Archive for Januar 2013

Schlimm, schlimmer, Sexismus

Januar 31, 2013

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Heuchler hier im Land? Sexismus und keine Ende. Talkshows in Serie, #aufschrei im Netz, Empörung im Ausverkauf.

Anlass: Der schlimmste Macho-Spruch des Jahres! „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ – soll FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle (67) zu der Stern-Journalistin Laura Himmelreich (29) abends an der Bar gesagt und auf ihre Brüste geblickt haben.

Ach Gottchen!

Peter Fox, 2008: „Alle tanzen, die Damen sind echt entzückend,/
’n‘ ganzes Backblech voller Sahneschnitten./
Die Torten sch-schütteln ihre Schrippen,/
sch-schütteln ihr Gold auf den Rippen,/
sch-schütteln ihr Holz vor den Hütten…“

Schlimm, ganz schlimm!

Rammstein, 2001: „Rein Raus/
Ich bin der Reiter/
du bist das Ross/
ich hab den Schlüssel/
du hast das Schloß?

Noch schlimmer!

Und selbst Roland Kaiser sang schon 1980: „Manchmal möchte ich schon mit dir…“ (Platz 1 in Charts!)

Bei den Live-Übertragungen aus den Karnevalshochburgen blinken uns täglich bei ARD und ZDF opulente Dekolletés an, bei der Love-Parade wird öffentlich blank gezogen, beim Christopher-Street-Day geht es fleischeslustig zur Sache, Busse fahren die Reklame für das größte Bordell der Hauptstadt mitten durch Berlin, und bei der Berichterstattung über die russische Punk-Band „Pussy Riot“ sparen wir uns augenzwinkernd die Übersetzung des Bandnamens.

„Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ Püh!

Wer will hier eigentlich wem etwas vormachen! Im Abendprogramm baggert der „Bachelor“ vor laufender Kamera, unterbrochen von Werbeblöcken für Elite-Partner, eDarling und Parship. Seitensprung-Portale und Telefon-Sex inserieren erst später. Der Mann, der mit „Youporn“ zum Multimillionär wurde, sitzt gerade wegen Problemen mit der Steuer, die Ossis sind stolz auf ihre FKK-Tradition, und in den Kondom-Automaten der öffentlichen Örtchen gehört die „Travel Pussy“ zum Standardsortiment.

„Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ – Unglaublich!

Worüber reden wir hier eigentlich!? Ein ältlicher FDP-Mann baggert eine junge Journalistin an, will ihr seine „Tanzkarte“ aufdrängen. Geradezu rührend. Um es klar zu sagen: DER DARF DAS! Solange er nicht grapscht, nötigt oder schlimmeres, wird nicht einmal eine Affäre draus. Und selbst beim einvernehmlichen Schäferstündchen, wäre Brüderle in bester Gesellschaft hochrangiger Politiker gewesen, deren Pressekontakt sehr intim wurde (Schröder, Lindner, Fischer, Gauck…)

Dies ist ein freies Land, da ist Baggern erlaubt – weder mit Steinigung belegt noch sonstwie verfolgt. Über Geschmack lässt sich streiten, aber solange wir keine Moral-Diktatur haben, ist „Sie sehen blendend aus, gnä’ Frau!“ nicht verpflichtend. Und wer sich ansieht, was BILD-Girls angeben, wenn sie nach ihrem Lieblings-Anmachspruch gefragt werden, der weiß, dass es auch ganz anders geht. Wenn Herrenwitze strafbar wären, hätten Fips Asmussen und Mario Barth nicht mal Freigang. Und ganz nebenbei: Die Mega-Seller des deutschen Buchmarkts der letzten Zeit waren Frauen-Bücher. „Shades of Grey“ und „Feuchtgebiete“. Gegen diese explizite Sudelprosa ist Brüderle ein Gentleman alter Schule.

Brüderle hat auf altmodische Art versucht, charmant zu sein. Das kommt nicht überall an. Das muss man nicht mögen. Aber zum sexuellen Übergriff stilisieren, muss man es auch nicht. Es gab und gibt kein Macht- oder Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Journalistin und dem Politiker. Im Zweifel kann sie ihn eher vernichten, als er sie. Brüderle hat weder Vergewaltigungen in Indien das Wort geredet, noch der Unterdrückung von Frauen in Arabien oder sonstwo. Der Casus Brüderle ist kein Paradebeispiel für irgendwas – nur für hormongetriebene Männerträume.

Frauen, zumal in diesem Teil der Welt, sind erwachsen, selbstbewusst und werden nicht aus der Bahn geworfen, wenn jemand meint, sie könnten ein Dirndl ausfüllen. Was sagt eigentlich Lady Bitch Ray dazu? Es ist auch nicht bekannt, dass das Münchner Oktoberfest wegen seiner Dirndl-Dichte unter die Sieben Sexismus-Todsünden fiele. Hierzulande kann jeder Mann wegen seiner Wampe angefrotzelt werden. Hierzulande rennt niemand zum Beauftragten, wenn er gefragt wird, ob er schon Golf spiele oder noch Sex habe. Hierzulande knistert es auf mancher Weihnachtsfeier lauter als an Brüderles Bar.

Willkommen in der Neutrum-Nation! Der nächste Kampf sollte dem Sommer schlechthin gelten, wo der straflos zu betrachtende Teil einiger Zeitgenossinnen zwischen Dekolleté und Minirock wieder gefährlich schmal wird und „anzügliche“ Blicke das Gegenteil von dem sind, wonach sie klingen… Schlimm, ganz schlimm!

Das sagt man nicht!

Januar 11, 2013

„Es ging spazieren vor dem Tor,/ein kohlpechrabenschwarzer Mohr…“ Darf der das? Darf er noch „schwarz“ oder (zugegebenermaßen absurd) „farbig“ sein? Oder vielleicht doch ein afroamerikanischer Bruder mit Migrationshintergrund?

Noch ist nicht ganz klar, ob die rührende antirassistische Parabel aus dem „Struwwelpeter“ von 1845 („was kann denn dieser Mohr dafür,/dass er so weiß nicht ist, wie ihr?“) den deutschen Kinderbuchverlagen noch zeitgemäß erscheint. Gerade ist der Thienemann Verlag dabei, die „Negerlein“ aus Otfried Preußlers „Kleiner Hexe“ zu entfernen, nachdem Pippi Langstrumpfs Vater vom „Negerkönig“ zum „Südseekönig“ umgeschult wurde.  Es ist vor allem nicht ganz klar, nach welchen Kriterien hier Worte geklaubt werden: Ist die Vokabel als solche tabu? Entscheidet das ungute Empfinden des solcherart Benannten darüber, was gesagt werden darf? Oder ist der Hinweis auf das Anderssein  – in diesem Falle – stärker pigmentierter Mitmenschen allein schon anstößig?

In letzterem Falle müsste selbstverständlich auch der gute Mohr dran glauben. Wenn herabsetzende, übelwollende Verwendung von Vokabeln Grund genug für die Operation „TippEx“  ist, müsste nicht nur Eskimo, Zigeuner oder Indianer auf dem Index stehen, sondern beispielsweise auch Jude, Mongole oder Türke, die in ganz unterschiedlichen historischen Kontexten geschmäht wurden.

Zensur ist, wenn man’s trotzdem macht. Es ist mehr als absurd: Was bei politischen Texten in gestandenen Demokratien tabu ist, fordert nun ausgerechnet bei Klassikern der Kinderliteratur prominente Opfer. Säuberung im Kinderzimmer! Derweil in der Erziehung des jungen Menschen pädagogische Toleranz bis zur völligen Entgrenzung für zeitgemäß gehalten wird, hält im Reich kindlicher Feen, Zauberer und Superhelden ausgerechnet bei frühesten Denk- und Phantasievorlagen eine zeitgeistbereinigte Dogmatik Einzug, die sprachlos macht. Zumindest Zeitgenossen, die real existierende Ideologie-Systeme noch erlebt haben. „Das tut man nicht!“ – ist out. „Das sagt man nicht!“ – voll korrekt.

In der „Welt“ argumentiert Wieland Freund zugunsten unanstößiger Editionen, dass man beim Vorlesen andernfalls innehalten und erklären müsse, wenn da anrüchige Worte stünden.  Das ist ein interessanter Ansatz: Korrekte Pletteisen-Texte zur Erklär-Vermeidung. Grimms bekömmliche Märchen statt Auseinandersetzung mit dem Originaltext! Die Welt fein angerichtet: Passt schon!  Als wäre nicht gerade dieser gemeinsame Rundflug mit Mama/Papa, Buch und wüsten Helden das lebenslang prägende, unvergessliche Faszinosum! „Was heißt: Sieben auf einen Streich? Was ist eine Elle? Kann man sich an einer Spindel wirklich stechen?…“ Aber zu erklären dass „Neger“ von Schwarz kommt und ein altes Wort für Schwarze ist, ist offensichtlich eine unzumutbare pädagogische Herausforderung.

Vor allem aber: Wo soll dieser Wahnsinn enden? Darf/soll/kann/muss man erklären, welchen Hintergrund die häufige Erwähnung von „Jungfrauen“ in Märchen haben, obwohl heute niemand mehr „rein“ in die Ehe geht? Oder schreibt man künftig besser „Mädchen“? Wie rabiat dürfen Zauberwelten in Zeiten gewaltfreier Erziehung noch sein? Ist das Töten von Drachen unter dem Gesichtspunkt des Artenschutzes überhaupt vertretbar? Sollte beim Festgelage vegetarische Kost gereicht werden?

Um es klar zu sagen: Genau so, wie man historische Bilder nicht übermalt, Rubens-Mädels nicht züchtig kleidet, Jesus am Kreuz nicht nett zurecht macht und alte Schriften nicht umschreibt, genau so muss das Prinzip der Authentizität grundsätzlich verteidigt werden. Sonst kommt der Fischer mit seiner nörgelnden Frau bald auf die schwarze „Emma“-Liste und die rauschenden Feste – drei Tage und drei Nächte lang – werden ein Fall für Food Watch und die Zentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Wir lassen uns keine Märchen erzählen! Zumindest keine korrekten!