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(K)ein Grund zu feiern – der Sozialismus, die Einheit und wir

August 14, 2020

Corona schreibt nicht nur Geschichte, es tilgt sie auch. Mit einem Hilferuf wandte sich unlängst das deutsche Bundesinnenministerium an Abgeordnete und Mitglieder des Festkomitees 30 Jahre Deutsche Einheit: Weil wegen der Pandemie sämtliche öffentliche Großveranstaltungen zum Jubiläum entfallen, wollte man all die vorproduzierten Werbegeschenke loswerden und bot kartonweise Schlüsselbänder, Kugelschreiber, Tassen, Schals, Stirnbänder, Powerbanks und sogar weiße Frotteesocken mit dem offiziellen Logo der nun abgesagten Feierlichkeiten (einem schwarz-rot-goldenen Herz mit Aufschrift) zur freien Mitnahme an.

So skurril die Idee gewesen sein mag, ausgerechnet einen der wenigen historischen Glücksmomente der Deutschen auf Frotteesocken in sommerlichen Schlappen durch die Welt zu tragen, so tragisch ist es, dass wegen der ausfallenden Volksfeste, Foren und Gedenkmomente auch die Reflektion über 30 Jahre Einheit, Erfahrungen, Episoden und Lehren nahezu komplett im Schatten von Corona versinken. Einige seltsam monochrom besetzte Gesprächsrunden im Amtssitz des Bundespräsidenten, bei denen ein schmaler von Verlustschmerzen linksalternativer Protagonisten gezeichneter Erinnerungsstreifen kultiviert wurde, kann da ebenso wenig ein Ersatz für breiten Diskurs sein, wie die gespenstig stillen Staatsakte, die uns das Virus bereits zum 75. Jahrestag des Kriegsendes bescherte: die Vertreter der vier Verfassungsorgane Kanzlerin, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts auf einsamen Abstands-Stühlen vor der Alten Wache in Berlin dem Bundespräsidenten lauschend.

Dabei drängen sich rückblickende Reflexionen in diesen Tagen nicht nur für mich auf, der ich mein Leben etwa hälftig (plus fünf Bonusjahre) in der DDR und in Freiheit verbracht habe. Es geht da nicht um eigenwillige Deja-vu-Episoden, wie etwa im Falle der 1988 aus der DDR ausgereisten Schriftstellerin Monika Maron, die im Zuge der Corona-Krise eine „Ausreiseverfügung“ für ihr Landhaus in Mecklenburg-Vorpommern erhielt und dies mit der galligen Bemerkung kommentierte, die deutschen Binnengrenzen ließen sich offenbar konsequenter schließen als die deutschen Außengrenzen.

Es geht vielmehr um gesellschaftliche Grundströmungen der Gegenwart, die vor der Folie des versunkenen Staatssozialismus‘ durchaus mit Gewinn zu diskutieren wären und wie schon die 30. Wiederkehr der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen DDR und Bundesrepublik nahezu geräuschlos vor den Fenstern des medialen Alltagszuges am 1. Juli vorbeiflogen.

Angesichts der geradezu dominohaft ins Freie kippenden Ostblock-Länder, kam man damals um die Frage nicht herum, ob dies einfach eine glückhafte Fügung der Geschichte sei und wenn nicht, welche systemischen (Denk)Fehler zum Kollaps des vermeintlichen Realsozialismus‘ geführt hatten.

Aus meiner Sicht besteht die Ursache für den Zusammenbruch östlich des Eisernen Vorhangs nicht in erster Linie in der äußerlichen Repression, der Mangelwirtschaft oder der ideologischen Gängelung. Der Kern des Scheiterns steckt in dem (durchaus gut gemeinten) Versuch, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen und dann mechanisch planvoll herbeiführen zu wollen. Auf dem etwas wackeligen ideologischen Unterbau von Marx und vor allem Lenin sollte die ewige Konkurrenz, die Ellenbogengesellschaft, die Arm und Reich, oben und unten, sprich verschiedene Klassen hervorbringt, überwunden und durch die Herrschaft der Massen (des Proletariats) ersetzt werden. Nicht die Eliten sollten das Sagen haben, sondern der breite, werktätige Unterbau der Gesellschaft, der seine bodenständigen, quasi blaumanntragenden Vertreter in die Regierungskomitees entsendet.

Als Denkexperiment eine immerhin nachvollziehbare Idee, bei der es formal mehr Gewinner als Verlieren geben sollte. Wenn der Mensch ein ideales, solidarisches Kollektivwesen wäre, hätte der Plan vielleicht funktionieren können. Ist er aber nicht. Wer durch Tüchtigkeit seinen Vorteil suchte und in der Masse nicht marschieren mochte, musste zwangsläufig unterdrückt werden, um die große Vision nicht zu gefährden. Die egalitäre Gesellschaft als globales Ziel, dass sich auch bei machtvoller Rahmensetzung nicht einstellen wollte.

Als ich Ende der 70er Jahre in der DDR aufs Gymnasium (Erweiterte Oberschule) wechseln sollte, ging es um die Erfüllung einer Quote von Arbeiter- und Bauernkindern, damit eben nicht wie im Westen Kinder von Beamten und Intelligenz schrittweise wieder zur nichtproduzierenden Elite aufsteigen sollten. Dazu wurde der Proletariernachwuchs im gesamten Bildungszug gezielt gefördert (und die Definition von Arbeiter großzügig auch auf Staatsbedienstete und bewaffnete Organe ausgedehnt). Nur durch glückliche Fügung und freiwilligen Verzicht einer Arbeitertochter gelangte ich auf die höhere Schule. Und genau hier schlägt sich die Brücke zur Gegenwart.

Eine Quote, die damals genauso wenig funktionierte, wie die heute mit Macht angestrebte Frauenquote. Weder auf den Schulen noch beim anschließenden Studium konnten sich die Kinder der einfachen DDR-Malocher in gewünschter Zahl etablieren. Es scheiterte nicht an den materiellen Voraussetzungen – die schuf der sozialistische Staat – , es scheiterte an Elternhäusern und oft auch daran, dass Intelligenzler konsequenterweise im Arbeiter- und Bauernstaat oft schlechter bezahlt wurden als die „herrschende Klasse“.

Mit anderen Worten: Bei beiden Quoten geht es darum, eine gewünschte gesellschaftliche Verteilung sozialer Merkmale herbeizuführen, die sich auch bei massiver Förderung per Selbstorganisation nicht einstellt. Für mich gehört das zu den zentralen Erkenntnissen aus dem Zusammenbruch des Sozialismus‘: Man kann fördern und anreizen, aber man muss nüchtern analysieren, wenn vorgestelltes gesellschaftliches Ideal und Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen sind, ob das Ziel womöglich unrealistisch, ob der Weg dorthin vielleicht einfach nur länger oder ein anderer ist.

Erst nach und nach im Laufe der Nachwendejahre habe ich gemerkt, dass die Überzeugung, Ziele in erster Linie evolutionär zu erreichen, im Westen gar nicht so selbstverständlich und tief verankert ist, wie ich dies immer vermutet hatte. Offenbar sind ehedem viele durchaus zentrale Grundsätze nicht aus freiheitlich-demokratischer Erkenntnis, sondern lediglich aus der Augenblicksopposition zum Realsozialismus abgeleitet worden und stehen deshalb heute (für mich verblüffend) wohlfeil zur zeitgeist-taktischen Preisgabe an.

Es sind diese historischen Linien, die das Einheitsjubiläum durchaus auch für die politische und gesellschaftliche Gegenwart produktiv machen könnten und durch den Wegfall des eigentlich geplanten breiten Veranstaltungsteppichs zwischen Mauerfall und Einheitsfeier am 3. Oktober 2020 nun unbeleuchtet bleiben. So drängt sich der Verdacht auf, dass die egalitäre Gesellschaft ebenso eine Illusion war, wie es die beschworene Geschlechter-Parität heute ist. Dafür spricht zumindest, dass etwa bei der Wahl von Studienfächern nach wie vor starke, von klassischen Rollen geprägte Geschlechterdifferenzen bestehen, also die individuellen Lebensentscheidungen nicht dem gesellschaftlichen Wunschbild angepasst werden.

Wenn das Volk, „der große Lümmel“ (Heinrich Heine), aber trotz alljährlicher „Girls Days“, druckvoll in öffentliche Texte und Medien eingeführten Gender-Sprech und massiver Frauenförderung, schon wieder nicht den Visionen der Vordenker folgen mag, dann muss die gewünschte Realität eben verordnet werden, wie ehedem die nächst höhere Stufe des Sozialismus‘. Das ist viel weniger polemisch gemeint, als analytisch. Auch die Vermutung, dass die Verwendung bestimmter Worte und die Unterdrückung anderer das Denken wunschgemäß in einen angestrebten Zielkorridor lenke, war den Bewohnern des verblichenen Ostblocks nicht fremd.

Ich erinnere mich beispielsweise, wie Ende der 80er Jahre unser Chefredakteur der „Neuen Zeit“ von den wöchentlichen Anleitungen beim Chef des DDR-Presseamts, Kurt Blecha (gestorben 2013) mit der Botschaft zurückkam, das fortan die Vokabel „Volksschwimmhalle“ (nebst anderen Komposita mit „Volk“) nicht mehr zu verwenden sei. Der Grund: Sie insinuiere, dass es außer dem Volk noch etwas anderes oder gar eine Hierarchie geben könnte. Massiven Ärger hatte ich bereits in der Grundschule, als statt des progressiv konnotierten Wortes „Kampuchea“ für die Mörderbanden des Pol Pot, das im West-Rundfunk gebräuchliche „Kambodscha“ verwendet und mich schließlich mit „Rote Khmer“ völlig entlarvt hatte.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob derartigen Erscheinungen von einem repressiven Staatssystem ausgehen oder unter den Bedingungen der Freiheit im Kräftespiel der politischen Ideen hervorgebracht werden. Die auffällige Ähnlichkeit der Erscheinungen und deren offenkundige Erfolglosigkeit beim Hervorbringen gewünschter gesellschaftlicher Verhaltensmuster, darf aber durchaus zu denken geben. Es ist eine Art Rückwärts-Denke: Da das Ziel (weil zweifellos gut), nicht zur Disposition stehen kann, das vertrackte Volk bei freiem Willen sich dem aber nicht annähert, müssen die Zügel administrativ angezogen werden. Offenbar erliegen damals wie heute viele der Vorstellung, dass aus Wunsch zwingend Wirklichkeit werden müsse und kommen nicht auf die Idee, dass eine homogene, nach zahlenmäßigem Anteil sozialer Merkmale repräsentative Gesellschaft nicht nur lebensfremd, sondern sogar gefährlich ist, wenn man sie mit administrativem Furor herbeiführen will.

Dabei sind Parität und Gender-Sprech nur ein kleiner Aspekt, der im Rückblick auf Wende und Einheit nachdenklich macht. Die nachträgliche Säuberung von Geschichte, der Sturz von Denkmalen und die Umbenennung von Straßen und Gebäuden nach heutigen moralischen Reinheitsvorstellungen – all das muss man zwar nicht gleich mit Stalins Gruppenbildern assoziieren, auf denen die Retuscheure mit fortschreitender Raserei des Diktators immer weniger Gruppe übriglassen durften. Aber die zum Teil bis heute sichtbare Inflation an Karl-Marx-Straßen, Lenin-Alleen oder Ernst-Thälmann-Plätzen im Osten zeigt doch, wie zeitgeistgetrieben, untauglich und sinnlos der Versuch ist, alles misstimmige aus dem kollektiven Gedächtnis drängen zu wollen. Das Leben mit und im Wissen um die menschliche Widersprüchlichkeit und moralische Fehlbarkeit ist wichtiger und produktiver für offene Gesellschaften, als das ahistorische Planieren des und der Gewesenen.

Und noch ein Effekt ist vor dem Hintergrund des Jubiläums interessant: Die Verwechslung des Europäischen Ideals mit den Wegen und Mitteln zu seiner Erreichung. Es gehörte zu den Dauerphänomenen im Osten, dass die Kritik an konkreten Alltagsmissständen augenblicklich als Infragestellung des Sozialismus‘ in seiner Existenz und als Ziel gegen einen verwendet werden konnte. Ein Kniff, der selbst (partei)treue Sozialisten rasch zu Feinden und Dissidenten umzuetikettieren erlaubte und heute in vielerlei Bezügen wieder anzutreffen ist: Wer die Quote für untauglich hält, ist Frauenfeind, wer die Homo-Ehe nicht verficht, homophob, und wer auf innereuropäische Bruchlinien und fatale Mechaniken zur Vertiefung der europäischen Integration hinweist, stellt angeblich die Vision des geeinten Kontinents insgesamt in Frage.

Ein Reflexbogen, der mich immer verwundert hat. Je intensiver man ein Ziel anstrebt, desto wichtiger ist doch der nüchterne, ungeschönte Blick auf die Tatsachen, um sich nichts vorzumachen und der Gefahr idealistischer Hohlraumkonservierung zu entgehen.

Und schließlich lohnt im 30. Jahr nach Wende und Einheit ein weiteres Phänomen der Betrachtung: die raffinierten Formen des Entstehens von Konformität unter den Bedingungen der freiheitlichen Gesellschaft. Versuchte der reale Sozialismus ehedem, den mentalen wie gesellschaftlichen Gleichschritt mit Repression, Angst, Bespitzelung, Entzug und Zuteilung von Lebenschancen zu erzwingen, so fügen sich heute relevante Gruppen offenbar einem seltsamen Sog aus Vorteil, Diskursvermeidung und wohl auch gelegentlicher Gedankenlosigkeit.

Als im Zuge von Corona auch politische Spitzengremien notgedrungen zu Videokonferenzen übergingen und damit (ohne ins Detail gehen zu wollen) auch journalistischer Nachverfolgung neue Möglichkeiten des Einblicks in interne Abläufe lieferten, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass sich ein gewisser devoter Gestus offenbar über die Zeiten gerettet hat. Selbst kritische Geister, die in der öffentlichen Wahrnehmung durch ihr beherztes Kontra gegen die eigene Partei- und Regierungsspitze auffallen, leiteten intern ihre Wortbeiträge mit dem Lob etwa der Kanzlerin und deren erfolgreicher Politik ein, um anschließend allenfalls mögliche Fehlentwicklungen zu bedenken zu geben. In der anschließenden Schilderung klang das dann wieder nach Pulver und Aufstand.

Man kann das als lässliche menschliche Schwäche sehen, darf aber doch zur Kenntnis nehmen, dass der Schutz der wärmenden Gruppe offenbar auch ganz ohne Repression gesucht wird, wenn man für die eigene Meinung im Grunde nichts zu fürchten hätte. Abgeordnete, die bei kritischen Beiträgen unter dem Tisch klopfen, um vom Präsidium her nicht ortbar zu sein, unangenehme Shit-Stürme, denen man sich lieber durch Wegducken entzieht, das Vorsortieren von Fakten nach Herkunft und das parteiische Delegitimieren bestimmter Quellen oder Autoren – all das sind Erscheinungen, die das Gefühl des „aufgestoßenen Fensters“ (Stefan Heym) der Wendezeit dreißig Jahre Später mitunter wieder durch ängstliche Muffigkeit ersetzt.

Nun ist Klagen schon traditionell des Ossis liebstes Geschäft. Deshalb sei hier nicht wehleidiger Miesepetrigkeit das Wort geredet, sondern der große Schritt von damals in die Freiheit gewürdigt, der das ungehinderte Referieren eben auch solch seltsamer Analogien erst möglich machte. Denn auch das Einfordern von Optimismus („Wo bleibt das Positive?“) und die Neigung, dass Kritik ausschließlich „konstruktiv“ zu sein habe, sind Reflexe, die sich gut über die Zeiten gerettet haben.

Ralf Schuler (geb. 1965) in Ost-Berlin ist Leiter der Parlamentsredaktion von BILD. Zuletzt erschien sein Buch „Lasst uns Populisten sein“ im Herder Verlag

(Dies ist die ungekürzte Fassung eines Gastbeitrags, der am 11. August 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.)

Neues aus dem Ossi-Zoo

November 22, 2010

Irgendwas hat Moritz von Uslar falsch gemacht. Der forsche 40-Jährige hat sich einige Monate im Kleinstädtchen Zehdenick – nördlich von Berlin zwischen Vogelsang und Kleinmutz – herumgetrieben und ein Buch darüber geschrieben. Und wie immer, wenn ein Wessi-Schnösel aus Berlin-Mitte ostdeutsche Landeier reportiert, kann man eigentlich auf Rabatz, Skandal und Schlagzeilen rechnen. Nur bei Moritz von Uslars jüngstem Opus „Deutschboden“ funktioniert das nicht.

Die Zehdenicker (sprich leicht angelispelt: ßßßeeehdennikkk) wollen sich einfach nicht beschweren über Uslars Milieu-Studie. Abgesehen von einer Familie, finden die meisten die rurale Prosa des journalistischen Freiherrn (eigentlich Hans Moritz Walther Freiherr von Uslar-Gleichen) ganz ok bis cool, und selbst die öffentliche Veranstaltung am vergangenen Wochenende im Bowling-Center sorgte für allerhand Presse, aber für keinen Eklat. Schöne Pleite das.

Dabei liegt das eigentlich Alberne solcher Projekte am ethnographischen Versuchsaufbau selbst: Ich besichtige naturbelassene Menschen und schreibe darüber.  Schon Günther Grass wandte sich 1990 gegen die Wiedervereinigung, weil er die Ursprünglichkeit ostdeutscher Menschen und Landschaften erhalten und nicht westlicher Weichspüler-Invasion preisgeben wollte. Batholomäus Grill hat für die ZEIT in den 90er Jahren ein ähnlich aufwendiges Projekt in Quedlinburg verfolgt, über Frankfurt(Oder gibt es ein wenig schmeichelhaftes Freiluft-Protokoll, und so mancher kommunal bezahlte Stadtschreiber hat in zwanzig Jahren Einheit ostdeutsche Strähnchenträgerinnen und grillende Rasenkantenschneider porträtiert.

Was ist also schief gelaufen bei Uslars Reservat-Besuch? Sollte er festgestellt haben, dass Zehdenick so normal ist wie Eickelborn oder Barsinghausen? Sollte er anstelle westdeutsche Normenkontrollklage zu führen, den Menschen im Ossi erkannt und erstmals nachgewiesen haben? Vielleicht lag es auch nur daran, dass der Autor kein Grundstück in Zehdenick zurückhaben wollte.  Jedenfalls ist es höchste Zeit, dass ein Ossi sich in Nusspingen, Unterstmatt oder Hammereisenbach-Bregenbach undercover niederlässt und als Ronny Godall den bedrohten Schwaben-Gorilla bei Nestbau und Paarung beobachtet. Womöglich gibt es mehr Übereinstimmung mit dem menschlichen Genom, als man bisher glaubte – in Zehdenick…

Klarer kann man es nicht sagen

Oktober 8, 2010

Einer der renomiertesten Sozialforscher Deutschlands, der gewiss nicht im Verdacht und schon gar nicht in der konservativen Ecke steht, äußert sich im Tagesspiegel zu Wulffs Islam-Bonmot. Mehr gibt es zu dem Thema eigentlich nicht zu sagen. Klarheit ohne ideologischen Ballast.

Feierfrust: Warum die Einheit wenig Euphorie auslöst (für Neue Zürcher Zeitung)

Januar 26, 2010

 

Frustfrühling nach Wendeherbst, Einheitskater nach Befreiungstaumel – ganz so schlimm ist es denn doch nicht. Aber der Eindruck ist auch nicht falsch, dass den Deutschen die Feierlaune für die zwanzigste Wiederkehr des Jubeljahres 1989/1990 inzwischen ein wenig abhanden gekommen ist. Das hat durchaus Gründe, die jenseits jener national veranlagten Miesepetrigkeit liegen, die nur im Zusammenhang mit Fußball temporär kurierbar ist.

Da ist zunächst ein Medienbetrieb, der in den letzten Jahren eine Art Großindustrie des Gedenkens entwickelt hat, die unweigerlich die anrührendsten Momente der Geschichte früher oder später in Langeweile ummünzt. Historische Sternstunden sind auch im Rückblick besser in kleinen Dosen konsumierbar als von der Europlette. Natürlich haben wir den fünften, zehnten und fünfzehnten Jahrestag des Mauerfalls bereits kräftig gefeiert, haben die Vorgeschichte erzählt, Anekdoten ausgewalzt, Historiker, Experten, Zeitzeugen und Betroffene befragt, und all das läuft seit Januar 2009 bereits wieder auf Hochtouren. Wir Medienleute haben uns darin perfektioniert, bedeutsame Ereignisse so professionell in Szene zu setzen, den Countdown lange im Voraus zu beginnen, den letzten Überraschungsgast mit Tusch ins Rampenlicht zu schieben, dass wir schon bei den Planungssitzungen wussten: Wir werden froh sein, wenn der Trubel vorbei ist. Es einfach sein zu lassen oder eine Nummer kleiner anzugehen, geht aber nicht. Da ist die Konkurrenz vor. Und so beteiligen wir uns denn sehenden Auges an Wende-Festspielen, die ihrem eigentlichen Zweck zuwiderlaufen. (Ein Punkt übrigens, an dem sich Nachrichten- und Finanzmärkte ziemlich ähnlich sind: Die inneren Regeln sind mitunter stärker als der gesunde Menschenverstand.)

Ein weiterer Punkt, warum die ohnehin begrenzte Leidenschaft, die einem Deutschen zur Verfügung steht, nicht mehr voll abgerufen wird, liegt im Lauf der Dinge selbst. Nach dem welthistorischen Big Bang des Mauerfalls wurde Tag für Tag Protest wieder in Politik überführt, wurde aus Revolution und Aufruhr, Kompromiss und Verwaltung. Ein Prozess, der schon von sich aus weniger spannend, dafür aufreibend, ernüchternd und renormalisierend ist. Zum Aufstand, zu Massen-Exodus und Demonstrationen war es gekommen, weil zuletzt selbst die Parteigänger des Regimes erkannten, dass Methoden und Fähigkeiten des Politbüros zum Untergang dessen führen mussten, dem sie eigentlich dienen wollten. In der untergehenden DDR entstand mithin eine Massenbewegung mit gewaltiger Einigkeit und weitgehender Auflösung der vormaligen Nomenklatura-Kasten. Dieses Gefühl, mit voller Überzeugung Teil eines Großen und Ganzen zu sein, gibt es vermutlich nur Welt-Zehntelsekunden lang und wird an politischer Intensität in einem Menschenleben wohl nie wieder erreicht. Im Westen verfolgte man zur gleichen Zeit all das mit ungläubiger Spannung und der wilden Hoffnung, dass am Ende womöglich die stählern geschmiedeten System-Blöcke aufbrechen, in sich zusammenfallen und verschwinden könnten. Klar, dass nach diesem Weltgeschichte-Überdosis-Trip nur ein schmerzhafter Entzug mit Realität als Ersatzdroge folgen konnte.

Nach dem 9. November 1989 gab es die ersten Papiere zur Wiedervereinigung, es folgten Runde Tische, die ersten Volkskammerwahlen im März 1990, die Einführung der D-Mark im Osten als wohl letzter emotionaler Höhepunkt, Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der Großmächte, die nur etwas für Diplomatie-Feinschmecker waren und schließlich der erschöpfte Zusammenschluss am 3. Oktober. All das durchleben die Deutschen nun auch im Rückblick wieder. Und es ist nicht verwunderlich, dass die Erinnerung heute weniger euphorisch ist an die Nach-Mauerfall-Phase, wo aus vereinten Aufbegehrern wieder politische Lager und Konkurrenten wurden, wo die SPD gemeinsam mit den Bürgerbewegungen in den ersten freien Wahlen bereits zum ersten Mal Wende-Verlierer wurde, wo sich zeigte, dass für viele Ost-Menschen freier Konsum schon den größten Teil des Freiheitsbegriffs ausmachte.

Und in all das mischt sich jener dritte Prozess der nachwendlichen „Persönlichkeitsveränderung“ im Osten. Der 3. Oktober 1990, die Wiedervereinigung, auf die dieses Jubiläumsjubeljahr unvermeidlich zusteuert, ist im Grunde nichts anderes, als die Rückkehr des Ost-Blocks vom bolschewistischen Irr-Gleis der Geschichte auf die Normal-Trasse. Ein ideologischer Abweg des 20. Jahrhunderts hatte sich (mit etwas Verzug auch in den vormaligen „Bruderländern“) erledigt, widerlegt, war an sich zugrunde gegangen. Das in dieser Nüchternheit zu akzeptieren, fällt den meisten Läufern, Mitläufern und selbst etlichen Geiseln der Roten Wandertruppe Ost bis heute schwer. Es mag psychologisch ein verständliches Missverständnis sein, dass viele Ostler den Untergang des Systems als nachträgliche Entwertung ihres Lebenslaufes fehlinterpretieren und sich inzwischen schönreden, was sie ehedem verfluchten.

Da werden kleine Raritäten-Beschaffungen in der Mangelgesellschaft romantisiert, als seien Magel und Misswirtschaft eine heute leider unterdrückte Errungenschaft gewesen. Private Inseln im durchideologisierten Parteistaat werden der kalten Herrschaft des Geldes heute gegenübergestellt, als seien es nicht die Ostdeutschen gewesen, die 1990 beim Sturm auf die harte D-Mark der Deutschen Bank die Türen einrannten. Kurz: Die Gemütslage „Es war nicht alles schlecht“ grassiert bis heute stärker als die Schweinegrippe in den Neuen Bundesländern, obwohl doch auf der Hand liegt, dass es eigentlich heißen müsste: „Es war zu wenig gut“. Und dass dieser Virus nicht nur Träger des verflossenen Systems heimsucht, die ja in der Tat etwas verloren haben, sondern auch solche, die zu deren Lebzeiten nie ein gutes Haar an der DDR gelassen haben, das verdrießt sowohl wache Wende-Ossis als auch die meisten Westdeutschen, die nicht nur mit dem Herzen dabei waren, als die Mauer fiel, sondern danach auch mit ihren Steuer-Milliarden. Jenen aber, die den Osten und seine Menschen bis heute verklären, muten Wende- und Einheitsfeiern als eine Art Inszenierung der geschichtlichen Siegerdoktrin an. Wer Mauertote benennt, sich seiner Freiheit in Reise, Wort und Rede freut und den Kopf darüber schüttelt, dass die DDR-Staatspartei heute unter anderem Namen ins ganz Deutschland wählbar ist, der hat es mitunter schwer im Osten.

Vielleicht sollte man auch so etwas wie eine Wende-Trauerfeier veranstalten, auf  der man der Tatsache gedenken kann, dass Klar- und Einsicht auch in einer freien Marktwirtschaft mitunter zur Mangelware werden können. Ganz ohne Kreditklemme und Finanzkrise.

Brandenburger Weg ins Abseits

Dezember 8, 2009

Über eines sind sich nahezu alle Akteure der Brandenburger Landespolitik einig: Das Stasi-Thema darf  „nicht politisch instrumentalisiert werden“. Wer bislang nach den Ursachen für jene seltsame politische Windstille im Berliner Umland suchte, wer sich über die eigentümliche Sonderkultur des Potsdamer Landtags wunderte, findet hier den Kern des „Brandenburger Wegs“: Es ist das im Grunde vordemokratische Herauslösen ganzer Gesellschaftsthemen aus dem politischen Geschäft. Das Gegenteil ist richtig: Alles muss politisch instrumentalisiert und auf dem parlamentarischen Streitplatz verhandelt werden. Gern dürfen dabei auch Fetzen fliegen.

Streit klärt und erklärt. Es ist gerade die Aufgabe der Politik, sich all den Dingen zuzuwenden, die ein Gemeinwesen betreffen und umtreiben, anstatt eine Harmonie-Kultur zu pflegen, die eine Weiterführung der Volkskammer mit anderen Mitteln zur Folge hat. Noch in den 90er Jahren verließen einzelne SPD-Abgeordnete den Saal, wenn der damalige CDU-Generalsekretär Thomas Klein ans Rednerpult ging, weil er „so böse“ Reden halte. Klein ist damals auch an dieser Debatten-Kultur gescheitert. Und an der Tatsache, dass sich die Opposition auf diesen Regierungsstil des innenpolitischen Appeasements eingelassen. So, wie es lange dauerte, bis man verstanden hat, das nicht die Ausklammerung aus ökonomischen Handelsmechanismen das Klima rettet, sondern gerade die Einbeziehung des Emissionshandels in das Marktgeschehen der Umwelt einen konkreten Gegenwert verleiht, so sollte man auch in Brandenburg zwanzig Jahre nach der Wende endlich lernen, dass es keine Thmen außerhalb der Politik gibt. (Auch das Gesundheitswesen krankt ja daran, dass es gerade keinen funktionierenden Markt für Gesundheit und Medizin gibt.)

Das Thema Stasi verlangt geradezu danach, politisch „instrumentalisiert“ zu werden. Die Stasi war eine politische Kampforganisation – die Entscheidung für oder wider die Stasi war mithin keine Privatsache. Heute kann, soll und muss mit aller Härte zwischen den Parteien als Organen der politischen Willensbildung darüber gestritten werden, wie mit der Stasi und ihren Zuträgern umzugehen ist. Das MfS in eine Art außerpolitischen Sonderfonds, einen nachgelassenen Schattenhaushalt der DDR auszulagern, nützt am Ende nicht dem Gemeinwesen, sondern dem alten Geheimunwesen. Mag sein, dass sich das Wahlverhalten der Brandenburger durch saftige Debatten nicht ändert, aber sie können dann eben bewusst entscheiden, ob sie die Partei der „Läufer“ tatsächlich mehr schätzen als die der „Mitläufer“. Die CDU muss sich in solchen Debatten ebenso ihrer Vergangenheit stellen, wie die Linkspartei und die FDP.

Es ist höchste Zeit, dass endlich souveränes parlamentarisches Leben in den Mauern des alten SED-Kremls einzieht, und dass sich die Opposition nicht länger vom zweckdienlichen Dunst vermeintlicher Friedenspfeifen einlullen lässt.

Grund genug zu feiern

November 11, 2009

Warum man sich von Mutlosigkeit und Miesmachern nicht beeindrucken lassen sollte

Von Ralf Schuler
Freiheit bemerkt man erst, wenn sie fehlt. Dass mit dieser Welt etwas nicht stimmen konnte, bemerkte ich an einem Sonntagmorgen mit vier oder fünf Jahren. Ich lag bei meiner Großmutter im Bett, wir hatten vorgelesen, und auf dem Nachttisch waren die Schogetten alle. Wir müssten aber dringend neue kaufen, sagte ich mit dem letzten zarten Schmelz auf der Zunge. Das ginge nicht so einfach, sagte meine Oma. „Die sind aus dem Westen.“ Eine Welt, in der man Schogetten nicht nachkaufen konnte, war einfach nicht in Ordnung.

Irgendwann Anfang der 80er Jahre saß ich dann in der Straßenbahn, fuhr die Berliner Invalidenstraße entlang und bemerkte zum ersten Mal, wie gleichgültig und unwirklich normal diese Stadt hinter der Mauer einfach weiterging. Kirchtürme, Mietshäuser, Dächer – es war meine Stadt, und doch war die andere Seite unerreichbarer als der Polarkreis in der Sowjetunion. In West-Berlin spielte (wie ich aus dem Radio wusste) Leonard Cohen, sang von Suzanne, die am Fluss wohnt, wo es nach Tang riecht, die etwas verrückt ist, dir Tee und Orangen schenkt und mit ihrem perfekten Körper deinen Geist berührt hat. Ein Sehnsuchtssong, der Teenager krank machen kann. Und ich litt in meiner Straßenbahn nicht nur darunter, dass Cohen da unerreichbar hinter der Mauer sang; was immer auf dieser Welt wirklich Bewegendes geschah, es geschah nicht in Sofia, Bukarest oder Ost-Berlin. Suzanne mochte in Vancouver leben, Philipp Marlow ermittelte in Los Angeles, die Mode kam aus Paris und der richtige Rock n‘ Roll von überall, nur nicht von den Puhdys. Später habe ich mir in Budapest einen Falk-Plan von New York gekauft. Meine Freunde hielten mich für verrückt, aber es schien mir irgendwie plausibel, dass man der Freiheit ein Stück näher war, wenn man ihr Abbild in der Tasche trug. Und wenn sie irgendwann vorbeikäme – ich war vorbereitet.

1989 kam die Freiheit vorbei, auch wenn ich zugebe, bis kurz davor nicht daran geglaubt zu haben. Heute, da nichts mehr schmerzt und die Sehnsucht zwischen Globalisierung und Ost-Beauftragten zerrieben wird, sollten wir uns nicht von Mutlosen und Miesmachern in die Irre führen lassen. Es sind nicht die mit dümmlichen Halbprommis (gerade auch die aus dem Osten!) besetzten Talk-Shows, denen wir die Hoheit über die Stimmungslage überlassen sollten. Und schon gar nicht der Linkspartei, der in Sachen Freiheit und Demokratie jeder Erkenntnisgewinn von außen aufgezwungen wurde, und die bis heute nicht begriffen hat, dass das Fazit der DDR nicht lautet: „Es war nicht alles schlecht“, sondern: „Es war zu wenig gut“.

Die Einheit hat aber nicht nur Freiheit für die Ostdeutschen gebracht, sondern Deutschland wieder zu einem kräftigen, normalen Land gemacht. Wahrscheinlich hat man das Unnormale im alten Westen mit seiner allgemeinen Auskömmlichkeit weniger schmerzhaft empfunden. Deutschlands Gewicht in der Welt, in EU, Nato, UN und als autonomer politischer Akteur ist das Gewicht eines souveränen Staates, nicht mehr das eines zweckdienlichen Außenpostens im Kalten Krieg.

Dass im gemeinsamen deutschen Alltag nicht alles rosig ist, wird niemand bestreiten. Nur darf man bei dieser Gelegenheit auch verzagte West-Menschen daran erinnern, dass der Wunsch nach umfassender Glückseligkeit genauso unrealistisch ist, wie der dümmliche Anspruch mancher Ost-Deutscher, DDR-Gemütlichkeit mit Westgeld und Reisefreiheit zu bekommen. So ist die galoppierende Staatsverschuldung zu Teilen unbestreitbar der Einheit „geschuldet“. Zu anderen, erheblichen Teilen aber jenem unreflektierten Sozialstaatsverständnis, dass die DDR in den Ruin getrieben hat und das sich auch im Westen willig mit der Linkspartei verbündet. Bei den meisten Problemen lohnt ein genauer Blick auf die Akteure. Wer wollte entscheiden, ob Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine das größere Schlitzohr ist, um es einmal nett auszudrücken. Und selbst beim vermeintlich ostdeutschen Rechtsradikalismus kommt die gesamte Führungsspitze aus dem Westen.

Die weltweit erfolgreichste deutsche Band „Rammstein“ kommt aus dem Osten, Michael Ballack wirbt auf ganzen Häuserfassaden in Taipeh, der Westler Klaus Wowereit macht Berlin „arm aber sexy“, und die Geld-Promi-Dichte in Potsdam macht Starnberg inzwischen ernste Konkurrenz. Meine Güte, wir Deutschen sind ein komisches Land, eine schräge Truppe, aber wollten wir ernsthaft wer anderes sein. Bayern, Friesen, Sachsen – ohne einander wären wir nicht nur weniger, sondern auch ärmer. Wir haben viel Mist gebaut in unserer Geschichte, aber wenn ich etwas wegstreichen sollte, wäre es mit Sicherheit nicht Mauerfall und Einheit.

Freiheit bemerkt man erst, wenn sie fehlt. In Berlin muss man sich viel Mühe geben, wenn man den unscheinbaren Pflasterstein-Streifen im Asphalt bemerken will, der den früheren Mauerverlauf nachzeichnet. Die Mühe sollte man sich machen. Und für mich ist es jedesmal ein Triumph, dass nicht die anderen das letzte Wort behalten haben.
(Gastbeitrag für „Augsburger Allgemeine“)