Epilog: Der Weg zurück

Berlin Vom Nordkap aus gibt es nur noch Rückwege. Die Serpentinen im Fels zurück, über das vereiste Hochplateau nach Alta, wo eine einsame Straße quer durch die Finnmark zu Europa-Straße 8 führt. Die E 8 ist eine schier endlose, meist schnurgerade Piste, die von Tromsö am Eismeer nach Tornio am nördlichsten Zipfel der Ostsee führt. Die Nazis bauten diese Trasse, um ihren Nachschub zu sichern – jetzt liegt Schnee über dem alten Beton und deckt nicht nur die blutige Geschichte zu, sondern das ganze zerklüftete Land mit seinen Wäldern, Felsen und breiten Bachläufen. Weiße Weihnacht ist auch so ein Mythos, den wir durch all die Regenfeste hochhalten und damit verraten, wie strikt unser Geist sich weigert, mit der modernen Dingwelt zufrieden zu sein.

Die Norweger scheinen allerdings doch ein ganz besonderer Menschenschlag zu sein. Hier oben hoch im Norden wohnen sie in ihren Städtchen und Ansiedlungen ohnehin meist in Ruf- oder Sichtweite auseinander, weil Platz genug da ist für jeden. Weil diese „drangvolle Enge“ aber einen Ausgleich braucht, legt man sich Wochenendhäuser in den Weiten der Finnmark zu. Weit draußen, wo gar nichts mehr ist. Ein Bach, Krüppelwald, Tundra. Wenn man die Hügel herab kommt, sieht man es weit hinten in der Ebene leuchten, wo nur holprige Forstwege von der Landstraße aus hin führen. Manchmal trifft so einen mit rot-kariertem Wattehemd und Axt oder mit ein paar Karibus am Straßenrand. Schön, wenn man in seinem eigenen Norwegen-Film mitleben darf.

Irgendwann in der Nachmittagsdämmerung ist dann der große Augenblick da. Bei allen Skandinavien-Touren und auch bei dieser Reise haben sie einem mit ihren putzigen Warnschildern großspurig Elche versprochen, die angeblich alle Nase lang über die Straße trotten. In Wirklichkeit trifft man nie einen. Diesmal habe ich ihn, oder besser sie, tatsächlich gesehen. In der Nachmittagsdämmerung stand die Elchkuh seelenruhig auf der Straße und machte sich erst davon, als ich die Kamera suchte. Warum es übrigens spezielle Schilder für Elch- und Rentierwechsel gibt, ist mir nicht ganz klar geworden. Demnächst werden vermutlich die Schneefüchse auch eines beantragen.

Kleine Weiler und einzelne Häuser mit warmem Licht in den Fenstern leuchten an der Straße auf und verschwinden schnell wieder im Dunkeln. Eine einzelne Laterne, ein Straßenschild, Finsternis. Über der einzigen Kreuzung schaukelt eine Ampel an Seilen im Flockensturm. Es ist die seltsame Stimmung dieser Roadmovies, wo von irgendwoher Musik zum einzigen Auto auf dem Highway dringt. In diesem Falle ist es eine Straßenkneipe, in der lautstark gefeiert wird, irgendwie absurd und surreal inmitten dieses endlosen Nichts. Weil in Skandinavien die meisten Tankstellen bereits ohne Personal arbeiten und man nur mit der Karte an der Säule bezahlt, bin ich immer wieder enttäuscht, wenn ich eine der bunten Lichtinseln ansteuere, auch in der Hoffnung auf ein Wort oder einen Tipp zur Route. Und stehe ich doch wieder allein neben dem quietschenden Blechschild vom Autogas.

In Muonio, mitten im Land, ist dann doch etwas Leben. In einem völlig ausgebuchten Hotel sitzen fünfzig lautlose Personen in der Gaststube hinter ihren Laptops. Ihre Welt heißt W-LAN: Und ich wünsche mir, dass dieser Film jetzt doch eine andere Wendung nimmt, als das Stephen-King-Grusel-Szenario, das sich da gerade anbahnt. Der Film tut mir den Gefallen.

Etwas weiter im Hinterland ist ein riesiges Ski-Paradies, wo offensichtlich verschiedene Nationalmannschaften Langlauf trainieren. Bis spät in die Nacht knirscht es auf den beleuchteten Pisten. Morgens um sechs sitzen sie dann wieder in ihren hautengen Laufanzügen an Nationen-Tischen mit kleinen Fähnchen. Ein Hauch von Kitzbühel mitten in der Finnmark. Nach 500 Metern Ortskern übernimmt der eisige Winterhauch wieder die Szenerie. Die Welt ist wieder in Ordnung. Ich rolle weiter nach Tornio, dem nördlichsten Zipfel der Ostsee und kann es kaum fassen: Wie oft hatte ich mir diesen Augenblick vorgestellt, an dem Strand zu stehen, an dem die Ostsee zu Ende ist. Und nun ist so ein dicker Nebel, dass man vom Strand kaum das Wasser sehen kann.

Mehr als tausend Kilometer geht es dann parallel zur schwedischen Küste auf Autobahnen zurück über Kopenhagen, Gedser, Rostock nach Berlin. Absturz aus nordischen Schneehöhen zurück in den europäischen Alltag. Der Morgenstau durch Stockholm raubt den Rest der aufgetankten Gelassenheit, schneeloses Matsch- und Regenwetter weckt die Sehnsucht zur Umkehr, und zwar zu einer ganz irdischen.

6389 Kilometer stehen am Ende auf dem Tacho. Der Wagen knistert leise, als ich zu Hause den Motor abstelle und aus der Kabine klettere. Geschafft. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich am Wegesrand nur die Hälfte dessen entdeckt habe, was da im hohen Norden noch schlummert. Und nächste Weihnachten bin ich dann einfach mal weg.

(Schluss)

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4 Antworten to “Epilog: Der Weg zurück”

  1. demo | Lesvosnews.net Says:

    […] Ralfschuler’s Blog […]

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  2. Tina Says:

    Auch wenn es schon fast zu spät ist… Danke für diesen wundervollen Adventskalender, für diese Erzählung über eine nicht ganz so gewöhnliche Reise… Und ich hoffe, der Weihnachtsmann hat es gesehen und gedankt 😉

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  3. lowrance mark 4 Says:

    portable fish finder

    Epilog: Der Weg zurück | Ralf Schuler

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