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Aber gepflegt: Spahn, Islam und lange Haare

April 7, 2018

Mit gesellschaftlichen Debatten ist es wie mit Nietenhosen, Beat-Musik und langen Haaren: Wer Protest-Posen mit gönnerhafter Herablassung die bürgerliche Blümchen-Kittelschürze wohlmeinender Einhegung überstreifen will, macht sich lächerlich. Ich habe ja nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein…

Müssen sie nicht.

Und Debatten über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland, die Politik und die Zukunft des Landes dürfen auch das sein, was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), „folgenlos“ nennt. Denn erstens stimmt es nicht, dass dieser Diskurs „folgenlos“ wäre, weil er klärt und erklärt, und seien es die Fronten. Zweitens sind Debatten das täglich‘ Brot der Demokratie. Drittens sind wir nicht mehr in der DDR, wo Diskussionen – wenn es denn überhaupt zu den Weisungen von Partei- und Staatsführung noch weitere (Wider)Worte geben musste – ausschließlich im realsozialistischen Sinne „konstruktiv“ zu sein hatten oder gar nicht. Und viertens schließlich wären allen Disputanden nichts lieber, als dass ihr Beitrag Folgen hätte: Die einen wollen, dass sich was ändert, die anderen nicht.

Das gilt auch für Kommentatoren, die dem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorwerfen, mit seinen Wortmeldungen zu Hartz-IV oder dem Gefühl vieler Bürger, der Staat könne oder wolle sie nicht mehr schützen, illegal über die Grenzen seines Ressorts gewandert zu sein. Besonders drollig wirkt dieses Argument, wenn es von uns Journalisten kommt, die wir uns ja per se allzuständig fühlen und gern überall mitreden. Nicht auszudenken, da wollte sich wer erdreisten, Fachkundeprüfungen einzuführen oder Berechtigungsscheine auszuteilen! So frustrierend es mitunter sein mag: Wir dürfen das, und Jens Spahn darf es auch. Als Bürger, Politiker und Mensch.

Wenn dieses Land freiheitlich und demokratisch bleiben soll, braucht es vermeintlich „folgenlose“ Debatten ebenso, wie vermeintlich „nicht hilfreiche“ Bücher und streitbare Politiker. Denn in Wahrheit sorgen sich die Einwender nicht um das Ressortprinzip innerhalb der Bundesregierung, sondern ihnen passt schlicht die vorgebrachte Meinung nicht. Am schönsten ist in diesem Zusammenhang der beliebte Hinweis, das nütze doch alles nur der AfD. Motto: Wenn Wahrheit dem Falschen nützt, bleibt sie besser unausgesprochen. Ansonsten ist Widerlegung des Gesagten die bessere und eigentlich naheliegende Gegenwehr. Seltsam nur, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, Debatten abwürgen zu wollen, weil sie vermeintlich FDP, Linken oder Grünen nützten.

Ein gutes Beispiel für das Umgehen nicht mit dem Diskurs, sondern um ihn herum, sind die Einlassungen zur „Erklärung 2018“, die sich häufig um die Unterzeichner, die „neue Rechte“ aber nur selten um den im besten Sinne inklusiv überschaubaren Inhalt drehen. In dem nur 33 Worte umfassenden Text wird ein Ende der „illegalen Masseneinwanderung“ gefordert, was eigentlich niemanden aufregen dürfte, weil Illegales zu unterbinden in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Der einzige argumentative Versuch, mit der Erklärung umzugehen, ist regelmäßig der Verweis darauf, dass die Migrantenzahlen ja schon deutlich zurückgegangen seien. Das stimmt. Doch noch immer kommen rund 15 000 Menschen monatlich nach Deutschland, ein großer Teil davon illegal (z.B. über sichere Drittstaaten). Mehr als 20 000 Illegale wurden 2017 bei der widerrechtlichen Einreise an Deutschlands südlichen Grenzen aufgegriffen, rund 3000 (auf Grund der verschärften Grenzsicherung in Skandinavien) im Norden. Die Logik, man solle sich nicht so haben, schließlich werde inzwischen ja deutlich seltener Recht gebrochen, wird aber niemand ernsthaft akzeptieren wollen. Die Autoren der Erklärung mahnen mithin Selbstverständliches an. Dass sie das müssen, ist der Skandal!

Eine ganz andere Frage, an die sich derzeit freilich niemand heranwagt, lautet: Ist die von der GroKo vereinbarte jährliche Migrationsquote (puh, nur nicht „Obergrenze“ sagen!) auch dann noch verkraftbar, wenn schon mehr als 1,5 Mio. Migranten aus 2015/2016 im Land sind? Die 200 000 Zuwanderer pro Jahr sind eine Erfahrungsgröße aus der Nachwendezeit, die nur sechs Mal erreicht wurde und sich dabei bislang als unproblematisch erwies. Zum Vergleich: 1,5 Mio. Menschen leben in Köln und Essen zusammen, eine Stadt wie Kassel (rd. 200 000 Einwohner) käme jährlich hinzu. Die Metapher einer Stadt ist dabei durchaus passend, denn der allgemein geltende Anspruch besteht ja darin, jeden mit Job, Wohnung, sozialem Umfeld, Schulen, medizinischer Betreuung etc. zu versorgen.

Illusion Integration

Und weil wir gerade dabei sind: Die schönen Reden über die Anstrengungen für mehr Integration sollten wir uns dabei ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Wer gezählt hat, wie oft die neue, in Berlin-Neukölln erprobte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) bei Maybrit Illner die Wendungen „ich wünsche mir“, „wir brauchen mehr“ oder „wir müssen dafür sorgen, dass“ verwendet hat, der ahnt zumindest den Grund: Integration wird auch in Zukunft in Deutschland Glückssache bleiben und vom individuellen Willen des einzelnen Migranten abhängen. Integrations- und Deutschkurse sind ein rührender Versuch des Verwaltungsstaats, mit seinen Mitteln zu befördern, was er in Wahrheit nicht befördern kann. Unser freiheitliches Staats- und Rechtswesen ist bis in die letzte Ecke mit Abwehrrechten der Bürger gegen die Bevormundung durch den Staat ausgestattet. Jeder einzelne von uns würde sich dagegen verwahren, wollten ihm Behörden in die persönliche Lebensweise hineinreden. Mit welchem Recht wären an Migranten andere Maßstäbe anzulegen?

So kommt es zu der absurden Konstellation, dass Aktivisten alljährlich gegen das aus christlicher Kulturgeschichte hervorgegangene Tanzverbot an Karfreitag aufbegehren, aber sich in jede Bresche werfen würden, um verhüllende Kleidungsgebote des Islam als individuelles Recht und gelebte Religionsfreiheit zu verteidigen. Unter libertären Gesichtspunkten ein konsequenter, sympathischer Zug: Die einen wollen tanzen, die anderen Kopftücher und archaische Geschlechterrollen, beide sollen es bekommen. Für das organische Einwachsen von Migranten in unsere Gesellschaft freilich ist das schlicht kontraproduktiv. Das Ausleben einer antiwestlichen, islamischen Gegenkultur mit Ablehnung von Säkularität und autoritärem Verständnis von Staat und Religion wird so geradezu unter den Schutz unserer freiheitlichen Ordnung gestellt.

Die einzige gangbare Alternative dazu findet bei uns in Deutschland allerdings ebenfalls politisch weder Akzeptanz noch Mehrheiten: Klassische Einwanderungsländer wie USA, Kanada oder Australien verfügen über ein deutlich „schlankeres“ Sozialsystem und erzwingen einen großen Teil der Integration durch materielle Interessiertheit. Die Greencard ist die Chance, wenn du sie nicht nutzt, dich nicht jobdienlich anpasst, winken Armut, Heimreise oder letzter Halt in landsmannschaftlicher Seilschaft, nicht selten kriminell. Aber Migranten integrativ „aushungern“? Der Aufschrei wäre in Deutschland programmiert. Der stetige Zulauf zu schon jetzt oft prekären Migranten-Milieus wird das integrative Scheitern weiter beschleunigen.

Grund und Gegenstand genug für jede Menge Debatten. Nie waren sie so wertvoll wie heute.

Islamische Kritik an der Islamkritik

März 7, 2012

Es gibt im politischen und sonstigen Leben immer wieder Situationen, in denen die Wahrheit einfach kontraproduktiv ist. „Nicht hilfreich“, wie es die Kanzlerin zu formulieren pflegt. Das ist schade für die Wahrheit, aber nun mal nicht zu ändern.

Jüngstes Beispiel: Die Debatte um die Studie zu muslimischen Einwanderern, die Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) unlängst vorstellte. Mehr als 20 Prozent der muslimischen Migranten verweigerten sich mehr oder weniger aggressiv und offen der Integration in die westliche Gesellschaft oder blickten gar verächtlich auf diese herab.

Daraufhin meldeten sich zahlreiche Vertreter mit muslimischem Migrationshintergrund zu Wort und führten Beschwerde. Was ihr gutes Recht ist. Verblüffend allerdings war, dass nahezu alle Beiträge empört waren, dass Friedrich diese Studie veröffentlich, dass die anderen 80 Prozent gut integrierter Islam-Einwanderer nicht gewürdigt würden, dass Muslime unter Generalverdacht gestellt würden und die Deutschen offener sein müssten. Von der Moderatorin Hadnet Tesfai bis zur Jung-Autorin Melda Akbas – ein ähnlicher Tenor.

Nun mögen all die Einwände richtig oder falsch sein, die eigentliche Antwort hätte aber lauten müssen: ,Diese 20 Prozent Integrationsverweigerer sind kein Problem“ oder „die Zahlen stimmen nicht“ oder „es wird in Zukunft weniger werden“… Tatsächlich aber hat – aus eigener Erfahrung? – niemand die Tatsachen der Studie in Zweifel gezogen oder widerlegt. Selbst Peter Holtz, einer der Autoren, der sich auf Spiegel-Online in einem Gastbeitrag beschwerte, führte lediglich Beispiele von sehr sympathischen Muslimen an, die sich nun vor den Kopf gestoßen fühlten.

Das ist traurig aber kein sonderlich taugliches Argument. Wie wäre es, wenn die sich von unliebsamen Befunden dieser Art betroffen fühlenden Mitmenschen sich beim nächsten Mal nicht mit Vorwürfen an die Öffentlichkeit wendeten, dass diese Tatsachen ausgesprochen wurden, sondern wenn sie statt dessen Vorschläge zur Abhilfe machten. Oder Erklärungen lieferten, die nicht darauf hinauslaufen, dass die Einwanderungsgesellschaft irgendwelche Voraussetzungen schaffen oder ausbauen müsse, damit die Einwanderer dieses Land schön finden und annehmen. Gern genommen werden auch Beiträge, wie sich Vereine und Gemeinden darum bemühen könnten, ihren Mitgliedern die Aversionen vor dem Westen zu nehmen.

Das wäre doch immerhin ein Anfang.

Der Friederich, der Friederich – das ist kein arger Wüterich

März 5, 2011

Der Protest kam wie erwartet, und er kam hart: Die Kanzlerin solle ihren neuen Innenminister zurückpfeifen und ein Machtwort sprechen, fordert Ali Kizilkaya vom Deutschen Islamrat. Und Kenan Kolat, Chef der Türkischen Gemeinde in Deutschland, findet noch stärkere Worte: Wenn Hans-Peter Friedrich (CSU) Streit wolle, könne er ihn haben, sagte er der BILD-Zeitung. Bei der nächsten Sitzung der Islamkonferenz Ende März wird es wohl heftig krachen.

Was war geschehen? Friedrich, bis Donnerstag noch CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, hatte kurz nach seiner Ernennung zum Innenminister wiederholt, was er schon vorher gesagt hatte. Er teile die Aussage von Bundespräsident Christian Wulff nicht, wonach der Islam zu Deutschland gehöre. Dafür gebe es auch keine historischen Belege. Der Sturm der Entrüstung von Seiten der islamischen Verbände und der Opposition brach sich also Bahn.

Dabei scheint niemandem aufgefallen zu sein, dass die Situation noch viel absurder und despektierlicher wäre, wenn Friedrich im Amte seine Meinung plötzlich geändert hätte. Amtsträger sagen höfliche Worte fürs Protokoll, an die sie als Politiker nicht glauben, wäre die Botschaft gewesen. Wären die Islam-Verbände mit so einem Spruch etwa zufrieden?

Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung greift Georg Paul Hefty die Causa Friedrich auf und findet ein schönes und durchaus passendes Bild für das Verhältnis des Islam zu Deutschland. Er stimmt Friedrich in der historischen Perspektive zu und widerspricht ihm mit Blick auf die Zukunft. Es verhalte sich hier wie mit den Partnern der eigenen Kinder, die nicht fehlen, solange die Kinder nicht liiert und Verheiratet sind. Dann jedoch gehören die ehemals Fremden selbstverständlich zur Familie und würden bei Abwesenheit fehlen.

Ein interessanter Vergleich, der freilich auch in eine ganz andere Richtung weist: Durch eingeheiratete Partner verwandelt sich die Familie auch den Neuen an. Die nachfolgenden Kinder wachsen mit den Wertewelten der hinzugekommenen Partner auf, akzeptieren den Verwandschaftsstrang beider Eltern ganz selbstverständlich gleichwertig und verschieben durch diese Fusion die geistige Spur ihrer Herkommenschaft unmerklich aus der Bahn ihrer Vorväter.

Selbstverständlich und unbestritten gehören die Muslime zu Deutschland, da Wulff aber den Islam als Teil der hiesigen Wertewelt genannt hat, läuft es auf die Hefty-Metapher hinaus: Der Islam wird zu Deutschland gehören, wenn Deutschland islamischer geworden ist. Und damit sind nicht tote Bauwerke wie Moscheen gemeint, sondern eine weniger säkuläre Gesellschaft, eine, deren Rechtsverständnis sich in Akzenten wieder der Strafarchaik nähert, Resozialisierung oder Gnade skeptischer sieht und dem Regeln erfüllenden Dienst an der Gemeinschaft hier und da mehr Gewicht beimisst, als dem Individuum und seiner freien Entfaltung. Man kann das wünschen oder fürchten. Es wäre ein Prozess, der jenem der deutschen Einigung ähneln könnte. Die Vorhersagen, die Bundesrepublik werde östlicher und protestantischer werden, haben sich ja durchaus erfüllt. Nicht nur im Politikstil der Kanzlerin und in der Marginalisierung des konservativen Flügels der Union.

In diesem Sinne ist die Ansange des neuen Innenministers eine Ankündigung, die Muslime in Deutschland willkommen zu heißen, aber das Land nicht mit dem Islam „verheiraten“ zu wollen. Es ist das Selbstverständnis eines souveränen Gastgebers, der nicht im Wulff’schen Duktus alles mit allem liieren will: Den Islam mit Deutschland, das Christentum mit der Türkei und den Buddhismus mit der ganzen Welt. Friedrich ist der Realist, der akzeptiert, dass die Hagia Sophia eine Moschee ist. Und die Muslime, die darin beten, müssen nicht das Christentum adoptieren, dass 1500 Jahre dort seine Wurzeln geschlagen hatte. Es wäre schon genug, wenn sie die Christen im Lande nicht diskriminieren würden.

Wulffs harmoniesehnsüchtige Wunsch-Worte vertrauen nicht darauf, dass man auch mit Unterschieden fröhlich und friedlich leben kann. Sie liegen auf einer Linie mit all jenen, die die Türkei in die EU aufnehmen wollen, damit sie westlicher, europäischer werde. Das aber ist, um im Familienbilde zu bleiben, schlicht die falsche Reihenfolge: Man heiratet schließlich, weil eine Seelenverwandtschaft da ist, nicht, um sie herbeizuführen. Das ist eher das anatolische Modell.

Thilo und die Sarrazinen – Eine Bilanz

Dezember 31, 2010

Manchmal ist es hilfreich, die Gedanken ein wenig zu ordnen. Niemand hat 2010 in Deutschland so polarisiert, hat Öffentlichkeit, Politik und Medienmenschen in so unversöhnliche Lager gespalten wie Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Der Ex-Senator und inzwischen Ex-Banker hat das gute Gretchen bei der Frage endlich abgelöst: Wie hälst du’s mit dem Sarrazin? – ist für die gesellschaftspolitische Standortbestimmung, was die Beringung für den Vogelfreund ist. Was aber hat einen ehedem als rationalen Denker bekannten Politiker in die Lage gebracht, den einen als schändlicher Hetzer und den anderen als unkonventioneller Integrationsmessias zu erscheinen. Eine Analyse.

Integration: Sarrazin hat mit Hilfe verfügbarer, amtlicher und im Grunde bis heute nicht angezweifelter Statistiken (Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Schulbildung und –Abschlüsse, Sozialtransfers etc.) dargestellt, dass die Integration von Muslimen innerhalb der deutschen Gesellschaft große Probleme bereitet. Dies zu widerlegen, hätte es lediglich anderer Statistiken oder Untersuchungen bedurft, die einen höheren Prozentsatz gut integrierter Muslime ausweisen oder zumindest eine hoffnungsvollere Prognose stellen. Statt dessen wurden immer wieder Einzelbeispiele gelungener Einfindung in hiesige Verhältnisse präsentiert, was aber der logischen Beweisführung im Sinne einer Widerlegung nicht wirklich dient, so erfreulich jede Erfolgsvita auch sein mag. Ein vierblättriges Kleeblatt widerlegt nicht die Mehrheit der Dreier.

Abgelehnt wurde Sarrazins Analyse offen oder unterschwellig vor allem, weil gerade großstädtische Intellektuellen-Milieus sich dagegen verwahren, einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe ein schlechtes Zeugnis auszustellen. In einer konsensorientierten Gesellschaft, die etwa in Zeugnissen eine Pflicht zum positiven Urteil vorschreibt oder pädagogische Grenzziehungen stets durch positive Anreize, nie durch harte Konfrontation geben will, kann das nicht erstaunen. Die hermetische Unantastbarkeit des gefühlten Weltbildes durch Fakten war am Ende das wirklich Erstaunliche am Casus Sarrazin. Nicht einmal der investigative Eifer zur Widerlegung des Anstößigen durch Fakten, der bei anderen Gelegenheiten ein verlässlicher Medien-Reflex ist, wurde hier geweckt.

Vererbung von Intelligenz: Die Koppelung beider Themen machte die Abschiebung des Autors Sarrazin ins nazinahe Eugeniker-Ghetto besonders leicht. Bei näherem Hinsehen sind die Fakten freilich weit weniger skandalös. Sarrazin beschreibt – mit Rückendeckung der jeweiligen Forschungsgrößen auf diesem Gebiet – dass fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz auf Vererbung beruhen. Das sollte nicht weiter verblüffen, wenn man in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wie etwa bestimmte Veranlagungen von Händigkeit, Lese-Rechtschreibschwäche (prominentes Beispiel ist das schwedische Königshaus), Neigung zu Krebsleiden etc. durch genetische Prägungen wissenschaftlich nachgewiesen wurden. Dennoch ist Intelligenz mehr als die programmierte Vernetzungspotenz der Neuronen und wird maßgeblich auch vom Milieu geprägt, in dem sich das Aufwachsen vollzieht. Von intellektuellen Anregungen, Förderung und anderem.

Deutschland schafft sich ab: Wenn sich also Soziotope bilden, in denen wegen mangelnden sozialen und integrativen Erfolgs, auch derjenige Teil der Nachkommenschaft mit den Anlagen zu hoher Intelligenz nicht genug Stimulanz und Futter fürs Hirn bekommt, dann ist eine Niveauregulierung unterhalb der Möglichkeiten sehr wohl nachvollziehbar. Allerdings auch in Milieus ohne Migrationshintergrund. Und genau das beschreibt Sarrazin im ersten Teil des Buches auf mehr als einhundert Seiten. Das dramatische Untergangsszenario im Titel wird eben nicht einfach fremdenfeindlich an den Migranten hergeleitet, sondern aus einer fehlgeleiteten Sozialpolitik insgesamt begründet.

Sozialpolitik: Das hätte Sarrazins ausschlusswilligen Genossen der eigentliche Sprengstoff des Buches sein müssen: In seinen Augen muss das Fordern deutlich über das Fördern gestellt werden. Seine ebenfalls nicht sonderlich skandalöse, wohl aber unpopuläre These: Versorgung macht träge, das Packen der Betroffenen am Existenziellen setzt in Bewegung. Hier dürfte in der Tat ein fundamentaler Widerspruch zum sozialpolitischen Verständnis der SPD vorliegen.

Der Katalog der Gegenmaßnahmen: Bei seinen Vorschlägen ist Sarrazin viel radikaler und dann doch durchaus auch „linker“ als viele seiner Parteifreunde. Wenn man ihm etwas zum Vorwurf machen will, gibt die Liste der verpflichtenden Maßnahmen für Bildungsferne (Ganztagsschule, Hort, konditionierte Kindergeldkürzung etc.) für Freunde elterlicher Erziehungshoheit viel mehr her als der Rest des Buches. Im Grunde findet hier – von Einzelmaßnahmen einmal abgesehen – der Schulterschluss mit Sarrazin-Großkritikern wie etwa Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) statt, der immer wieder gern staatliche „Schicksalskorrektur“ für Unterschichtler und erfolglose Migranten fordert. Genau das schlägt Sarrazin mit der ihm eigenen Brachialität vor, nur merken es die lektüreverweigernden Kritiker halt nicht.

Die Politik: Thilo Sarrazin 2010 – gut, dass wir drüber geredet haben. Und jetzt weiter wie bisher.

Wulffs wunder Punkt

Oktober 19, 2010

Wir wollen an dieser Stelle nicht respektlos sein und das Amt des Bundespräsidenten auch nicht beschädigen, wie es so schön heißt. Christian Wulff hat auch in der Tat über weite Strecken eine passable Rede hingelegt in Ankara, hat Zypern angesprochen, Armenien diplomatisch umschifft, mehr Rechte für Christen eingefordert und das Land ermutigt, weiter auf dem Weg der Annäherung auf Europa zuzugehen (auch wenn seine eigene Partei dort kein Empfangskomitee bereithält).

In einem offenbart Wulff aber völlige Ahnungslosigkeit: Den Türken zu sagen, das Christentum gehöre zu ihnen, war der Bundespräsident sich wohl konsequenterweise schuldig, aber es ist noch absurder als der Ursprungssatz. 99 Prozent der Türken sind Muslime, Rechtssystem und Kultur sind muslimisch geprägt und eben nicht durch Aufklärung und Reformation gegangen. Auch Atatürks säkularer Staat sitz noch immer eher locker und mit militärischer Hilfe im Sattel. In weiten Teilen der Türkei gibt es genau deshalb (gern geduldet von Erdogans Partei) einen religiösen Roll Back. Wulff zeigt mit dieser plumpen Allegorie auf seine Einheitsrede lediglich, dass er die Tiefenprägung religiöser Denkwelten überhaupt nicht verstanden hat. (Der Link führt zu einem weiteren Missverständnis, das an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann.)

Er hat auch nicht gesagt, „Christen“ gehören zweifelsfrei zur Türkei, sondern er hat „Christentum“ gesagt und damit den gesamten Glaubenskosmos zu einer oberflächlichen Nettigkeit herabgewürdigt. Getreu dem nicht minder schlichten Slogan: Familie ist, wo Kinder sind. Christentum ist, wo Christen sind. Das ist einfach völliger Blödsinn und deklassiert Religion zur bloßen Folklore mit beliebiger Exportierbarkeit. Nach dieser Maxime ist Island, wo Trolle sind und Nirwana, wo einer Krishna singt.

Wulffs Zugehörigkeitsthesen haben nur einen Sinn, wenn man eine tiefere gesellschaftliche Prägung damit meint. Die gibt es schlichtweg in der Türkei nicht – aller christlicher Vorgeschichte zum Trotz. Man mag auf den Geburtsort von Johannes dem Täufer verweisen, auf Konstantinopel, Byzanz und die Hagia Sophia – der Mongolen-Sturm (Attila-Mythos) hat mit der Selbstsicht der Ungarn mehr zu tun als das Christentum mit der Selbstwahrnehmung der Türken heute. All das ist übrigens auch nicht schlimm – solange man die Unterschiede nicht in einer ahistorischen Harmoniesucht zu beschönigen sucht und sein Handeln auf gut gemeinten Wünschen aufbaut.

Beifall hat Christian Wulff übrigens nur mäßig bekommen für seine Rede. Dass er der Präsident der deutschen Türken sei, fanden wohl nicht alle Mandatsträger in Ankara plausibel.