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(K)ein Grund zu feiern – der Sozialismus, die Einheit und wir

August 14, 2020

Corona schreibt nicht nur Geschichte, es tilgt sie auch. Mit einem Hilferuf wandte sich unlängst das deutsche Bundesinnenministerium an Abgeordnete und Mitglieder des Festkomitees 30 Jahre Deutsche Einheit: Weil wegen der Pandemie sämtliche öffentliche Großveranstaltungen zum Jubiläum entfallen, wollte man all die vorproduzierten Werbegeschenke loswerden und bot kartonweise Schlüsselbänder, Kugelschreiber, Tassen, Schals, Stirnbänder, Powerbanks und sogar weiße Frotteesocken mit dem offiziellen Logo der nun abgesagten Feierlichkeiten (einem schwarz-rot-goldenen Herz mit Aufschrift) zur freien Mitnahme an.

So skurril die Idee gewesen sein mag, ausgerechnet einen der wenigen historischen Glücksmomente der Deutschen auf Frotteesocken in sommerlichen Schlappen durch die Welt zu tragen, so tragisch ist es, dass wegen der ausfallenden Volksfeste, Foren und Gedenkmomente auch die Reflektion über 30 Jahre Einheit, Erfahrungen, Episoden und Lehren nahezu komplett im Schatten von Corona versinken. Einige seltsam monochrom besetzte Gesprächsrunden im Amtssitz des Bundespräsidenten, bei denen ein schmaler von Verlustschmerzen linksalternativer Protagonisten gezeichneter Erinnerungsstreifen kultiviert wurde, kann da ebenso wenig ein Ersatz für breiten Diskurs sein, wie die gespenstig stillen Staatsakte, die uns das Virus bereits zum 75. Jahrestag des Kriegsendes bescherte: die Vertreter der vier Verfassungsorgane Kanzlerin, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts auf einsamen Abstands-Stühlen vor der Alten Wache in Berlin dem Bundespräsidenten lauschend.

Dabei drängen sich rückblickende Reflexionen in diesen Tagen nicht nur für mich auf, der ich mein Leben etwa hälftig (plus fünf Bonusjahre) in der DDR und in Freiheit verbracht habe. Es geht da nicht um eigenwillige Deja-vu-Episoden, wie etwa im Falle der 1988 aus der DDR ausgereisten Schriftstellerin Monika Maron, die im Zuge der Corona-Krise eine „Ausreiseverfügung“ für ihr Landhaus in Mecklenburg-Vorpommern erhielt und dies mit der galligen Bemerkung kommentierte, die deutschen Binnengrenzen ließen sich offenbar konsequenter schließen als die deutschen Außengrenzen.

Es geht vielmehr um gesellschaftliche Grundströmungen der Gegenwart, die vor der Folie des versunkenen Staatssozialismus‘ durchaus mit Gewinn zu diskutieren wären und wie schon die 30. Wiederkehr der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen DDR und Bundesrepublik nahezu geräuschlos vor den Fenstern des medialen Alltagszuges am 1. Juli vorbeiflogen.

Angesichts der geradezu dominohaft ins Freie kippenden Ostblock-Länder, kam man damals um die Frage nicht herum, ob dies einfach eine glückhafte Fügung der Geschichte sei und wenn nicht, welche systemischen (Denk)Fehler zum Kollaps des vermeintlichen Realsozialismus‘ geführt hatten.

Aus meiner Sicht besteht die Ursache für den Zusammenbruch östlich des Eisernen Vorhangs nicht in erster Linie in der äußerlichen Repression, der Mangelwirtschaft oder der ideologischen Gängelung. Der Kern des Scheiterns steckt in dem (durchaus gut gemeinten) Versuch, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen und dann mechanisch planvoll herbeiführen zu wollen. Auf dem etwas wackeligen ideologischen Unterbau von Marx und vor allem Lenin sollte die ewige Konkurrenz, die Ellenbogengesellschaft, die Arm und Reich, oben und unten, sprich verschiedene Klassen hervorbringt, überwunden und durch die Herrschaft der Massen (des Proletariats) ersetzt werden. Nicht die Eliten sollten das Sagen haben, sondern der breite, werktätige Unterbau der Gesellschaft, der seine bodenständigen, quasi blaumanntragenden Vertreter in die Regierungskomitees entsendet.

Als Denkexperiment eine immerhin nachvollziehbare Idee, bei der es formal mehr Gewinner als Verlieren geben sollte. Wenn der Mensch ein ideales, solidarisches Kollektivwesen wäre, hätte der Plan vielleicht funktionieren können. Ist er aber nicht. Wer durch Tüchtigkeit seinen Vorteil suchte und in der Masse nicht marschieren mochte, musste zwangsläufig unterdrückt werden, um die große Vision nicht zu gefährden. Die egalitäre Gesellschaft als globales Ziel, dass sich auch bei machtvoller Rahmensetzung nicht einstellen wollte.

Als ich Ende der 70er Jahre in der DDR aufs Gymnasium (Erweiterte Oberschule) wechseln sollte, ging es um die Erfüllung einer Quote von Arbeiter- und Bauernkindern, damit eben nicht wie im Westen Kinder von Beamten und Intelligenz schrittweise wieder zur nichtproduzierenden Elite aufsteigen sollten. Dazu wurde der Proletariernachwuchs im gesamten Bildungszug gezielt gefördert (und die Definition von Arbeiter großzügig auch auf Staatsbedienstete und bewaffnete Organe ausgedehnt). Nur durch glückliche Fügung und freiwilligen Verzicht einer Arbeitertochter gelangte ich auf die höhere Schule. Und genau hier schlägt sich die Brücke zur Gegenwart.

Eine Quote, die damals genauso wenig funktionierte, wie die heute mit Macht angestrebte Frauenquote. Weder auf den Schulen noch beim anschließenden Studium konnten sich die Kinder der einfachen DDR-Malocher in gewünschter Zahl etablieren. Es scheiterte nicht an den materiellen Voraussetzungen – die schuf der sozialistische Staat – , es scheiterte an Elternhäusern und oft auch daran, dass Intelligenzler konsequenterweise im Arbeiter- und Bauernstaat oft schlechter bezahlt wurden als die „herrschende Klasse“.

Mit anderen Worten: Bei beiden Quoten geht es darum, eine gewünschte gesellschaftliche Verteilung sozialer Merkmale herbeizuführen, die sich auch bei massiver Förderung per Selbstorganisation nicht einstellt. Für mich gehört das zu den zentralen Erkenntnissen aus dem Zusammenbruch des Sozialismus‘: Man kann fördern und anreizen, aber man muss nüchtern analysieren, wenn vorgestelltes gesellschaftliches Ideal und Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen sind, ob das Ziel womöglich unrealistisch, ob der Weg dorthin vielleicht einfach nur länger oder ein anderer ist.

Erst nach und nach im Laufe der Nachwendejahre habe ich gemerkt, dass die Überzeugung, Ziele in erster Linie evolutionär zu erreichen, im Westen gar nicht so selbstverständlich und tief verankert ist, wie ich dies immer vermutet hatte. Offenbar sind ehedem viele durchaus zentrale Grundsätze nicht aus freiheitlich-demokratischer Erkenntnis, sondern lediglich aus der Augenblicksopposition zum Realsozialismus abgeleitet worden und stehen deshalb heute (für mich verblüffend) wohlfeil zur zeitgeist-taktischen Preisgabe an.

Es sind diese historischen Linien, die das Einheitsjubiläum durchaus auch für die politische und gesellschaftliche Gegenwart produktiv machen könnten und durch den Wegfall des eigentlich geplanten breiten Veranstaltungsteppichs zwischen Mauerfall und Einheitsfeier am 3. Oktober 2020 nun unbeleuchtet bleiben. So drängt sich der Verdacht auf, dass die egalitäre Gesellschaft ebenso eine Illusion war, wie es die beschworene Geschlechter-Parität heute ist. Dafür spricht zumindest, dass etwa bei der Wahl von Studienfächern nach wie vor starke, von klassischen Rollen geprägte Geschlechterdifferenzen bestehen, also die individuellen Lebensentscheidungen nicht dem gesellschaftlichen Wunschbild angepasst werden.

Wenn das Volk, „der große Lümmel“ (Heinrich Heine), aber trotz alljährlicher „Girls Days“, druckvoll in öffentliche Texte und Medien eingeführten Gender-Sprech und massiver Frauenförderung, schon wieder nicht den Visionen der Vordenker folgen mag, dann muss die gewünschte Realität eben verordnet werden, wie ehedem die nächst höhere Stufe des Sozialismus‘. Das ist viel weniger polemisch gemeint, als analytisch. Auch die Vermutung, dass die Verwendung bestimmter Worte und die Unterdrückung anderer das Denken wunschgemäß in einen angestrebten Zielkorridor lenke, war den Bewohnern des verblichenen Ostblocks nicht fremd.

Ich erinnere mich beispielsweise, wie Ende der 80er Jahre unser Chefredakteur der „Neuen Zeit“ von den wöchentlichen Anleitungen beim Chef des DDR-Presseamts, Kurt Blecha (gestorben 2013) mit der Botschaft zurückkam, das fortan die Vokabel „Volksschwimmhalle“ (nebst anderen Komposita mit „Volk“) nicht mehr zu verwenden sei. Der Grund: Sie insinuiere, dass es außer dem Volk noch etwas anderes oder gar eine Hierarchie geben könnte. Massiven Ärger hatte ich bereits in der Grundschule, als statt des progressiv konnotierten Wortes „Kampuchea“ für die Mörderbanden des Pol Pot, das im West-Rundfunk gebräuchliche „Kambodscha“ verwendet und mich schließlich mit „Rote Khmer“ völlig entlarvt hatte.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob derartigen Erscheinungen von einem repressiven Staatssystem ausgehen oder unter den Bedingungen der Freiheit im Kräftespiel der politischen Ideen hervorgebracht werden. Die auffällige Ähnlichkeit der Erscheinungen und deren offenkundige Erfolglosigkeit beim Hervorbringen gewünschter gesellschaftlicher Verhaltensmuster, darf aber durchaus zu denken geben. Es ist eine Art Rückwärts-Denke: Da das Ziel (weil zweifellos gut), nicht zur Disposition stehen kann, das vertrackte Volk bei freiem Willen sich dem aber nicht annähert, müssen die Zügel administrativ angezogen werden. Offenbar erliegen damals wie heute viele der Vorstellung, dass aus Wunsch zwingend Wirklichkeit werden müsse und kommen nicht auf die Idee, dass eine homogene, nach zahlenmäßigem Anteil sozialer Merkmale repräsentative Gesellschaft nicht nur lebensfremd, sondern sogar gefährlich ist, wenn man sie mit administrativem Furor herbeiführen will.

Dabei sind Parität und Gender-Sprech nur ein kleiner Aspekt, der im Rückblick auf Wende und Einheit nachdenklich macht. Die nachträgliche Säuberung von Geschichte, der Sturz von Denkmalen und die Umbenennung von Straßen und Gebäuden nach heutigen moralischen Reinheitsvorstellungen – all das muss man zwar nicht gleich mit Stalins Gruppenbildern assoziieren, auf denen die Retuscheure mit fortschreitender Raserei des Diktators immer weniger Gruppe übriglassen durften. Aber die zum Teil bis heute sichtbare Inflation an Karl-Marx-Straßen, Lenin-Alleen oder Ernst-Thälmann-Plätzen im Osten zeigt doch, wie zeitgeistgetrieben, untauglich und sinnlos der Versuch ist, alles misstimmige aus dem kollektiven Gedächtnis drängen zu wollen. Das Leben mit und im Wissen um die menschliche Widersprüchlichkeit und moralische Fehlbarkeit ist wichtiger und produktiver für offene Gesellschaften, als das ahistorische Planieren des und der Gewesenen.

Und noch ein Effekt ist vor dem Hintergrund des Jubiläums interessant: Die Verwechslung des Europäischen Ideals mit den Wegen und Mitteln zu seiner Erreichung. Es gehörte zu den Dauerphänomenen im Osten, dass die Kritik an konkreten Alltagsmissständen augenblicklich als Infragestellung des Sozialismus‘ in seiner Existenz und als Ziel gegen einen verwendet werden konnte. Ein Kniff, der selbst (partei)treue Sozialisten rasch zu Feinden und Dissidenten umzuetikettieren erlaubte und heute in vielerlei Bezügen wieder anzutreffen ist: Wer die Quote für untauglich hält, ist Frauenfeind, wer die Homo-Ehe nicht verficht, homophob, und wer auf innereuropäische Bruchlinien und fatale Mechaniken zur Vertiefung der europäischen Integration hinweist, stellt angeblich die Vision des geeinten Kontinents insgesamt in Frage.

Ein Reflexbogen, der mich immer verwundert hat. Je intensiver man ein Ziel anstrebt, desto wichtiger ist doch der nüchterne, ungeschönte Blick auf die Tatsachen, um sich nichts vorzumachen und der Gefahr idealistischer Hohlraumkonservierung zu entgehen.

Und schließlich lohnt im 30. Jahr nach Wende und Einheit ein weiteres Phänomen der Betrachtung: die raffinierten Formen des Entstehens von Konformität unter den Bedingungen der freiheitlichen Gesellschaft. Versuchte der reale Sozialismus ehedem, den mentalen wie gesellschaftlichen Gleichschritt mit Repression, Angst, Bespitzelung, Entzug und Zuteilung von Lebenschancen zu erzwingen, so fügen sich heute relevante Gruppen offenbar einem seltsamen Sog aus Vorteil, Diskursvermeidung und wohl auch gelegentlicher Gedankenlosigkeit.

Als im Zuge von Corona auch politische Spitzengremien notgedrungen zu Videokonferenzen übergingen und damit (ohne ins Detail gehen zu wollen) auch journalistischer Nachverfolgung neue Möglichkeiten des Einblicks in interne Abläufe lieferten, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass sich ein gewisser devoter Gestus offenbar über die Zeiten gerettet hat. Selbst kritische Geister, die in der öffentlichen Wahrnehmung durch ihr beherztes Kontra gegen die eigene Partei- und Regierungsspitze auffallen, leiteten intern ihre Wortbeiträge mit dem Lob etwa der Kanzlerin und deren erfolgreicher Politik ein, um anschließend allenfalls mögliche Fehlentwicklungen zu bedenken zu geben. In der anschließenden Schilderung klang das dann wieder nach Pulver und Aufstand.

Man kann das als lässliche menschliche Schwäche sehen, darf aber doch zur Kenntnis nehmen, dass der Schutz der wärmenden Gruppe offenbar auch ganz ohne Repression gesucht wird, wenn man für die eigene Meinung im Grunde nichts zu fürchten hätte. Abgeordnete, die bei kritischen Beiträgen unter dem Tisch klopfen, um vom Präsidium her nicht ortbar zu sein, unangenehme Shit-Stürme, denen man sich lieber durch Wegducken entzieht, das Vorsortieren von Fakten nach Herkunft und das parteiische Delegitimieren bestimmter Quellen oder Autoren – all das sind Erscheinungen, die das Gefühl des „aufgestoßenen Fensters“ (Stefan Heym) der Wendezeit dreißig Jahre Später mitunter wieder durch ängstliche Muffigkeit ersetzt.

Nun ist Klagen schon traditionell des Ossis liebstes Geschäft. Deshalb sei hier nicht wehleidiger Miesepetrigkeit das Wort geredet, sondern der große Schritt von damals in die Freiheit gewürdigt, der das ungehinderte Referieren eben auch solch seltsamer Analogien erst möglich machte. Denn auch das Einfordern von Optimismus („Wo bleibt das Positive?“) und die Neigung, dass Kritik ausschließlich „konstruktiv“ zu sein habe, sind Reflexe, die sich gut über die Zeiten gerettet haben.

Ralf Schuler (geb. 1965) in Ost-Berlin ist Leiter der Parlamentsredaktion von BILD. Zuletzt erschien sein Buch „Lasst uns Populisten sein“ im Herder Verlag

(Dies ist die ungekürzte Fassung eines Gastbeitrags, der am 11. August 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.)

Worum es beim Euro wirklich geht

Juni 22, 2011

Warum sollte es bei der Griechenland-Krise anders sein: Wieder einmal hat niemand außer Joseph „Joschka“ Fischer die wirkliche Dimension der Krise begriffen. Der geniale Global-Stratege, der sich schon ehedem am „euro-asiatischen Krisenbogen“ trefflich abarbeitete, hat in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung all den politischen Amateur-Akteuren noch mal ausführlich erklärt, worum es eigentlich geht: „Es geht um fast alles!“

Das haben zwar von den Frankfurter Analysten über die Politik bis zu den meisten Kommentatoren auch schon alle begriffen, aber als notorischer Stammbuchschreiber fühlt man sich einfach besser. In der Sache dürfte Fischer freilich durchaus recht haben, wenn die zahllosen Domino-Szenarien der Experten nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Das Fatale ist allerdings, dass in dem dramatischen Appell vor lauter Notrettung der Blick für das eigentliche Problem etwas abhanden kommt.

Ein System, bei dem es in einer Krise „um fast alles!“ geht, ist nach alles Regeln der Erfahrung am Ende. Funktionierende Systeme bewältigen heikle Situationen durch Korrekturen und Krisenmanagement, durch Nachsteuern oder Notprogramme, sind aber trotz Schwierigkeiten nicht in ihrer Existenz gefährdet. Firmen mit Absatzkrise brauchen Kredite, Kurzarbeit oder Teilstillegungen. Wenn es „um fast alles geht!“ sind sie entweder schon überschuldet oder in einer Sackgasse des Marktes.

Wenn es „um fast alles!“ geht, sind wir auf dem Feld des Politischen beispielsweise beim Kollaps des Staatssozialismus 1989 ff. Damals sorgte der Entzug von Protektion und wirtschaftlicher Beatmung durch die Sowjetunion für den Zusammenbruch des gesamten Ost-Blocks. 1989 ging es für den Sozialismus nicht nur „um fast alles!“, sondern schlicht um alles. Das nun zu Tage tretende dramatische Verkoppelt-Sein des Euro-Systems macht eines deutlich: seine Fehlkonstruktion.

Denn selbst wenn die Griechen-Rettung glückt, ist im Euro-Raum ein so atemberaubend verschachteltes Konstrukt aus Bürgschaften und Rettungskäufen von Schrott-Papieren entstanden, dass man dagegen mit einiger Berechtigung spekulieren kann. Es ist, als hätte sich ein Bergretter an einem offensichtlich zu dünnen Seil zu einem Absturzopfer in der Wand herunter gelassen. Was wie eine Rettung aussieht, ist in Wahrheit ein Himmelfahrtskommando.

Ein interessantes Indiz für die Krankheit des Euro ist auch die Argumentation einiger vehementer Rettungsbefürworter. ,Wir brauchen den Euro, weil Deutschland den Löwenanteil seiner Exporte in Europa tätigt’, heißt es. Griechenland könne aus dem Euro nicht austreten, weil die neue Währung so dramatisch abgewertet werden müsste, dass man nach Griechenland nichts mehr exportieren könne.

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Behauptungen, verbirgt sich dahinter dreierlei: Erstens: Ökonomischer (Selbst-)Betrug mit System: Den Wert der griechischen Währung der realen Wirtschaftskraft anzupassen, ist leider nicht praktikabel. Zweitens: Wir reiten die Griechen mit einer weit offenen Schere zwischen Realwert der Währung und Euro-Wert bewusst ins Dilemma, damit sie sich unsere Exporte leisten können. Und drittens: Wir brauchen eine Gemeinschaftswährung zu unserem Vorteil. Letzteres klingt so, als würde wer eine WG gründen, damit jemand für ihn kocht. Das einzig akzeptable Argument für gemeinsames Geld kann doch nur gemeinsamer Nutzen nicht. Wer mit unseren Vorteilen wirbt, ist im Grunde schon ein Ego-Europäer.

Mit den angebotenen Lösungen sieht es allerdings auch nicht gut aus. Zeigt die Griechen-Rettung, wie wenig Bereitschaft es in Europa gibt, für andere Länder zu zahlen, so ist die Forderung, die politische Einheit voranzutreiben, der sichere Weg in den Untergang. Nachhaltiger kann man die Akzeptanz Europas nicht verspielen, als wenn man supranationalen Behörden mehr Macht gibt. Regionalisieren lässt sich der Euro nicht, und rückabwickeln will ihn auch niemand.

Wenn es diesmal beim Euro „um fast alles!“ geht, worum geht es dann beim nächsten Mal?

Den Euro in seinem Lauf…

Juni 13, 2011

Neben Indoktrinierung, Misswirtschaft und ideologischer Scheuklappen-Politik ist der Staatssozialismus vor allem an einem gescheitert: an dem Versuch, ein gut gemeintes Gesellschaftsmodell zu etablieren und diesem die Realität unterzuordnen. Es hätten nur alle mitmachen müssen, und der Sozialismus hätte geklappt.

 Wenn alle mitgemacht hätten, hätte auch der Euro ein Erfolg werden können.

 Nun ist die Idee vom geeinten Europa mit dem Staatssozialismus Stalin’scher Prägung nicht wirklich vergleichbar, weil Europa ein Bund der Freiheit, nicht des Zwanges sein soll. Dennoch wohnt man den immer neuen Rettungsversuchen mit einiger Verwunderung bei, weil die Ursachenforschung – wie bei einer falsch geknöpften Jacke – offenbar immer nur bis zum vorherigen Knopf reicht. Jeder weitere ist zwingend und „alternativlos“ bis das Malheur perfekt ist. Geht man zurück auf Start, so bietet sich ein ganz anderes Bild: Schon bei der Einführung des Euro wurden die Europäer nicht mitgenommen. Zu groß und wichtig war die Vision von der gemeinschaftlichen Zukunft, zu der die Gemeinschaftswährung unbedingt gehörte, als dass man die Bürger darüber hätte abstimmen lassen wollen. Wo dies geschah (Irland), ging es prompt schief, und die Briten hielten sich gleich ganz raus.

 Kritiker, die darauf hinwiesen, dass die unterschiedliche Wirtschaftsstärke der Mitgliedsländer künftige nicht mehr würde durch Abwertung ausbalanciert werden können, wurden zu Außenseitern und Spinnern gestempelt. Sie haben schlichtweg recht behalten, weil der Verweis auf die USA schon damals nicht wirklich trug: Dort stehen Bundesstaaten gegeneinander, nicht souveräne Nationalstaaten wir in Europa. Und es betrachten sich die meisten Menschen dort zuerst als Amerikaner. Es kann ja nichts passieren, wurde den euroskeptischen Deutschen erklärt, es gibt ja den Euro-Stabilitätspakt und die Maastricht-Kriterien. Mehr als drei Prozent Defizit dürfen die Euro-Länder gar nicht machen. Als ausgerechnet Deutschland diese Marke in Serie riss, ließ Berlin die allzu harte Regel aussetzen, bis es wieder genehm war und kein Blauer Brief aus Brüssel mehr drohte.

 Als Griechenland 2002 dem Euro beitrat, führte es die anderen Währungspartner mit einer so aberwitzig einfachen Masche hinters Licht, dass EZB, EU-Kommission und Jean Claude Juncker eigentlich noch heute vor Scham im Boden versinken müssten. Man meldete einfach falsche Wirtschaftszahlen nach Brüssel! Nichts weiter. Keine Verrechnung des BIP mit dem Reziproken der Metaxa-Öchsle-Zahl oder Addition der Gyros-Konstanten zum Korfu-Faktor der insularen Fisch-Produktion. Einfach die von Brüssel geforderte Wunschzahl auf die Realkonjunktur draufgeschlagen, frisch ins Kuvert und unbeschwert nach Europa geschickt. Eine so abgrundtiefe Blamage, dass sie bis heute eigentlich nicht wirklich aufgearbeitet ist. Statt Bankraub, der Griff in die offene Kasse.

Jetzt, knapp zehn Jahre und drei Milliarden-schwere Rettungspakete später, hat man sich nicht etwa bei den damals verfemten Euro-Skeptikern entschuldigt, sondern stillschweigend das Reglement geändert. Die einst ausdrücklich ausgeschlossene Umverteilung zwischen den Euro-Ländern, soll nun in Form des Stabilitätsmechanismus‘ ESM zu einer festen, dauerhaften Einrichtung werden. Und was noch viel schlimmer ist: Man hat die Europäer am Beginn des Euro nicht mitgenommen, und man hat auch nicht vor, sie jetzt beim weiteren Verbrennen von Steuermilliarden mitzunehmen.

 Wenn es denn tatsächlich so ist, dass jeder Preis, um dessen willen man Griechenland rettet, geringer wäre, als der Preis für eine unkontrollierte Pleite Athens, dann müsste sich endlich jemand von großen europäischen Staatslenkern zu einer ernsten Ansprache ans Volk erheben: ,Wir stehen vor einem wirtschaftlichen Abgrund. Wir retten nicht Griechenland, sondern unsere eigenen Volkswirtschaften, unsere mit Staatsanleihen abgesicherten Renten, unsere Banken, die die Wirtschaft mit Krediten am Leben halten, unseren Wohlstand. Diese Rettung wird teuer, aber alles andere wäre der Ruin.‘

 Wenn Europa nicht endlich beginnt, Politik mit den Europäern zu machen und nicht über sie, wird dieses Projekt scheitern. Wenn die Griechen etwa in einer Volksabstimmung erklären, sie hätten jetzt genug vom Sparen, könnte selbst im dringendsten Eigeninteresse das restliche Europa keine weiteren Hilfen nach Athen schicken und müsste sich mit den Folgen einer wirklich tiefgreifden Euro-Krise in den eigenen Volkswirtschaften herumschlagen. Es geht nicht um neue Institutionen, eine EU-Wirtschaftsregierung oder noch tiefere Integration der Mitgliedsländer. Im Gegenteil. Es geht schlicht darum, die hehre Vision von Europa auf das Maß der tatsächlichen Gemeinsamkeiten der Europäer zurückzustutzen. Das wird dem alten Kontinent besser bekommen, als Enthusiasten, denen es beim schiefen Zuknöpfen der Europa-Jacke gar nicht schnell genug gehen kann.

Euro-Jenga

November 23, 2010

Europa ist eine  Fiktion. Eine wünschenswerte – durchaus. Aber es ist keine Realität. Das ist das Problem. Irgendwann nach dem letzten Krieg gab es etliche kluge Köpfe, die fanden, es sei an der Zeit für einen geeinten, starken, friedlichen Kontinent. Da sprach und spricht nichts dagegen, und Deutschland sprach dafür, weil der vorsichtige Auftritt im europäischen Ensemble der einzig akzeptierte Weg zurück auf die politische Weltbühne war für den Doppel-Frevler des 20. Jahrhunderts.

 Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Montan-Union, hat sich Europa gemausert. Es hat ein Parlament, eine Kommission, einen Vertrag und sogar eine Währung. Einen europäischen Geist hat es noch immer nicht. Man kann darüber streiten, ob die Europäer ohne Brüssel längst wieder übereinander hergefallen wären (ich glaube das nicht), Fakt ist aber, dass nun innerhalb der EU noch immer jenes geostrategische Kräftespiel gespielt wird, dass früher ohne sie auch gespielt wurde. Und wenn es drauf ankommt, macht jeder was er will, zieht in den Irak-Krieg oder nicht, verbittet sich Reglementierungen seiner Autoindustrie oder Gängelung der Bauernschaft. Aber immerhin: Die Hygienebestimmungen für Rohmilchkäse sind harmonisiert.

 Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: All das ist gut so, weil es die Realität abbildet. Der Euro bildet die wirtschaftliche Realität seiner Mitgliedsländer nicht ab, und genau da beginnt das Problem. Wie beim lustigen Jenga-Turm haben die Europäer wundervolle Visionen etagenweise übereinander gestapelt. Die Gemeinschaftswährung nimmt einen großen, einigermaßen homogenen Wirtschaftsraum vorweg, der in der Realität nicht existiert. In der Krise konnte nun – wie die Euro-Kritiker es übrigens vorausgesagt hatten – nicht durch nationale Notenbankpolitik gegengesteuert werden.

 Deshalb wird nun der Ruf nach einer europäischen Wirtschaftsregierung laut, die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf dem Kontinent vereinheitlichen soll. Die Idee ist logisch und folgerichtig, aber sie ist eine Illusion: Wenn die Euro-Staaten die gleichen Vorstellungen von ihrer Wirtschaftspolitik hätten, würden sie schon jetzt ähnlich wirtschaften. Tun sie aber nicht, und sie werden es sich auch von einer europäischen Zentralbehörde nicht vorschreiben lassen. Während die haushaltspolitische Etage des europäischen Jenga-Turms noch wackelt, soll rasch eine weitere oben drauf gelegt werden.

 Wenn man etwas vom realen Sozialismus lernen kann, dann, dass Wünsche nicht dadurch wahr werden, dass man sie beschließt. Manche meinen, die Türkei würde europäischer, wenn man sie rasch in die EU aufnähme – da ist der Jenga-Turm der Illusionen schon zum Traum-Tower geworden. Und auch der Euro ist längst nicht sicher. Der 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirm ist schließlich kein reales Rücklagenkonto für Notzeiten, sondern eine leere Kasse, aus der sich wankende Staaten trotz Überschuldung günstig etwas borgen können, weil die anderen bürgen. Wenn die anderen tatsächlich zahlen müssten, weil das Geborgte nicht in die Kasse zurückkommt, würden vermutlich alle wanken. Und die martialischen Sparprogramme der nächsten Pleitekandidaten haben bislang lediglich dazu geführt, dass Portugal und Spanien nur noch ein recht kleines Defizit haben. Saniert ist niemand.

 Der Fehler des Euro bestand darin, das Versagen seiner Teilnehmer nicht mit der gleichen Intensität vorauszudenken wie seine Chancen. Ein Fehler, der allen großen, faszinierenden, guten und schönen Visionen anhaftet und sie zu tickenden Zeitbomben macht. Der Mensch lernt aus Fehlern, in einer globalisierten Welt, könnte das womöglich eine Idee zu spät sein.

Gut gemeinter Unsinn

September 23, 2010

Gut gemeinter Unsinn ist nicht zu stoppen. Erst, wenn er sich selbst widerlegt hat, greift Einsicht in der Breite. Wenn Unfug nur einem guten Ziel dient, ist mit logischen Einwänden und sachlicher Kritik nichts zu machen. Siehe auch: Sozialismus, Dosenpfand, reformpädagogische Experimente…

Quoten-Reigen: Die einheitliche Gesellschaft

August 2, 2010

 

Vor einiger Zeit machte die Deutsche Telekom damit Schlagzeilen, bis 2015 dreißig Prozent aller Führungsposten im oberen Management mit Frauen besetzen zu wollen. Der Verlag Axel Springer zog alsbald nach, und überhaupt ist die Löblichkeit solcher Vorstöße in öffentlichen und veröffentlichten Meinung weitgehend unumstritten. Die Wirtschaft, heißt es in entsprechenden Kommentaren dann meist, könne sich nicht länger leisten, auf diese kompetenten weiblichen Fachkräfte zu verzichten. Woraus wir schließen, dass auch die ansonsten in puncto Eigennutz recht kompetente Wirtschaft hier Nachhilfe braucht.

Lediglich über die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll, gibt es Debatten. Plausibel und folgerichtig sind derartige Initiativen allerdings nur, wenn man unterstellt, dass eine anteilmäßige Gleichverteilung sozialer Merkmale in der Gesellschaft gewissermaßen der Normalfall sein müsste, dem mit derlei Quoten auf die Sprünge zu helfen sei. Für diese Art von regelmäßiger Homogenität gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

Wenn es eine Gesetzmäßigkeit in dieser Richtung gäbe, ließe sich zunächst einmal schwer erklären, warum sich die Initiativen zur Korrektur des Missstands nahezu ausschließlich auf die Elite-Bereiche der Gesellschaft beschränken. Wäre das Gleichmaß der Geschlechter ein Naturgesetz, so wären vermutlich nicht nur ein Fünftel aller deutschen Gefängnisinsassen Frauen. Eine unziemliche Bevorzugung von Männern bei der Aufnahme in den Strafvollzug scheint ja nicht vorzuliegen.

Es stellte sich aber auch die Frage, warum vor allem das Geschlecht zur einheitlichen Verteilung prädestiniert sein sollte und nicht auch andere soziale Merkmale. Die Ostdeutschen stellen zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung aber nur fünf Prozent der Eliten. Warum machen Springer und Telekom also kein Selbstverpflichtungsprogramm für einen angemessenen Ossi-Anteil in ihren Unternehmen? Die Erklärung ist so einfach, wie die Vorstellung einer solchen Quote absurd ist: Die Geschlechter-Parität ist eine gesellschaftliche Wunschvorstellung, die einer tiefen Sehnsucht nach Harmonie entspringt wie etwa auch die Vision einer sozialistischen Gemeinschaft weitgehend gleicher, friedfertiger und fleißiger Menschen.

Man kann diesem Ideal gut und gern anhängen und durch die Beseitigung aller rechtlichen Ungleichheit zuarbeiten. Wo dynastische Verfilzungen auftreten oder ungerechte Zugangsbedingungen herrschen, kann man einschreiten. Sobald man aber aktiv in die Gestaltung sozialer Verteilung eingreift, wird es problematisch. Die Parteitage der Bündnisgrünen sind dafür ein gutes Beispiel. Weil sich in Debatten meist mehr Männer als Frauen zu Wort melden, ist es seit langem Usus, die „Redeliste“ nach der letzten Frau zu schließen. Melden sich sechs Frauen und neun Männer, so dürfen abwechselnd also je sechs „RednerInnen“ ans Pult, drei Männer müssen auf ihren Beitrag verzichten. Mit Demokratie hat das wenig zu tun. Konsequent zuende gedacht, wird das urdemokratische Prinzip „Ein Mensch, eine Stimme“ hier bereits ausgehebelt, und es geht nicht mehr um die sachliche Substanz der Beiträge, sondern um eine mechanische Symmetrie, wie sie in freien Gesellschaften eigentlich nicht vorkommt. Es empfiehlt sich zudem stets Wachsamkeit, wenn Rechtsgrundsätze vermeintlich im Namen der guten Sache preisgegeben oder ausgesetzt werden.

Auch der vorwurfsvolle Verweis auf die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen ist im Grunde völlig absurd. Natürlich gibt es gute Gründe, warum zwanzig Jahre nach der Wende noch kein DDR-Mensch einen Dax-Konzern führt – weder konnte und wollte man 1990 verdiente Kombinatsdirektoren in die Vorstände holen, noch sind Nachwende-BWL-Studenten heute in ihrer Erwerbsbiografie schon so weit aufgestiegen, dass eine solche Karriere logisch wäre. Im Grunde aber müsste man sich angesichts dieser Debatte fragen, ob eigentlich eine Mehrheit deutscher Führungskräfte aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen kommt. Wenn nicht, müsste dies korrigiert werden. Auch Bayern und Schwaben müssten bundesweit gleich verteilt sein, wenn es eine natürliche Homogenitätsregel gäbe. Gibt es aber nicht.

So haben etwa die Kinder asiatischer Einwanderer eine höhere Abiturquote als die deutschen Schüler, arabische Migrantenkinder sind an Gymnasien dramatisch unter-, in Haftanstalten deutlich überrepräsentiert. Am Ende gerät man mit diesem mechanischen Gesellschaftsbild in ziemlich trübes Fahrwasser, weil die Vokabel „Überfremdung“ ja im Grunde nichts anderes ist, als das Einklagen einer vermeintlich „normalen“ Dominanz der Mehrheiten im Sinne der Sozialstatistik: Frauen hälftig verteilt, Ausländer gemäß ihrem Anteil etc. Juden hatten vor Hitlers Machtergreifung einen Anteil von 0,9 Prozent an der deutschen Bevölkerung und wären demnach in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Elite (Richter, Hochschullehrer, Kunst, etc.) überrepräsentiert gewesen. So waren etwa 70 Prozent der Zeitungsverlage in jüdischer Hand. Kein normal denkender Mensch käme ernsthaft auf die Idee, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen zu wollen oder gar Quotierungen zu fordern. Diejenigen, die Schlussfolgerungen zogen, waren Verbrecher.

Gesellschaften sind nicht homogen. Und es ist auch gar nicht wünschenswert, dass sie es sind, weil auch Menschen nicht gleich sind, gleich sein wollen, gleich sein sollen. Gibt es eine sinnvolle Erklärung dafür, dass nahezu alle bedeutenden deutschen Entertainer – von Jauch bis Schmidt, von Gottschalk bis Kerner – katholisch sind? Müsste es nicht ein Quote für deutschsprachige Musik geben? Und sind Homosexuelle wirklich gleichverteilt im Land? Man kann durchaus Quotierungen in allen möglichen Gesellschaftsbereichen einführen, nur sollte man sich immer klarmachen, dass man damit meist keinem realen Missstand abhilft, sondern eine gesellschaftspolitische Vision anstrebt. Das ist meistens gut gemeint, schadet nicht oder nur wenig, ob es wirklich gut ist, wird man später sehen.

Einmal DDR, Hartz IV und zurück

März 22, 2010

Um „anstrengungslosen Wohlstand“ geht es in der Hartz IV-Debatte und um die Frage, wie auskömmlich die Unterstützung für Hartz IV-Empfänger sein sollte. Für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ habe ich dazu einmal den Vergleich zum Sozialismus-Versuch der DDR gezogen.

Das Schicksal der Kinder liegt im Argen, nicht in den Argen

Februar 10, 2010

Dass ihm nicht selbst schwindelig wird! Heribert Prantl, Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung, hat das jüngste Urteil zur Revision von Hartz IV wieder einmal zum Anlass genommen, seine Lieblingsvokabel von der staatlichen „Schicksalskorrektur“ für die Kinder von Geringverdienern und Hilfeempfängern ins Spiel zu bringen. Wir wissen nicht, wann Heribert Prantl zum letzten Mal eine Arbeitsagentur besucht hat und ob er bei diesem Anblick auf die Idee gekommen ist, das Schicksal von Menschen Vater Staat und Mutter Verwaltung in die Hand zu legen.  Jenseits aller Polemik bleibt die Vorstellung aber mehr als monströs: Zum letzten Mal hat es der reale Sozialismus versucht, das Schicksal der Menschen zu bestimmen. Als jemand, der an diesem Versuch zweieinhalb Jahrzehnte teilgenommen hat, wäre mein Bedarf an der Beschaffung von Lebenschancen per Beschluss erst einmal gedeckt.

Prantls Ansatz ist bezeichnend für jenes wohlmeinende Sozial-Temperament, dass Gutes erreichen will, indem man den Menschen Gutes tut. Leider ist es nicht so einfach. Das Problem beginnt bei dem grenzenlosen Anspruch des Vorhabens. Wer ein Schicksal in eine „gute“ Richtung schieben will, kann und muss so ziemlich alles fordern, was dazu nötig ist. Die Chancenbereitstellung wäre nahezu grenzenlos, wenn man den Anspruch der Schicksalskorrektur ernstnehmen wollte, so dass kein Sozialsystem ausreichen würde, ihn zu erfüllen. Das nächste Problem ist die schleichende Rückgabe des Schicksals in die Hände seines Inhabers, was – soweit kennt man den Menschen ansich – nicht funktioniert. Man kann niemandes Lebenslauf anschieben und dann sagen: Bis hierher und nicht weiter. „Schicksalskorrektur“ ist der Einstieg in die lebenslange Vollversorgung des Menschen, die ein Staat nicht leisten kann (finanzielle und logistisch), nicht leisten soll (weil es entmündigt) und auch gar nicht leisten darf. Und schließlich stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis jene zu den „Schicksalskorrigierten“ stehen, die ihr Schicksal von Anfang an selbst in die Hand genommen haben. Sind sie am Ende die Dummen, die Draufzahler, die mit viel Anstrengung dorthin gekommen sind, wohin man die anderen gebracht hat?

Prantls Schlagwort bezeichnet in der Tat eine Grenze, die nicht überschritten werden darf: Die Verantwortung darf in letzter Instanz dem Individuum nicht genommen werden. Die Würde des Menschen ist unantastbar, man darf und muss ihm Hilfestellung geben. Der Mensch ist aber keine Modell-Eisenbahn, die per Amtskran auf ein Gleis gestellt werden kann und losfahren soll.  Es steht zu befürchten, dass die Debatten um eine Reform von Hartz IV sich nun genau darum drehen werden, ob und wie weit das Transfersystem ausgebaut werden soll. Die Gefahr, dass sich die Gutmeinenden populär durchsetzen und den Staat mit Aufgaben überfrachten, an denen er sich nur verheben kann, ist dabei sehr groß.  So, wie Schulen heute nicht mehr nur Wissen vermitteln, sondern Orte „der Lebensertüchtigung“ sein sollen, könnte dem Sozialstaat eine Schicksalsleitfunktion übertragen werden. Beide Institutionen sind damit überfordert, wie es überhaupt fraglich ist, ob die Probleme von Familien außerhalb von Familien zu lösen sind.

Das Schicksal der Kinder liegt in der Tat oft im Argen. Es sollte nicht in ihnen liegen.