Archive for Dezember 2010

Thilo und die Sarrazinen – Eine Bilanz

Dezember 31, 2010

Manchmal ist es hilfreich, die Gedanken ein wenig zu ordnen. Niemand hat 2010 in Deutschland so polarisiert, hat Öffentlichkeit, Politik und Medienmenschen in so unversöhnliche Lager gespalten wie Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Der Ex-Senator und inzwischen Ex-Banker hat das gute Gretchen bei der Frage endlich abgelöst: Wie hälst du’s mit dem Sarrazin? – ist für die gesellschaftspolitische Standortbestimmung, was die Beringung für den Vogelfreund ist. Was aber hat einen ehedem als rationalen Denker bekannten Politiker in die Lage gebracht, den einen als schändlicher Hetzer und den anderen als unkonventioneller Integrationsmessias zu erscheinen. Eine Analyse.

Integration: Sarrazin hat mit Hilfe verfügbarer, amtlicher und im Grunde bis heute nicht angezweifelter Statistiken (Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Schulbildung und –Abschlüsse, Sozialtransfers etc.) dargestellt, dass die Integration von Muslimen innerhalb der deutschen Gesellschaft große Probleme bereitet. Dies zu widerlegen, hätte es lediglich anderer Statistiken oder Untersuchungen bedurft, die einen höheren Prozentsatz gut integrierter Muslime ausweisen oder zumindest eine hoffnungsvollere Prognose stellen. Statt dessen wurden immer wieder Einzelbeispiele gelungener Einfindung in hiesige Verhältnisse präsentiert, was aber der logischen Beweisführung im Sinne einer Widerlegung nicht wirklich dient, so erfreulich jede Erfolgsvita auch sein mag. Ein vierblättriges Kleeblatt widerlegt nicht die Mehrheit der Dreier.

Abgelehnt wurde Sarrazins Analyse offen oder unterschwellig vor allem, weil gerade großstädtische Intellektuellen-Milieus sich dagegen verwahren, einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe ein schlechtes Zeugnis auszustellen. In einer konsensorientierten Gesellschaft, die etwa in Zeugnissen eine Pflicht zum positiven Urteil vorschreibt oder pädagogische Grenzziehungen stets durch positive Anreize, nie durch harte Konfrontation geben will, kann das nicht erstaunen. Die hermetische Unantastbarkeit des gefühlten Weltbildes durch Fakten war am Ende das wirklich Erstaunliche am Casus Sarrazin. Nicht einmal der investigative Eifer zur Widerlegung des Anstößigen durch Fakten, der bei anderen Gelegenheiten ein verlässlicher Medien-Reflex ist, wurde hier geweckt.

Vererbung von Intelligenz: Die Koppelung beider Themen machte die Abschiebung des Autors Sarrazin ins nazinahe Eugeniker-Ghetto besonders leicht. Bei näherem Hinsehen sind die Fakten freilich weit weniger skandalös. Sarrazin beschreibt – mit Rückendeckung der jeweiligen Forschungsgrößen auf diesem Gebiet – dass fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz auf Vererbung beruhen. Das sollte nicht weiter verblüffen, wenn man in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wie etwa bestimmte Veranlagungen von Händigkeit, Lese-Rechtschreibschwäche (prominentes Beispiel ist das schwedische Königshaus), Neigung zu Krebsleiden etc. durch genetische Prägungen wissenschaftlich nachgewiesen wurden. Dennoch ist Intelligenz mehr als die programmierte Vernetzungspotenz der Neuronen und wird maßgeblich auch vom Milieu geprägt, in dem sich das Aufwachsen vollzieht. Von intellektuellen Anregungen, Förderung und anderem.

Deutschland schafft sich ab: Wenn sich also Soziotope bilden, in denen wegen mangelnden sozialen und integrativen Erfolgs, auch derjenige Teil der Nachkommenschaft mit den Anlagen zu hoher Intelligenz nicht genug Stimulanz und Futter fürs Hirn bekommt, dann ist eine Niveauregulierung unterhalb der Möglichkeiten sehr wohl nachvollziehbar. Allerdings auch in Milieus ohne Migrationshintergrund. Und genau das beschreibt Sarrazin im ersten Teil des Buches auf mehr als einhundert Seiten. Das dramatische Untergangsszenario im Titel wird eben nicht einfach fremdenfeindlich an den Migranten hergeleitet, sondern aus einer fehlgeleiteten Sozialpolitik insgesamt begründet.

Sozialpolitik: Das hätte Sarrazins ausschlusswilligen Genossen der eigentliche Sprengstoff des Buches sein müssen: In seinen Augen muss das Fordern deutlich über das Fördern gestellt werden. Seine ebenfalls nicht sonderlich skandalöse, wohl aber unpopuläre These: Versorgung macht träge, das Packen der Betroffenen am Existenziellen setzt in Bewegung. Hier dürfte in der Tat ein fundamentaler Widerspruch zum sozialpolitischen Verständnis der SPD vorliegen.

Der Katalog der Gegenmaßnahmen: Bei seinen Vorschlägen ist Sarrazin viel radikaler und dann doch durchaus auch „linker“ als viele seiner Parteifreunde. Wenn man ihm etwas zum Vorwurf machen will, gibt die Liste der verpflichtenden Maßnahmen für Bildungsferne (Ganztagsschule, Hort, konditionierte Kindergeldkürzung etc.) für Freunde elterlicher Erziehungshoheit viel mehr her als der Rest des Buches. Im Grunde findet hier – von Einzelmaßnahmen einmal abgesehen – der Schulterschluss mit Sarrazin-Großkritikern wie etwa Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) statt, der immer wieder gern staatliche „Schicksalskorrektur“ für Unterschichtler und erfolglose Migranten fordert. Genau das schlägt Sarrazin mit der ihm eigenen Brachialität vor, nur merken es die lektüreverweigernden Kritiker halt nicht.

Die Politik: Thilo Sarrazin 2010 – gut, dass wir drüber geredet haben. Und jetzt weiter wie bisher.

Stärke zeigen

Dezember 29, 2010

Prozesse wegen Diebstahls von Volkseigentum sind ein wenig aus der Mode gekommen. Im Grunde ist der Ansatz des zweiten Verfahrens gegen den Ex-Magnaten Michail Chodorkowski aber nicht ganz falsch. Kaum irgendwo auf der Welt haben sich Private so dreist und schamlos am vormals vergesellschafteten Vermögen des Landes bedient wie in der untergehenden Sowjetunion. Legal und von der Politik gewollt – das ist das Fatale daran. Wäre es dem Kreml ernst mit der Aufarbeitung dieses Teils der Jelzin-Ära, so müsste eine Prozess-Lawine durchs Land gehen gegen alle, die heute unter die Rubrik „Oligarch“ fallen. Und gegen Teile der Nomenklatura, die diesen Ausverkauf ehedem betrieben haben.

Und genau hier beginnt das Problem. Es gibt nur den Chodorkowski-Prozess. Chodorkowski ist nicht der Muster-Demokrat, als den ihn der Westen aufbaut. Er hat genommen, was er kriegen konnte, als die Zeit des Nehmens war. Und er hat begonnen Demokrat zu sein, als er hatte, was er wollte. Nur war Chodorkowski unklug genug, sein Geld politisch zu investieren, anstatt sich rauszuhalten aus dem Moskauer Machtbetrieb.

Chodorkowski ist kein Aushängeschild von Demokratie und verfolgter Unschuld, er ist das gut sichtbar statuierte Exempel für alle, die auch nur daran denken, sich den Kreml kaufen oder vornehmen zu wollen. Und er ist der Seismograph, der anzeigt, wie weit in Russland die Demokratie geht und ab wo sie gelenkt wird – und von wem. Dass Premier Putin sich nicht einmal eines Vorab-Urteils enthält, ist mindestens so dreist wie Chodorkowskis einstige Selbstbedienung. Doch Macht still zu genießen, hat keine Tradition in Russland. Stark ist in den Augen der meisten Russen noch immer, wer seine Stärke zeigt. So gesehen, macht Putin alles richtig.

Aufatmen

Dezember 26, 2010

Als der Chef des Deutschen Beamtenbundes, Peter Heesen, mit Arbeitskampf für höhere Löhne im Öffentlichen Dienst drohte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Dann fügte er hinzu: „zum Beispiel beim Winterdienst“.

 Da war ich wieder beruhigt. Es bleibt alles wie es ist.

Weihnacht Zeit los

Dezember 19, 2010

Die Herren sind nicht grau. Hier irrte Michael Ende. Die allgegenwärtigen Mitarbeiter der Zeit-Sparkasse, denen nur das antikapitalistisch fabulierende Fabel-Mädchen „Momo“ mit ihren Freunden beikommen kann, tragen im Kinderbuch-Klassiker dunkle Mäntel, finstere Hüte und – natürlich – dicke Zigarren im Mund. Sie stehlen den Menschen die Lebenszeit, indem sie jede freie Minute, die neben profitabler Effizienz übrigbleibt, auf ihre Zeit-Konten abbuchen. Der Mensch ohne Muße, will uns Michael Ende sagen, versinkt im Muss. Er wird zermahlen im Räderwerk der gierigen Wirtschaftsordnung wie weiland Charlie Chaplin in „Moderne Zeiten“. Kampf dem funktionierenden Funktionsträger, könnte Momos Motto lauten. Meine Zeit gehört mir, wäre der passende „Stern“-Titel zur Bewegung.

 Aber die Herren sind gar nicht grau. Nur manche tragen Anzug, andere Jeans, bunte Klamotten, nicht weiter auffällig, häufig Nichtraucher. Jedes Jahr zur Weihnachts-„zeit“ kommt dieses Land wieder auf seinen Mangel zu sprechen. Zeit. Von Einkehr ist da die Rede in Predigten und nachdenklichen Essays, von Besinnung und Innehalten, und die Klischeebilder in den Auslagen und der Werbung zeigen entspannte Familien, denen kein Schichtplan und kein Feiertagsdienst im Nacken sitzt. Ausgerechnet jetzt, da der Einzelhandel den Umsatz des Jahres macht, wo die Geschäfte der Versandhändler brummen, wo es Urlaubssperren gibt und man neben dem Job noch die Geschenke abends nach der Arbeit besorgen muss. Innehalten. Wer’s glaubt, wird seelig. Kaum irgendwann im Jahr sind wir mit unserem Zeitkonto so tief im Dispo wie vor dem Fest.

Und die Herren von der Zeitsparkasse, die gleichberechtigungshalber längst zur Hälfte Frauen sind, machen auch so weiter wie im Rest des Jahres. Sie stehen geduldig hinter einem im Büro, hören sich unhöflicherweise das Telefonat mit an, dass einen gerade davon abhält, die dringende Mail weiter zu beantworten, die einen beim Bearbeiten des eiligen Textes gestört hatte. Der zermürbende Alltagswahnsinn beginnt dort, wo man gezwungen ist, alle Kommunikationskanäle offenzuhalten, wo ins Festnetz-Telefonat das Handy hinein klingelt und der hereinplatzende Chef den Abbruch aller begonnenen Arbeiten ganz selbstverständlich einfordert. Die ohnehin übervolle Aufgaben-Agenda, die man gerade verbissen aus dem Weg schaffen wollte, kommt durcheinander, wird schon wieder verschoben, verlängert, unhaltbar, unschaffbar.

Je mehr von „sich sammeln“, von Einkehr (nichts ins Wirtshaus, ihr Banausen!) und Besinnung die Rede ist, desto dramatischer kommt ins Bewusstsein, wie arg die Umdrehungszahl der Alltagsmaschine in den letzten Jahren angezogen hat. Neue Kommunikationswege, nahezu ständige Erreichbarkeit, kürzere Taktzeiten beim Be- und Verarbeiten von Informationen und Produkten haben inzwischen selbst ehedem geruhsame gesellschaftliche Eckchen erreicht. Aus den grauen Kapitalistenknechten mit Zigarre ist ein munteres Häuflein von normal gekleideten Zeitgenossen geworden, als die wir uns gegenseitig einen regelrechten Krieg der Datenraten liefern: Wer meine Mail nicht gleich beantwortet, hält mich auf. Wer sein Handy abschaltet, zwingt mir seinen Rhythmus auf, lässt mich Dinge später bearbeiten, wenn ich eigentlich schon gehofft hatte, endlich frei zu haben.

Die kommunikativen Schlendriane sind wie trödelnde Linksfahrer auf der Autobahn, die uns armselige Stressgetriebene zum Runterschalten zwingen. Obwohl uns die Zeit im Nacken sitzt, die, die uns gerade fehlt und die, die wir hoffen, als kargen Zins am Ende herausschlagen zu können, wenn wir jetzt durch den Tag hetzen. Das Schlimmste aber ist, dass sich das Elend dieser Zeit-losigkeit in der Frei-zeit fortsetzt. In durchgearbeiteten Wochen bleibt so viel Alltag liegen, dass man an freien Tagen schon wieder unter Druck ist, die private Agenda abzuarbeiten: Rasen mähen, Winterreifen draufziehen, Einkaufen, Recyclinghof, die Lampen anbohren und endlich das Rezept von der Ärztin abholen, die nie vor zehn Uhr vormittags in der Praxis ist, weil sie Hausbesuche macht.

 Da baumelt keine Seele, da rieselt’s nicht beschaulich-erholsam im Stundenglas: So ein freier Tag will effizient durchgeplant sein, wenn am Ende zwei Stunden „Einfach-nur-sitzen-und-gucken“ übrigbleiben sollen. Wenn überhaupt. Jeder Plauder-Anruf von Tante Fine, jede blöde Baustelle auf dem vermeintlichen Schleichweg, jeder Müllwagen in der schmalen Einbahnstraße wirft einen zurück – und wieder sind die Nerven hin. Selbst Treffen mit Freunden, auf die man sich schon lange freut, werden so zum „Termin“. Der Billard-Herrenabend am Freitag ist nicht mehr witzig, wenn man mit Hochdruck aus dem Büro losfährt, um es noch rechtzeitig durch den Stau zu schaffen und schon weiß, dass man am Samstagmorgen früh raus muss, um vor dem Auftritt der Kinder noch rasch einzukaufen.

 Obendrein sind wir vermutlich selbst schuld an unserem Elend, weil der Effizienzzwang uns gegenseitig in eine Kette der zeitlichen Ausbeutung zwingt. Wer viel oder unregelmäßig arbeitet, will im schmalen „Zeit-Fenster“ seiner Freizeit den gesamten Handel und alle Dienstleistungen zur Verfügung haben, damit er lästige Gänge und Besorgungen auf der Straße der Sehnsucht nach Ruhe rasch erledigen kann. Ganze Maschinerien von Zulieferern, Versorgern und Hilfsdiensten werden in Bewegung gesetzt, um diesen Wunsch zu befriedigen. Und wieder können ganze Belegschaften sehen, welche Zeit für sie auf der Alltags-Resterampe übrig bleibt – und verlangen passgenauen Angeboten, wenn ihre Zeit gerade mal frei ist….

 Der Berliner Senat immerhin ist – erzwungen vom Bundesverfassungsgericht – in diesem Jahr erstmals daran gehindert, alle Adventssonntage als verkaufsoffen zu deklarieren. An zwei Wochenenden vor dem Fest ruht der Konsum, damit die Menschen, die einst ausnahmsweise trotz des Sonntags arbeiteten, nicht künftig immer öfter arbeiten gerade weil Sonntag ist. Ob der Rutschbahn-Trend zur 24-Stunden-Gesellschaft damit aufgehalten werden kann, ist eher zu bezweifeln. Schließlich gibt es nicht wenige, die in dem vorweihnachtlichen Shopping-Stopp keine erholsame Rennpause auf ihrem wenig christlichen Beschaffungsparcour sehen, sondern ein Hindernis für die schnelle Einkaufstruppe der Weihnachts-Task-Force.

 Es begab sich aber zu der Zeit… Wie wäre es eigentlich mal mit Weihnachts-Widerstand. Das Fest als Anlass, sich aufzulehnen gegen die marktgerechte Zeit-Verknappung. Zeit schenken, an einem Tag einfach mal „nichts“ planen, Handy ausschalten, offline sein…? Klingt irre, oder? Weihnachten statt Wendland, damit endlich wieder Zeit ist, dass sich etwas „begibt“, statt „just-in-time“ geliefert zu werden.

Mitleid und Seele – Porträt einer menschlichen Regung

Dezember 11, 2010

Rechtzeitig vor dem Fest sind sie wieder da, die großen Kinderaugen auf den Postkarten der Hilfsorganisationen, die Reportagen aus afrikanischen Slums und Berichte Über die Bedüftigen hierzulande im reichen Deutschland. Weihnachten ist die hohe Zeit des Mitleids, vielleicht auch deshalb, weil das christliche Symbol des arg- und schutzlosen Kindleins in der Krippe jeden noch einigermaßen empfindsamen Menschen wehrlos macht und mit Beschützerinstinkten erfüllt. Spendensammeln, anderen helfen in einer Zeit, deren Konsumüberfluss hierzulande viele mit einem schlechten Gewissen zurücklässt – all das scheint irgendwie natürlich zusammen zu gehören.

Mitleid, dieses sich einfühlen in die Pein der anderen Kreatur, diese Fähigkeit, fremdes Leid wie eigenes zu erleben und zu helfen, ist eine seltsame Regung. Im Darwinschen Kampf um Überleben und privilegierte Fortpflanzung dürfte sie eigentlich gar nicht vorkommen, weil sie den Stärkeren ablenkt vom ewigen Streben nach Überlegenheit und dem von Auslese bedrohten Schwächeren eine Chance gibt, die er im Sinne der Höherentwicklung der Art eigentlich nicht verdient hätte. Am ehesten erklärlich sind Mitleid und Kooperation, wenn man den Zusammenhalt unter Artgenossen als evolutionären Vorteil und eine Machttechnik in der Konkurrenz zu äußeren Feinden sieht. Es gibt inzwischen auch Grund zu der Annahme, dass sozialer Zusammenhalt genetisch als Funktion einer bestimmten Region des Limbischen Lappens in der Großhirnrinde angelegt ist. So will der kalifornische Psychologe James Goodson bei unterschiedlich geselligen Finken sogar besondere Nervenzellen gefunden haben, die deren Sozialverhalten erklären.

Ob nun genetisch programmiert oder von der Evolution antrainiert – Mitleid ist eine der zentralen, wenn nicht gar die menschlichste Regung schlechthin. Es ist in gewissem Sinne die Kernbotschaft des Christentums, das Anteilnahme, Verständnis und Hilfsbereitschaft – salopp gesprochen –  sogar noch über die „natürlichen“ Gelegenheiten (Schwache, Arme, Kranke etc.)  hinaus auf „Unwürdige“, Unsympathen, Fieslinge und Feinde ausgedehnt sehen will, die das eigentlich gar nicht verdient haben. Jesus Christus nimmt mit seinem Kreuztod gar die Sünden der ganzen Welt auf sich –  mehr Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Vergebung sind nach menschlichem Ermessen nicht vorstellbar. Mitleid ist somit eine rundum positiv besetzte Eigenschaft, weil der Mitleidende das Ungemach des Nächsten wichtiger nimmt als sein eigenes Wohlbefinden.

Mitleid ist gut, könnte man es schlicht formulieren. Und wie bei allem Guten, ist übermäßiger Genuss nicht super-gut, sondern schlecht. Der große Psychologe Alfred Adler etwa weist in seiner „Menschenkenntnis“ darauf hin, dass das Engagement für andere eben auch dazu dienen kann, dem praktizierenden Bemitleider das angenehme Gefühl zu geben, ein guter Mensch zu sein. Die vermeintliche Selbstlosigkeit wird so zu einem raffinierten Anrechtsschein für gesellschaftliche Anerkennung oder zur Krücke für das eigene Selbstwertgefühl. Aus etwas Selbstlosem wird durch mehr oder weniger bewusste Anwendung selbstsüchtige Selbstaufwertung. Das so genannte Helfer-Syndrom ist so eine Entartung, bei der sich der Helfende im Grunde selbst hilft, indem er immer aufs Neue seine eigene Tugendhaftigkeit unter Beweis stellt.

Und noch eine seltsame Eigenschaft hat das Mitleid: Wer andere bemitleidet, macht diese automatisch zu Hilfsbedürftigen, Schwachen oder Opfern, die eben Mitleid nötig haben. Der Empfänger von Mitleid kann sich gegen diese Eingruppierung ins Opfer-Fach übrigens kaum wehren. Der Mit-Leidende dagegen kann im Stillen seine Überlegenheit auskosten, denn wer mit-leidet ist allemal besser dran als der Leidende selbst. Solange es Leidende gibt, hat der Mitleid-Spender seine Existenzberechtigung. So finstere Wege gibt es in unserer Seelenwelt.

Oder wie la Rochefoucauld es ausgedrückt hat: „Wir sind immer bereit, im Unglück unserer Freunde eine Art Genugtuung zu empfinden.“ Nicht minder zwiespältig ist Mitleid als politisches Motiv und Konzept. Dass die Einfühlsamkeit von Menschen missbraucht werden kann, ist dabei noch einer der offensichtlichsten Effekte, der freilich dazu führen kann, dass Misstrauen wächst, wo eigentlich unverstellte Hilfsbereitschaft vonnöten wäre. Viel komplizierter aber ist etwas anderes: Wer mitleidet, will helfen, sofort und auf möglichst geradem Wege. Und genau hier beginnt das Dilemma der Sozialpolitik. Dass man einem unter Entzug leidenden Süchtigen kein Geld gibt, ist einsehbar und hat sich weitgehend durchgesetzt. Darüber hinaus aber gilt vielfach der Grundsatz: Wer nicht hat, dem soll gegeben werden. Ein verständlicher, nur allzu menschlicher Affekt. Doch genauso, wie es sinnvoll sein kann, die Stützräder abzuschrauben, wenn der Nachwuchs Radfahren lernen soll, kann es sinnvoll, motivierender und langfristig hilfreicher sein, nicht gleich jede Not zu lindern, deren Anblick unsere Herzen ergreift.

Die meisten sozialpolitischen Debatten drehen sich daher nicht darum, ob geholfen werden soll, sondern wann und in welcher Form. Wobei der meist links im politischen Spektrum angesiedelte Vollversorger sogleich die Alleinvertretung gelebter Menschlichkeit zu vereinnahmen sucht, während Zurückhaltung in der Regel mit dem Ruf sozialer Kälte und schlimmer Hartherzigkeit leben muss.

Es ist in solchen Dingen mitunter hilfreich, einen Blick auf Entwicklungshelfer zu werfen, die hauptberuflich und professionell mit Schicksalen umgehen, die niemanden kalt lassen können. Und mit einigem Erstaunen stellt man fest, dass selbst im Angesicht unglaublicher Katastrophen Mitleid nicht den nüchternen Blick auf die menschliche Realität verstellt: Direkthilfe (Decken, Zelte, Nahrung) nur in akuter Not, damit sich niemand in Hilfscamps festsetzt. Danach Hilfe zur Selbsthilfe, Material, Geräte, statt fertiger Häuser oder Zisternen. Saatgut, das von der ersten Ernte zurückgezahlt werden muss. Oder, wie es ein Entwicklungshelfer in Nordafghanistan einmal ausdrckte: „Wer hungrig ist, geht zur Jagd, wer satt ist, nicht.“ Und so kann es wohl Situationen geben, in denen das Mitleid gebietet, ein Fischernetz zu verschenken und keine Mahlzeit, damit uns der gleiche Mensch nicht am nächsten Tag schon wieder leid tun muss.

Wir über uns und unsere Gemüseküche

Dezember 4, 2010

Die Selbstzentriertheit des deutschen Medienbetriebes ist zu gleichen Teilen verblüffend wie faszinierend und ärgerlich. Vor allem bei sogenannten Gesellschaftsthemen brechen sich da mitunter Zeitgeistströme völlig ungetrübt von jeder Realitätsbindung Bahn. Anders gesagt: Oft sind es in Personalunion die gleichen Schreiber und Reporter, die in Stuttgart der „politischen Klasse“ bescheinigen, sich meilenweit von den Menschen entfernt zu haben, die wenig später dem Vegetariertum, dem Elektroauto, dem „neuen Mann“ oder der Harald Schmidt Show zu medialer Präsenz verhelfen, die mit der tatsächlichen Resonanz beim einfachen Publikum gar nichts zu tun hat. Bei der (auch vom Autor geschätzten) Harald Schmidt Show wird das besonders offensichtlich, weil sie das liebste Kind der kreativen Metropolen-Intelligenz ist und die Feuilletons jede winzige Veränderung am Sendekonzept zu großzügigen Beiträgen nutzen, obwohl Schmidts Quoten meist noch unter denen von Birte Karalus oder „Frauentausch“ liegen, die dem Kulturkorrespondenten selbstverständlich keine Zeile wert sind. Motto: Egal, was die Masse meint, der Trend bin ich.

Sich am Leitbild des „neuen Mannes“ zu orientieren, kann keinem jungen Mann empfohlen werden, wenn er nicht vom Schulhof bis zur auf Dauer angelegten Partnerwahl zu den Verlierern gehören will. Dem unsportlich-versonnenen Trakl-Leser mit Brille und linkischem Auftreten können die inneren Werte aus beiden Ohren tropfen, und er wird von Disco bis Speed Dating schon in der Vorrunde ausscheiden. Frauen haben bis heute ihr Beuteschema nicht wirklich geändert, stehen auf überlegene Typen, fast immer älter, fast immer größer, gern mit höherem sozialem Status und wollen den „neuen Mann“ meistens erst dann, wenn der angebetete Imponierer auch in der Beziehung so bleibt  – statt Fenster zu putzen. Vielleicht sollten sie es einfach mit einem neuen Mann probieren….

Das SZ-Magazin hat in seiner jüngsten Ausgabe nun einem anderen Scheintrend ein ganzes Heft gewidmet: der „Gemüseküche“ – weil es besser klinge als „vegetarisch“, heißt es im Editorial ganz unverhohlen publikumsgeschmeidig. Und: „Gemüse liegt zweifellos im Trend, und das nicht nur, weil Fleisch aus der Mode geraten ist.“ Den Fleisch-pro-Kopf-Verbrauch der Deutschen können sie damit nicht meinen, denn der ist seit Jahren stabil und schwankt lediglich um einige Gramm pro Jahr (bei etwa 88 kg). Wer es noch genauer wissen will und den netto-Fleischverzehr heranzieht (weil im „Verbrauch“ ja auch Tiefutter, tierische Produkte etc enthalten sind), findet ebenfalls keine talwärts gehende Kurve. Hier mampfen die Deutschen tapfer 60 kg jährlich weg. Und das nicht erst seit gestern.

Mit anderen Worten: Hier schreibt das Bionade-Bürgertum über sich selbst und dünkt sich progressiv. Nun brauchten die meisten „Progressiven“ der Geschichte die Massen ohnehin nur als machtvolle Staffage, und es verwundert deshalb auch nicht, dass man sich vom Grillduft in sommerlichen Kleingartenanlagen, auf Balkonen, in Parks oder gar auf Parkplätzen den selbstgemachten Trend nicht kaputtmachen lassen will. Ärgerlich wird es nur, wenn zu diesem Behufe auch noch halbgarer Unfug zusammengeschrieben wird.

Dass es also ein eher dümmlicher Irrtum der Evolution gewesen sein muss, den Menschen als Allesfresser konfiguriert zu haben und überleben zu lassen – geschenkt. Wenn aber der in Berlin lebende Autor Peter Praschl (ich hoffe sehr für ihn, dass er nicht zur Bestätigung des Klischees auch noch am Prenzlauer Berg wohnt!) das Thema Mangelernährung bei Vegetariern einfach vom Tisch wischt, ist es im besten Falle oberflächlich. Den Bedarf an hochwertigem Eiweiß etwa in der Stillzeit vegetrarisch zu decken, setzt einige Anstrengungen voraus. Ich weiß auch nicht, wieviele Leistungssportler Vegetarier sind, finde deren industrielle Mast mit künstlichen Eiweißpräparaten aber auch nicht sonderlich sympathisch. Schlittenhunde als Fleischfresser sind übrigens um ein Vielfaches leistungsfähiger als die vegetarischen Rentiere (deshalb nimmt man auch erstere auf Expeditionen mit), aber das hat mit dem Menschen natürlich gar nichts zu tun.

Unrecht hat Praschl übrigens auch mit der Behauptung, vom Schlachtvieh werde alles weggeworfen, was sich nicht „umstandslos braten“ lasse. Tatsächlich bleibt so gut wie nichts – bis hin zu Hufen, Knochen, Gedärm, Haut (Leder), Blut etc. – unverwertet. Muss man ja nicht wissen. Muss man dann aber auch nicht schreiben.

Am Ägerlichsten ist aber, dass hier ein Ernährungskonzept offensiv vertreten wird, das in einer Welt des Hungers an Snobismus und Dekadenz kaum noch zu überbieten ist. Praschl preist das reichhaltige und vielfältige Angebot in seinem Bio-Supermarkt, das jeden eines Besseren belehre, der von Eintönigkeit und Unausgewogenheit bei Vegetariern rede. Dieses Privileg ist vermutlich nicht einmal dem gesamten reichen Drittel der nordwestlichen Welthemisphäre zugänglich. In Asien, wo sich Millionen Menschen unfreiwillig vegetarisch nur von Reis ernähren, wird man dem Vitamin-A-Mangel (schlägt auf die Augen) der mit dieser Getreideart verbunden ist, kaum Herr. Auch in Mittel- und Laiteinamerika (Mais, Kartoffeln) oder Afrika (Getreide und verschiedene Wurzeln) fehlt es mitunter schon an der Litschi danach oder der Kiwi zur Vitamin-C-Auffrischung neben den jeweils verbreiteten Mono-Mahlzeiten. Ich weiß nicht, wie gut die Bio-Supermärkte in Soest, Detmold oder Brakelsiek bestückt sind, wahrscheinlich aber zeigt man Praschl schon zwanzig Kilometer hinter der Berliner Stadtgrenze einen Vogel für den Vorschlag, sich spannend und abwechslungsreich vegetarisch zu ernähren.

Es soll jeder einfach essen, was er mag. Vor allem sollte es jeder können. Wenn diese Forderung umgesetzt würde, könnte sich die Menschheit glücklich schätzen. Wohlstands-Konzeptnahrung zu preisen, die nicht mal ansatzweise geeignet ist, auf dem Milliardenplaneten etwas Sinnvolles zu bewirken, ist so deplatziert wie eine Brigitte-Diät für dickbäuchige Afrikaner-Kinder.
Mahlzeit.

Exzellent geclustert: Die Deutschen und der Islam

Dezember 3, 2010

Das mit dem Islam ist eine seltsame Sache. Man kann ihn mögen oder nicht oder einfach hinnehmen dass er da ist. Die Deutschen, so hat es eine jetzt veröffentlichte Studie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster herausgefunden, sehen den Islam kritischer als die meisten Nachbarländer. Daran, so der Tenor, sei der mangelnde Kontakt von Deutschen zu Muslimen schuld. Mag sein. Wenn aber ein „Exzellenzcluster“ nicht eine Meisterröstung von Dallmayr Prodomo mit Frühstücksflocken und knackigen Haselnüssen ist, wonach es klingt, sondern eine wissenschaftliche Instanz, dann gibt diese Erhebung mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Die durchscheinende Unterstellung der Autoren wie auch in der medialen Wiedergabe, die Deutschen seien islamophober, hysterischer, ja fremdenfeindlicher als ihre Nachbarn lässt sich zumindest auf dieser Datenlage nicht begründen. Erst einmal müsste geklärt werden, um es einmal plump auszudrücken, wer Recht hat. Die Deutschen interessieren sich (siehe Autorin Petra Reski) nicht für die Mafia. Spinnen also die Ermittler? Hätte das Münsteraner Exzellenzcluster Mitte der 30er Jahre die Furcht vor den Deutschen in Polen erhoben, hätte es mutmaßlich auch leicht erhöhte Werte im Vergleich zu den Nachbarländern herausbekommen. Intensiverer Kontakt zu den Deutschen hat später daran übrigens nur wenig geändert…

Man kann die Studie als Augenblicksbild des relativen Verhältnisses verschiedener Gesellschaften zum Islam so stehen lassen. Mehr lässt sich daraus nicht ableiten. Das liegt schon daran, dass die Begrifflichkeiten zu schwammig sind. Interessanterweise merken die Autoren an, dass die geringen Kontakte von Deutschen zu Muslimen sich auch auf die Arbeitswelt beziehen, der kritische Blick also nicht von beruflichen Verdrängungsängsten gespeist sein kann. Da müssten sich die Deutschen eher Sorge machen, wenn ihnen ein neuer asiatischer Kollege vorgestellt wird. Das Verhältnis zu diesen und anderen Religionen und Kulturkreisen ist aber unproblematisch – obwohl die Kontakte dort nicht häufiger sind. Und warum in Deutschland Synagogen geschützt werden müssen und nicht folgerichtigerweise Moscheen, klärt die Studie auch nicht auf.

Und ganz nebenbei: Ich persönlich bin in meinem zivilisatorischen Grundgerüst soweit gefestigt, dass ich nicht erst durch persönliche Kontakte davon überzeugt werden muss, dass der Nächste vielleicht doch kein Schurke ist. Dass er es nicht ist, ist die zentrale Arbeitsthese des Abendlands, und solange mich keiner davon überzeugt, dass er mein Vertrauen nicht verdient, hat er es. Wenn man diesen Ansatz einmal als breiten Konsens – weit über Deutschland hinaus – annimmt und mit dem verbreiteten Desinteresse an Fremdem addiert, machen die Ergebnisse der Studie doch einigermaßen ratlos. Denn der Islam – darin sind sich Autoren wie Kommentatoren mehr oder weniger explizit einig – kann keine Schuld daran tragen, dass man ihn kritisch sieht. Und wie sehr.

Oder um es mit dem hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer zu sagen: „Wir haben ein Imam-Problem, kein Islam-Problem.“ Er sagt das zur Kommentierung seiner jüngsten Studie, die ergeben hat, dass die Gewlattätigkeit junger Muslime mit dem Grad ihrer Religiosität steigt. Und daran, sagt Pfeiffer, sind die Imame schuld, nicht der Islam. Mag sein. Womit beschäftigen sich eigentliche diese Imame den ganzen Tag so?