Willkommen in der stammbaumlosen Gesellschaft

Die Große sexuelle Oktoberrevolution

Von RALF SCHULER

(Der Text ist leicht gekürzt als Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen)

Diese Revolution kommt ohne Sturm auf Palais und Schüsse aus Panzerkreuzern daher, und sie will doch die bürgerliche Ordnung, wie wir sie kennen, umstürzen. Was der „Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ nicht gelang und ihre späteren osteuropäischen Wiedergänger nicht vermochten, wird die sexuelle Gender-Revolution mittelfristig erledigen. Die Welt wird danach eine andere sein.

In der polit-ökonomischen Welt ist das Privateigentum der systementscheidende Kernbegriff. Gibt es privates Eigentum, lohnt sich Wettbewerb, entwickelt sich weltweiter Austausch und der Wunsch nach demokratischer Entfaltung, wie man selbst in China beim Vorgehen der KP gegen allzu eigensinnige Unternehmer sehen kann. Die Abwesenheit von Privateigentum wiederum wandelt Gesellschaften zwingend ins Unfreie, weil selbst Ansätze von Aufbruch und Wettbewerb unter Kontrolle gehalten werden müssen.

Im gesellschaftlichen Bereich liegt dieser systemrelevante DNA-Kern in der Frage der Fortpflanzung und den beiden biologischen Geschlechtern, wenngleich sich Umbrüche hier weniger schnell und eher schleichend vollziehen. Die Einführung der „Ehe für alle“ ist bereits eine solche Systemrevolution: Aus der Ehe als Fortpflanzungsgemeinschaft, wie sie in allen Kulturen der Welt ausweislich der flankierenden Fruchtbarkeitskulte gesehen wurde, ist ein Personenbündnis geworden, dessen „besonderer Schutz“ durch die staatliche Ordnung (Art 6 Grundgesetz) erst noch neu definiert und tariert werden muss. „Ehe für alle“ bedeutet folglich „besonderer Schutz“ für alle. Was alle bekommen, ist nicht besonders. Eine Neudefinition dieses „besonderen Schutzes“, der gezielt Kinder in den Blick nimmt, ist deshalb unabdingbar. Die Ehe verliert damit ihren besonderen Schutz, weil sie nicht mehr besonders ist. Das Ehegattensplitting im Steuerrecht hat keinen Sinn bei Beziehungen, die nicht auf Nachwuchs ausgelegt sind, was bei der klassischen Ehe lediglich ausnahmsweise der Fall war.

Auch die Zahl Zwei bei der Anzahl der Partner steht bei der „Ehe für alle“ zur Disposition, weil sie sich aus der Zahl der biologischen Geschlechter ableitet, die inzwischen selbst vom deutschen Bundesverfassungsgericht durch die Einführung des „dritten Geschlechts“ (Divers) nicht mehr für verbindlich gehalten wird. Hier verbirgt sich der nächste Systemwechsel: Von den beiden biologischen Geschlechtern hin zu gefühlten Identitäten. Die Überwindung der Natur eröffnet ganz neue Freiheiten der subjektiven Selbstdefinition. Dass gleichzeitig die Fridays-for-Future-Bewegung fordert, der Wissenschaft zu folgen, während die Biologie in der Geschlechterfrage gewissermaßen entfolgt wird, gehört zu den kuriosen Zeiterscheinungen. Erste Dreier-Ehen wurden in Kolumbien und Brasilien bereits offiziell anerkannt. Juristisch gibt es nüchtern betrachtet wenig Einwände gegen weitere Kombinationen, da kulturübliche Tradition kaum als Argument anerkannt werden dürfte und juristischer Überprüfung nicht standhält.

Letzteres trifft auch auf das Inzestverbot (§173 StGB) zu, welches der grüne Rechtspolitiker Jerzy Montag schon 2007 streichen wollte. In Frankreich wurde es bereits nach der Französischen Revolution abgeschafft. Der Hinweis auf vermehrte Gendefekte und Missbildungen bei Kindern direkter Verwandter greift hier nicht, weil er den Einstieg in eugenische Logik bedeuten würde. Auch das Überschreiten der Generationenschranke (z.B. Vater-Tochter-Beziehungen) könnte hier ein Argument sein, wird allerdings mehr unter dem Gesichtspunkt selbstbestimmt gelebter Sexualität gesehen, sofern keine Minderjährigen beteiligt sind.

Man kann diese Revolution in Partnerschaft und Geschlecht in vielfacher Hinsicht als einen grundlegenden Eingriff in das bürgerliche Erbgut der Gesellschaft bezeichnen. Neben den beschriebenen Effekten gibt es eine rechtliche Konsequenzen-Rutschbahn. Diese beginnt mit dem Adoptionsrecht für sämtliche Partnerschaftsformen und einer dafür nötigen „Anpassung“ der Kindswohl-Definition. Derzeit (außer bei Sukzessiv-Adoptionen sich umorientierender Partner) werden Vater und Mutter (neben sozialen und materiellen Aspekten) als günstig bewertet, was alle anderen Partnerschaften aber strukturell benachteiligen würde. Das Kindswohl wird also den geänderten Partnerschaftsformen der Erwachsenen angepasst werden müssen.

Konsequenterweise ist auch die Änderung des Familienstandsrechts in verschiedenen Ländern bereits in Angriff genommen worden, damit künftig keine Unterscheidung zwischen sozialen und leiblichen Eltern mehr möglich sein soll. In der diversen Partnerschaftswelt soll es schließlich keine leibliche Abstammung mehr geben, in deren Schatten die reproduktionsmedizinische und soziale Abstammung stehen könnte. Und auch das in Deutschland bestehende Verbot von Leihmutterschaft wird mittelfristig fallen, weil es nichtklassische Familien in Nachteil setzt. In etlichen Musterprozessen ist das Verbot ohnehin längst ausgehöhlt worden – Überlegungen zur Ausnutzung von Frauen und Bedenken mit Blick auf Kinder, die zwischen ihren Herkünften aufgewühlt werden, müssen da zurücktreten. Willkommen in der stammbaumlosen Gesellschaft.

Und warum sollte all das gleich unsere Gesellschaft auf den Kopf stellen? Weil Fortpflanzung und Familie keine äußerliche Lässlichkeit sind wie die Entscheidung pro oder contra Doppelnamen. Bei der zentralen Rolle von Fortpflanzung und Familie geht es um unsere Existenz und ihre Grundlagen.

Denn in Wahrheit geht es um viel mehr als Natur vs. Gefühl oder soziale Konstrukte: Die klassische Familie ist die elementare Zelle der bürgerlichen Gesellschaft, sie trägt die maßgebliche Verantwortung für gelingendes Leben, am Anfang (Zeugung, Erziehung, Kulturkompetenz) und am Ende (Pflege, Versorgung, Generationenzusammenhalt), sie stellt uns in Traditionslinien, begründet unsere Herkunft und oft genug unsere Zukunft. Die klassische Familie ist das Kleinkraftwerk der Gesellschaft, auf dessen Lebensmodell sich ein großer Teil unserer staatlichen Regeln beziehen vom besonderen Schutz bis zur Familienzusammenführung (die sich weltweit im wesentlichen auf leibliche Abstammung beschränkt) im Visa- und Einwanderungsrecht. Kurz: die klassische Familie prägt unsere Gesellschaftsordnung in ihren Werten und Strukturen. Ganz zu schweigen davon, dass die klassische Ehe mit rund 18 Mio. Paaren (lt. Stat. Bundesamt) die mit weitem Abstand klar vorherrschende Partnerschaftsform gegenüber etwa 70 000 homosexuellen Verbindungen ist, werden auch nach wie vor zwei Drittel aller Kindern ehelich (2019: 519 000 zu 259 000) geboren. Die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie mit leiblicher Abstammung aus dem praktischen Denkbetrieb der Gesellschaft zu nehmen und in eine regenbogen-bunte Vielfalt zu stellen, verzerrt nicht nur die Realität, sondern wird die Gesellschaft verändern. Das kann man wollen oder auch nicht. Die von etlichen Aktivisten ausdrücklich bekämpfte „Heteronormativität“ ist kein Unrecht oder Unfall, sondern gelebte Realität. Und das ist auch gut so. Wenn sich das grundlegend ändert, sterben wir aus oder müssen auf technische Reproduktionswege setzen – mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht hier nicht darum, ob Menschen anderer sexueller Orientierung oder Identitäten zu achten, zu respektieren und ihnen gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu sichern ist. Das steht außer Frage und ist sowohl aus christlicher, als auch aus humanistischer Sicht eine tiefe Selbstverständlichkeit. Es geht um eine gesellschaftliche und demokratisch-rechtstaatliche Debatte, mit welchen politischen Instrumenten Minderheiten in ihre Rechte eingesetzt werden können. Darum, ob die von den jeweiligen Lobby-Gruppen postulierten Ansprüche der einzige Weg dorthin sind. Eine Entscheidungskette, in der behauptete oder erlebte Benachteiligung zugleich evidenter gesamtgesellschaftlicher Beweis ist und auf die daraus abgeleitete Forderung nur noch mit Ja oder Ja geantwortet werden kann, ist demokratiefremd, wenn nicht gar -widrig.

 Die Beibehaltung der eingetragenen Partnerschaft neben der Ehe etwa hätte Rechtsgleichheit geschaffen und den Systembruch bei der Ehe vermieden: Zwei Rechtsinstitute für zwei verschiedene Partnerschaftstypen, deren Unterschiede durch den gemeinsamen Oberbegriff „Ehe für alle“ ja real trotzdem nicht aufgehoben werden. Jeder soll nach seiner Facon selig werden, nicht alle nach einer.

Auch die in vielen Bereichen erkennbaren Bemühungen, Geschlechter „abzuschaffen“, wie etwa bei dem jüngsten Versuch der Australian National University in Canberra, die Begriffe „Vater“ und „Mutter“ zu streichen oder etwa „Elternmilch“ statt „Muttermilch“ zu sagen, gehen in die gleiche fundamentale Richtung. Der Versuch, Familie und Geschlechter aus dem begrifflichen Denken zu tilgen, ist in letzter Instanz nichts anderes als der Wunsch nach Überwindung von Natur(wissenschaft) mit dem Ziel der Erringung einer homogenen Gesellschaft: Die klassenlose (und geschlechtslose) Gesellschaft mit anderen Mitteln.

 Besonders interessant daran ist, dass die politischen Revolutionen stets Massen und Mehrheiten repräsentierten oder dies zumindest vorgaben. Die sexuelle Gender-Revolution kommt von der genau entgegengesetzten Seite und will mit dem Mittel der Minderheitenrechte die bestehende Mehrheitsgesellschaft verändern. In Demokratien, in denen es eigentlich um Mehrheiten gehen sollte, ein interessantes Phänomen – um es neutral auszudrücken.

Die viel zu früh verstorbene, eher links-liberale „Tagesspiegel“-Journalistin Tissy Bruns schrieb in einem Leitartikel: „Familie, das sind Mama, Papa, ein Teller Spaghetti und ich in der Mitte“. Ein Ideal, dass nichts an Gültigkeit verloren hat und auch dann noch leuchtet, wenn man selbst daran scheitert, es zu leben. Aus welchem Grund auch immer. Wir leben in einer Zeit, in der wir offenbar nicht bereit sind, Ideale über uns zu akzeptieren, sondern die Ideale lieber auf unser irdisches Normalmaß herabstufen. Viele Aktivisten können oder wollen das Anderssein sexueller Identitäten und Lebensformen nicht als gleichberechtigtes Nebeneinander sehen, sondern machen lieber ungleiches gleich. Selbstbetrug mit Methode.

Wohlgemerkt: All diese Vorstöße sind meist legal und legitim. Jede Lobby kann, soll und darf sich in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen, den dann die gesamte Gesellschaft zu führen und am Ende demokratisch zu entscheiden hat. Dieser Diskurs muss offen sein und sämtliche Folgen und Spätfolgen in den Blick nehmen.

Sage niemand, es handle sich hier um krasse, randständige Positionen, weil die Abschaffung der Geschlechter im Alltag von 98 Prozent der Menschen kein Thema sei. Anfang März wurde im Deutschen Bundestag ein Antrag der Linkspartei (Drucksache 19/26980) im Plenum diskutiert, in dem es u.a. heißt: „die Festschreibung, dass Eltern immer nur zwei Personen sein müssen, hat angesichts sich wandelnder Beziehungsmuster und Lebensweisen immer weniger Sinn“ Und: „Eine solche angenommene Austragungspflicht macht gebärfähige Körper, in der überwiegenden Mehrzahl Frauenkörper, zum Objekt dieser Austragungspflicht.“ Der Antrag wurde abgelehnt, erhielt aber auch vereinzelte Stimmen von SPD und Grünen.

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat sich mit seinem Plädoyer gegen aggressive Identitätspolitik einen brachialen Shitstorm zugezogen. Nicht für diese Beleidigungen und Bedrohungen schämten sich seine Parteivorsitzende Saskia Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert anschließend, sondern für Thierses angeblich reaktionäre Haltung. Deshalb sei er hier noch einmal zitiert: „Vielleicht sind das unausweichliche Auseinandersetzungen in einer pluralistischer gewordenen Gesellschaft, aber meine Bitte ist einfach, in diesen Auseinandersetzungen das gemeinsame Fundament nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern sich um dieses gemeinsame Fundament zu bemühen, also Freiheit und Gerechtigkeit und Solidarität, was wir darunter verstehen, und Solidarität zu begreifen nicht als ein einseitiges Verhältnis, sondern ein Verhältnis von Gegenseitigkeit. Das ist mir das, worum es geht.“ Es sieht nicht danach aus, als stieße dieses Werben im linken Lager auf Verständnis.

Eine Antwort to “Willkommen in der stammbaumlosen Gesellschaft”

  1. Hein Says:

    Hat dies auf umermuedlich rebloggt und kommentierte:
    Zu spät, du rettet den Freund nicht mehr! Oder doch?
    Wir sollten es versuchen.

    Like

Hinterlasse einen Kommentar