der pflichtgemäßen Rückgabe meist sofort geschreddert. Ein milliardenteurer Unfug für den Einzelhandel und ein umweltpolitischer Rückschlag erster Güte.

Beispielhaft an diesem Vorgang ist der Mainstream-Meinungsmechanismus dahinter. Unter maßgeblicher, wenn nicht gar entscheidender Mitwirkung der Medien entstehen unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft Meinungsblasen durch Mehrheiten, die von tiefergehender Sachkenntnis nicht mehr anzufechten sind. Die Liste solcher Effekte ist lang und eindrucksvoll. So verfestigte sich Anfang des Jahrtausends auf diffuse Weise der Eindruck, dass Internet irgendwie wichtig und die Zukunft sei. Das Ergebnis dieser in der Breite (und auch in den Spitzen von Medien und Wirtschaft) eher unreflektierten Euphorie war die New-Economy-Blase. Web 2.0 und „Second Life“ wurden als der Trend schlechthin ausgerufen und skeptische Nachfragen als Ausweis der Zugehörigkeit zu einer absterbenden „Nutzer-Kohorte“ disqualifiziert.

Der „Early Adopter“, der rasch alles Neue annimmt, ist nicht mehr nur eine neutrale Charakterbeschreibung jugendlicher Unbekümmertheit im Umgang mit Computern, Handys und anderem Digital-Gerät, sondern ein Positiv-Prädikat für zügiges Mitlaufen im mehrheitlichen Meinungsstrom. Nach dem gleichen Schema gilt heute die Gemeinschaftsschule als Ultimo der Bildungsmoderne – unabhängig von Rahmenbedingungen und Ausstattung. Die Liberalisierung von Ladenöffnungszeiten (von Medienleuten maßgeblich betrieben und druckvoll unterstützt) und die allgemeine Flexibilisierung der Arbeitswelt führen dazu, dass trotz vorhandener Einkommen Familienleben in immer weiteren Kreisen kaum noch zu organisieren ist und der staatliche Reparaturbetrieb Schule mit den Folgen schon lange nicht mehr klarkommt.

Trotzdem ist gegen den Mahlstrom vermeintlicher Modernität nicht anzukommen. Die „Schere zwischen Arm und Reich“ öffnet sich hierzulande seit Jahren, und es geht inzwischen sogar so weit, dass die Potsdamer Stadtverwaltung den Zuzug von Wohlhabenden als Problem beschreibt: Weil die Schere zwischen Arm und Reich sich damit weiter öffnet. Und niemand schreit auf gegen diesen Wahnsinn! Statistisch ist das richtig, in der Realität aber ändert sich für Arme nichts, außer, dass mehr Steuern reinkommen.

Femi-Sprech hat sich weitgehend durchgesetzt, obwohl im Grunde jeder weiß, dass der Satz „Frauen sind die besseren Autofahrer“ nur in dieser politisch unkorrekten Form funktioniert, weil das grammatikalische Geschlecht mit dem biologischen im Deutschen eben nicht deckungsgleich ist. Dass die derzeitige Praxis der Rentenberechnung die ostdeutschen Ruhegeldempfänger bis heute bevorteilt (wegen der künstlichen Hochrechnung der Bezüge), kann gegen den Slogan von der „Angleichung der Ostrenten“ nicht konkurrieren. In der Sarrazin-Debatte brach sich in der deutschen Medienlandschaft ein weitgehend argumentfreier Empörungsstrom bahn, obwohl nahezu alle Statistiken und wissenschaftlichen Ansätze des Noch-Bundesbankers kritischer Überprüfung standhielten. Dahinter steht ganz offensichtlich ein Weltbild von Positiv-Pädagogik, nach dem einzelne gesellschaftliche Gruppen in ihrer Problemhaftigkeit nicht benannt werden dürfen, weil sie sonst zornig werden. Selbst wenn die Fakten zutreffen.

Besieht man sich das Muster dieser völlig freien Bildung von Meinungs-Haufenwolken, so ist es ein grandioses Plädoyer für die repräsentative Demokratie: Sie sollte die großen Meinungsströme der Gesellschaft aufnehmen und mit Hilfe des Weitblicks wissenschaftlicher und anderer Eliten darüber hinaus gehen, um schließlich werbend mit den besten Lösungen in die Gesellschaft zurück zu wirken. Zu beobachten ist gegenwärtig ein eher gegenläufiger Trend der populären (und populistischen) Abgabe gestalterischer Verantwortung durch möglichst niederschwellige Bürgerbeteiligung in Form „direkter Demokratie“ und stimmungsgetriebener Standpunkt-Flexibilität (siehe „Stuttgart 21“) nach dem Motto: Wenn ich auf dem Standpunkt des politischen Gegners stehe, hat er keinen mehr. Und meinen behalte ich trotzdem. Ein Kapitän, der immer vor dem Wind segelt, kommt auch irgendwann an. Irgendwo.

Und irgendwann steht man nackt in der Fußgängerzone und kann nicht mehr fliehen. Im Vergleich zum Klassenzimmer in der DDR ist das immerhin schon ein kleiner Fortschritt.

Mythos Ostschule und ein Zentralismus-Streit

August 27, 2010

Für die „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ habe ich einen Beitrag mit dem Titel „Mythos Ostschule“ geschrieben, in dem es um die Verklärung der zehnjährigen Polytechnischen Oberschule der DDR geht, die heute von Ost-Nostalgikern gleichermaßen gepriesen wird wie von altbundesdeutschen Bildungsreformern. In meinen Augen hat das gemeinsame Lernen dort keineswegs die viel beschworene soziale Durchlässigkeit geförderte. Da in DDR-Klassenbüchern die „Klassenzugehörigkeit“ der Eltern vermerkt wurde, ließ sich das sehr konkret nachvollziehen. Positiv erwähne ich allerdings, dass – jenseits all der unerträglichen Indoktrinierung – der fächerübergreifend abgestimmte Lehrplan von Vorteil gewesen ist, weil der Stoff auf diese Weise wie eine große, geschlossene Geschichte erzählt wurde. Heute entscheidet jeder Lehrer selbst darüber, mit welchem didaktischen Ansatz er wann was vermittelt. Mit dem Ergebnis, dass irgendwann über die Atombombe gesprochen wird, zwei Jahre später über die Kernspaltung und irgendwann auch über den Zweiten Weltkrieg. Fragmentiertes Insel-Wissen, das beim Schüler kaum hängen bleibt und immer wieder neu vermittelt werden muss.

In einem großen Beitrag in der WELT beschäftigte sich Alan Posener mit den Auswüchsen autoritärer Ost-Pädagogik an Berliner Schulen und zitierte unter anderem auch aus meinem Beitrag. Selbst der Mythen-Kritiker Schuler, schreibt Posener, hänge noch zentralistischen Bildungsideen an. Weil ich das so auf mir nicht sitzen lassen wollte, entspann sich ein munterer Meinungsaustausch über Zentralismus und Freiheit im Bildungssystem, den man auf Margaret Heckels Seite „Starke Meinungen“ nachlesen kann.

De Maizières Misere

August 26, 2010

Diesmal war es Lothar de Maizière, der am Rechtsstaats-Status der DDR zu retten versucht, was nicht zu retten ist. Sie sei kein „vollkommener Rechtsstaat“, so ihr letzter Regierungschef, aber eben auch kein „Unrechtsstaat“, weil es durchaus funktionierende Teile des Rechtssystems gegeben habe. Ein bisschen ist ein Tapir auch eine Giraffe, weil beide laufen können. Oder gilt eine Diktatur schon als gemäßigt, weil es eine funktionierende Straßenverkehrsordnung mit klaren Vorfahrtsregeln gibt. Ganz offensichtlich hat der Anwalt de Maizière hier versucht, zu erklären, dass man auch in der DDR Jurist sein konnte, ohne sich zu diskreditieren. Und er hat ja Recht, dass das eigentliche Problem das politische Strafrecht war. Und die festgeschriebene Herrschaft einer Partei. Aber sonst. Das Herz stand still, aber der Rest war gesund. Bei allem Verständnis für de Maizière und seine Biografie: Es verwundert schon, mit welchen verschwurbelten Windungen bei diesem Thema nicht zum ersten Mal um den Kern der Sache herumgeredet wird. Die Diktatur der Arbeiterklasse war eine. Punktum. Das entwertet nicht automatisch Lebensläufe. Es ist einfach nur ein Fakt.

Olbertz-Trilogie (Abschluss)

Juni 13, 2010

Das Letzte gleich zuerst: Jan-Hendrik Olbertz kann Präsident der Berliner Humboldt-Uni werden. Für viele mag das das Letzte sein, mir geht es vor allem darum, dass die Entscheidung: ist man dafür oder dagegen –  erst am Schluss eines umfassenden Abwägungsprozesses erfolgen kann. Also als letztes.  Dem greife ich hier vor und will es hinterher auch erläutern:

Durch die öffentliche Debatte um seine Schriften, seine Person und die Rolle von Mitläufertum in der DDR ist Olbertz Teil, aber auch Träger dieser Diskussion geworden. Er wird das „Umstrittensein“ mit ins Amt nehmen, repräsentieren und durch die Inhabe des Amtes wachhalten. Das ist in diesem Falle und in dieser Konstellation in meinen Augen vertretbar. Es ist kein Patentrezept für den Umgang mit schwierigen Biographien nach dem Motto: Betraut alle Diskreditierten mit hohen Ämtern, damit sie weithin Zeugnis geben von den Verfehlungen der Vergangenheit.

In diesem speziellen Falle ist Olbertz zu Stellungnahme und Diskurs gezwungen worden; nicht für jeden befriedigend, aber doch so intensiv, dass die Mechanismen des öffentlichen Gedächtnisses den Vorgang festhalten werden. Zwanzig Jahre Nachwende-Tätigkeit und die Debatte haben gezeigt, dass er die Flecken auf seiner Weste als solche erkennt und nicht als liebenswertes individuelles Muster schönfärbt. Damit sollte er seine Chance verdient haben. Wiederholungsgefahr besteht nicht. Einsicht ist vorhanden. Der entstandene Schaden ist überschaubar. Der Posten eines Hochschulrektors kann zumindest nach meinem subjektiven Eindruck in diesem Fall mit kleinen Abstrichen vom absoluten polit-historischen Reinheitsgebot wahrgenommen werden.

Dass Jan-Hendrik Olbertz sich dieser Tage zur Podiumsdiskussion mit seinen direkten Kritikern bereit erklärte, muss ihm ebenfalls angerechnet werden. Peinlichkeit, Reue und selbstkritische Reflexion konnte man ihm bei diesem Auftritt durchaus abnehmen, auch wenn ein gewisser Anteil smarter Geschmeidigkeit dabeisein dürfte. Unschön fallen allerdings allzu offensive Verteidigungsversuche mit dem Tenor auf: Erst die Stasi, dann die Blockparteien, nun die Akademiker – Hexenjagd gegen alles, was sich in der DDR bewegt hat… Ganz so einhellig ist die Front gegen ihn denn doch nicht. Das akademische Konzil der HU steht hinter ihm (und seinem eigenen Votum verständlicherweise), und auch aus der Politik gab es Unterstützung.

Der einzig vertretbare und akzeptable Duktus des Umgangs mit Olbertz‘ Ideologie-Traktaten von damals kann in seiner Position nur Demut sein. Das klingt theatralisch, folgt aber im Grunde der Logik aktiver Trauerarbeit. Mag sein, dass er bis heute meint, er habe damals keine andere Chance gehabt – zu rechtfertigen gibt es an den beiden Dissertationen gleichwohl nichts, und man kann nur darüber trauern, dass Menschen in eine Situation gebracht wurden, zwischen ihrer eigenen Angst und Mitläufertum zu wählen. In dieser Haltung der Demut verbergen sich gleichermaßen die Erkenntnis und das Bekenntnis, dass man sich stets gegen jeden Ansatz totalitären Drucks zur Wehr setzen muss. Damit wären Olbertz‘ Fehltritte von einst ins Produktive gewandt und in gewisser Weise aufgearbeitet. Soweit dies denn möglich ist. Er sollte allerdings nicht durch psychologisch nachvollziehbaren Trotz und den Schmerz der verlorenen Unschuld dieses Fazit in Frage stellen.

Die meisten seiner Verteidigungsversuche gehen ohnehin nach hinten los. So räumt Olbertz durchaus die massive Ideologielastigkeit seines Faches, der Erziehungswissenschaften, in der DDR ein. Meint aber, das Recht, dieses Fach in der DDR zu wählen, könne man ihm nicht absprechen. Da hat er formal Recht. Nur kann das Prinzip nicht lauten: Wir bilden eine entlastende Causal-Kette nach dem Motto: Das Recht, Grenzer zu werden, hatte ich, und dass Grenzer schießen, gehörte dazu. Die Selbstverantwortung beginnt spätestens bei den eigenen Taten. Ganz gleich, welche Berechtigung vorherige Entscheidungen hatten.

Dass es einem ehrgeizigen Intellektuellen viel abverlangt, auf solche Versuche des Ausbruchs aus dem Gefängnis der eigenen Biographie zu verzichten, ist nachvollziehbar. Zumal, wenn die Selbstwahrnehmung im Augenblick des Verbiegens schon die eines gepeinigten Opfers gewesen sein mag. In diesem Sinne ist Jan-Hendrik Olbertz ein Sybol für viele DDR-Lebens(mit)läufe: Auch wenn wir noch so widerwillig zu befohlenen Demonstrationsterminen gingen, waren wir am Ende die Jubel-Staffage des Systems. Damit muss man leben, damit kann man auch leben. Vorausgesetzt, man ist sich dessen bewusst.

Nachtrag Olbertz

Juni 2, 2010

Oft höre ich im Zusammenhang mit dem Fall des designierten Präsidenten der Humboldt-Universität (siehe Beitrag unten): „Ja, wenn wir so anfangen….“ Soll wohl heißen: Solches Pflichtgeschwurbel haben wir doch alle irgendwo abgeliefert. Stimmt, macht es aber nicht besser. Außerdem stimmt es auch wieder nicht, weil manche eben weniger dick auftrugen.

Grundsätzlich ist dieser, auch oft von Alt-Bundesbürgern geäußerte verständnisvolle Ansatz aber Basis-Demokratie am falschen Fleck. Motto: Es muss nur genug Leute geben, die vergessen wollen, dann ist es in Ordnung. Gut, dass diese Logik in der Nachkriegszeit niemandem durchgehen gelassen wurde. Dinge werden nicht besser, wenn alle sie tun. Im Grunde geht es im Fall Olbertz gerade darum, sich bewusst zu machen, wie diese Mechanismen funktionieren, damit sie so nicht wieder funktionieren. Deshalb sollten wir genau „so anfangen“, denn es kann ja nicht sein, dass Unfug und Menschenverbiegerei deshalb mit wohlwollendem Vergessen überzogen und in den Skat der Geschichte gedrückt werden, weil sie ein Massenphänomen waren.

Mag Olbertz den HU-Job bekommen oder nicht, die schmerzliche Erinnerung an solche Dinge ist das, worum es geht. Wenn wir nicht „so anfangen“, fängt womöglich demnächst irgendwo wieder jemand genau so an. Interessant ist freilich, dass es offenbar auch etliche Zeitgenossen gibt, für die die grobe Beschränkung von DDR-Aufarbeitung auf Karteikarten und Stasi-Mitarbeit eine durchaus bequeme Lösung ist.

Wenn kleine Fische ins Schwärmen geraten

Mai 31, 2010

Kleine Fische und der Widerstand im Schwarm Kleine Fische stellen das Wasser nicht in Frage, sondern versuchen zu schwimmen. Jan-Hendrik Olbertz, der erst kürzlich zum neuen Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität berufen wurde, gehörte in der DDR zweifellos zu den kleinen Fischen. Er ist damals wie heute parteilos geblieben und hat versucht, in einem System erfolgreich zu sein, in dem man Aufstieg mit ideologischer Treue zu bezahlen hatte. Das konnte zwangsläufig nicht gut gehen. Die beiden Dissertationsschriften von ihm sind das beste Beispiel dafür. Will man sich der Frage nähern, ob Olbertz für die Tätigkeit als Rektor der Humboldt-Uni tragbar ist (der Vollständigkeit halber müsste man sagen: und als Kultusminister in Sachsen-Anhalt tragbar war), so gibt es mehrere Schritte, mit denen man vorsichtig versuchen kann, die weltanschaulichen Koordinaten des Mannes von damals zu rekonstruieren.

Da ist zunächst das Studienfach: Dass die DDR händeringend Lehrer suchte, musste jedem Schüler spätestens auf dem Weg zum Abitur klarwerden, als man versuchte, möglichst viele Absolventen für den Pädagogen-Beruf zu gewinnen („Umlenkung“ hieß das im Schulbetrieb). Welche Aufgaben den Lehrern und dem Schulwesen in der DDR zukamen, konnte gleichfalls niemandem verborgen bleiben, der mit wachen Sinnen in der DDR dabei war oder gar auf Distanz zu ihr stand, wie Olbertz es für sich in Anspruch nimmt. Erziehung, Bildung und Erziehungswissenschaft waren ideologische Kampffelder. Wer wie Olbertz Erziehungswissenschaften wählte, wusste, dass es genausowenig neutrales Forschen und Arbeiten geben würde, wie in jedem anderen „gesellschaftswissenschaftlichen“ Fach. Viele hätten deshalb diese Richtung gar nicht erst eingeschlagen, wie sie auch Philosophie oder Ökonomie nicht wählten. Richard Schröder hat zudem zu Recht darauf hingewiesen, dass die Wahl der Themen für die beiden inkriminierten Dissertationen zumindest nicht den Eindruck befördert, da sei einer weltanschaulicher Phrasenhuberei aus dem Weg gegangen.

Pflichtgemäßer Alltagsopportunismus, gedankenloses Phrasenschwurbeln oder tiefsitzende Überzeugung: „Das aktuelle Anliegen der moralischen Erziehung an der Hochschule besteht in der Ausprägung und Fortpflanzung eines dem Sozialismus gemäßen Ethos der Hervorbringung, Vermittlung, Aneignung und Nutzung von Wissenschaft zum Wohle der Gesellschaft in Einheit mit der harmonischen Persönlichkeitsentwicklung der Studenten, das sich als spezifische Form der Realisierung und Neuschaffung gesamtgesellschaftlicher, sozialistischer Moral im Hochschulbereich entwickelt und bewährt.“ – Gesinnung aus Schriftstücken zu rekonstruieren ist schwierig. Tonfall und Duktus der weltanschaulichen Passagen legen Menschen mit DDR-Erfahrung den Eindruck nahe, dass hier zumindest keine erkennbare Vermeidungsstrategie am Werke war. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk belegt zudem, dass sich die ideologische Durchsetzung nicht nur auf pflichtgemäße Einleitung und Schluss-Sermon begrenzen, sondern die gesamten Texte durchziehen. Das musste nicht sein. Hinzu kommt schließlich, dass etwa der gleichfalls überflüssige Einschub plastischer Passagen über den menschlichen Verrohungsgrad US-amerikanischer Forscher (die in Jeans, mit Popcorn und Cola entwurzelt an Sternenkriegen basteln) nun wirklich zum Repertoire des gehobenen Propaganda-Dienstes à la Karl-Eduard von Schnitzler gehörte. Jeder pflichtgemäße Opportunist hätte sich solches verkniffen. Dennoch kann es sein, dass Olbertz zu jenen gehörte, die ihre Nische offensiv verteidigten. Je vollkommener, je strahlender die ideologische Fassade, desto größer die Chance, nicht mit weitergehenden Forderungen (wie etwa Partei-Eintritt etc.) behelligt zu werden. Ein Mechanismus, der nicht selten war in der DDR und bei dem das „Schwärmen“ (für den DDR-Sozialismus) im Schwarm der Schwadroneure eine allerdings verhängnisvolle Stabilisierung des Systems zur Folge hatte und dazu beitrug, die hermetische Geschlossenheit der Gesellschaft als Drohkulisse weiter auszubauen. Allerdings wäre in diesen Falle interessant zu erfahren, wofür Olbertz die so erkämpften Freiräume genutzt hat: Nur, um seinen Parteieintritt abzuwehren oder gar, um humanistische Ideale in die Erziehungswissenschaften hineinzutragen? Bislang bleibt dieser Aspekt eher im Dunkeln. Die beiden Arbeiten atmen eher den Geist jener charakterlichen Disposition von Menschen, die es einfach nicht ertragen können, für schlecht gehalten zu werden – selbst wenn es die Sache nicht wert ist, in ihr als gut zu gelten. Es sind diese Typen, die vorher im Sport-Unterricht immer erzählen, sie würden sich nicht anstrengen, es hinterher aber trotzdem verbissen tun und auf deren Solidarität bei Klassenstreichen man nie bauen kann.

Vom Rektum-Inspektor zum Rektor?: Das mögen andere entscheiden. Klar ist, dass Jan-Hendrik Olbertz als HU-Rektor fehl am Platze wäre, wenn es darum gehen soll, die Rolle der Eliten, auch der Hochschul-Eliten in der DDR kritisch zu diskutieren. Produktiv könnte der Vorgang auch sein, um Rolle und Mechanismen von „Alltagsopportunismus“ in der DDR und grundsätzlich zu beleuchten. Warum haben wir in so vielen kleinen Ecken des täglichen Lebens Fahnen rausgehängt, Slogans an Wandzeitungen geschrieben und leere Demonstrationen besucht. Zumindest eine Generation lang böte das authentische Erleben der DDR die Chance, sich diese Wirkmechanismen vor Augen zu halten. Nicht jeder muss sich da verurteilt fühlen, aber ein wenig Verunsicherung wäre manchmal vielleicht ganz gut. Gerade auch im von Opportunismus alles andere als freien Politikbetrieb der Bundesrepublik. Denn eigentlich kann es nie schaden, immer erst einmal zu prüfen, in welchem Gewässer man da als kleiner oder großer Fisch schwimmen lernt.