Archive for Januar 2020

Nase voll

Januar 17, 2020

Nein, das war wirklich nicht kultursensibel von mir. Man muss Fehler auch zugeben können.

„Ein guter Tag beginnt nach einem guten Kaffee“, stand am Boden der Tasse im Frühstücksbereich des Münchner Flughafenhotels. Für das chinesische Ehepaar am Nachbartisch traf das an diesem Morgen leider nicht zu. Und ich war schuld daran.

Mails und Newsletter lesend, hatte ich mir leichthin nebenbei die Nase geputzt… – und sah im selben Moment das vor Anwiderung und Entsetzen getriebene Zusammenzucken am Nachbartisch. Blicke trafen mich, als hätte ich mitten in der stylisches Lounge provokativ meine Notdurft verrichtet. In diesem Augenblick muss etwas zwischen uns zerbrochen sein, zumindest dürfte die deutsch-chinesische Freundschaft auf die Innigkeit zurückgeworfen sein, mit der die Junge Gruppe der Union im Bundestag einem Huawei-Funkmast begegnet.

Auch im Folgenden hat sich unser Frühstücksverhältnis nicht von meinem Fauxpas erholt. Immer wieder wanderten ängstlich-verächtliche Blicke zu mir und meinem Müsli herüber, ob von dieser groben Langnase wohl noch mehr unziemliche Ekligkeiten zu erwarten seien, und man womöglich besser daran täte, den Tisch zu wechseln.

Obzwar das Naseputzen hierzulande zu den eher beiläufigen Gewohnheiten und weniger als prägendes Element kultureller Identität gilt, war mir doch bewusst, dass es in Japan und China als höchst unschicklich angesehen wird. Dennoch stürzte mich der Vorgang in ein kaum aufzulösendes moralisches Dilemma: Hätte ich in präventiver Rücksichtnahme die Nase lieber geräuschvoll hochziehen und damit mein Manieren-Image bei den europäischen Mit-Essern ruinieren sollen? Oder hätte ich gar dem kultursensiblen Rat folgen sollen, der mir vor jeder der zahlreichen China-Reisen der Kanzlerin immer wieder in Form eines kleinen Breviers ausgehändigt wurde und zum Schnäuzen das nächste WC aufsuchen müssen?

Eine ethische Notlage, die mich den Tag über ziemlich beschäftigte. Zu meiner kosmopolitisch-kompatiblen Entlastung habe ich mir dann allerdings eine andere Rechtfertigung zurechtgelegt, mit der ich mich zumindest in einem trotzig-kulturkämpferischen Gestus eine Weile einrichten konnte.

Ich nahm die Münchner Episode als gerechte Revanche für eine analoge Peinigung während einer Merkel-Reise irgendwo in Mittel-China, die mich in ihrer verstörenden Bildhaftigkeit ebenfalls bis heute verfolgt. Es war einer dieser Termine, bei denen sich Funktionäre von Handelskammern im jeweiligen Top-Hotel der Stadt gemeinsam mit der Kanzlerin einfinden, Höflichkeiten und ganz dezente Anmerkungen zum bilateralen Wirtschaftsverkehr austauschen. Plüschige Stuhlreihen inmitten grellfarbig-goldenen Pomps, erfüllt vom steifen Überschwang protokollarischer Freundlichkeiten.

Während die Kanzlerin und einige Mitstreiter vorn von „Reziprozität“ im Wirtschaftsverkehr und dem „level playing field“ im Wettbewerb sprachen, bekämpfte mein Sitznachbar seinen offenbar in guter Blüte stehenden Infekt mit vollendeter Höflichkeit: Er zog mit einer Intensität und Inbrunst den inneren Ausfluss seiner Nasenschleimhäute hoch, dass man ein zähes, gelbes Sekret gleichsam blasenschlagend auf seinem Weg durch die Stirnhöhle hinauf und hernach wieder in allen klanglichen Facetten gurgelnd hinab in der Speiseröhre verfolgen konnte. 

ES WAR WIDERLICH!

Innersekretorisches Audible einfach horrible. Und die Veranstaltung zog sich. Dem Einheimischen hatte man natürlich kein Brevier über die kulturellen Sensibilitäten der Gäste überreicht, und ich konnte mich von der Saalmitte auch unmöglich durch die gesamte Stuhlreihe nach draußen drängeln. Zu meinem Unglück wollte der muntere Quell sämigen Sputums auch nicht ansatzweise versiegen, so dass der gewiss politisch wichtige Chinese sich mit der ausdauernden Regelmäßigkeit eines Pumpspeicherwerks im Fördern und Verklappen seiner inneren Werte übte. 

Natürlich ist es nicht fair, das Trauma von damals nun an den Münchner Frühstücksgästen ab- und aufzuarbeiten. Aber dafür hatte es nach einmaligem Schnäuzen dann in meinem Falle auch sein Bewenden, während ich weiland eine knappe Stunde litt. Auge um Auge, Nase um Nase. 

Es lebe die Sturzgeburt

Januar 17, 2020

Gabor Steingart in seinem Morning Briefing: „Erfahrungsschatz ist in dieser historischen Situation, wo sich die Herausforderungen von Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel gegen das Bestehende verschworen haben, nur ein anderes Wort für Sondermüll. Der Traditionalist ist der Idiot unserer Zeit.“

Ich finde, die Menschheit hat es mit dem Setzen auf Erfahrung und Nachdenken recht weit gebracht. Warum Kopflosigkeit und technologische Sturzgeburt Zukunftsmodelle sein sollten, erschließt sich mir nicht.

Aber wahrscheinlich bin ich auch nur ein Traditionalist…