Erinnert sich noch wer an die „Komitees für Gerechtigkeit“? Anfang der 90er Jahre schossen sie als unorthodoxe Bürgertreffs aus dem – vor allem ostdeutschen – Boden, um gegen den vermeintlichen Ausverkauf der Neuen Länder und die Entwertung der ostdeutschen Biographien zu protestieren. Prominente schlossen sich an, zeigten Verständnis, und es sprach viel dafür, dass dies die neue Massenbewegung des Ostens werden würde.
Mit schöner Regelmäßigkeit und wie es den Anschein hat, steigender Frequenz, tauchen seit geraumer Zeit „Graswurzel“-Bewegungen auf, die dem Missverständnis aufsitzen, mit der kollektiven Weisheit der Empörten werde man die Dinge zu einem guten Ende führen, die die ignorante Politik verbockt habe. Früher hießen sie „Komitees für Gerechtigkeit“, was angesichts der Komitee-Seligkeit zu Politbüro-Zeiten, kein wirklich zeitgemäßes „Wording“ ist. Heute heißen sie „Occupy Wall Street“, Berlin, Frankfurt oder Piratenpartei und sind sich vor allem darin einig, dass sie auch keine Antworten haben. Selbst Ahnungslosigkeit wird so zur karrieretauglichen Qualifikation. (Warum musste Kart Theodor zu Guttenberg eigentlich zurücktreten?)
Dafür verfügen die „Aktivisten“ aber über ein reines Gewissen und eine ebensolche Weste. WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit), Attac, Schill-Partei… – geeint werden all die versunkenen Markennamen, durch das (Selbst-)Bewusstsein, „von unten“ (ganz wichtig!) zu kommen und deshalb per Geburt eine reine Seele zu besitzen. Die – und das ist der zweite entscheidende konstitutive Punkt – besitzt der Gegner (die Politik, die Wirtschaft, die Finanzmärkte, die Globalisierung) selbstverständlich nicht.
Der zentrale Reflex: Die Welt ist schlecht, und damit es besser wird, müssen wir ran. Denn wir haben schließlich mit all dem nichts zu tun und sind nur die Leidtragenden. Das strotzt einerseits vor Selbstgerechtigkeit und –überschätzung und wirft andererseits ein interessantes Schlaglicht auf die Selbstwahrnehmung des Jetztmenschen in modernen westlichen Demokratien. Dieser sieht sich längst nicht mehr als Teil der komplizierten Gesellschaftsmaschinerie, sondern als deren außenstehender und unabhängiger Kunde mit Rückgaberecht: Fliegen ohne Fluglärm bitte, Essen ohne industrielle Landwirtschaft und Dauer-Tiefstpreise für Unterhaltungselektronik ohne schlechtes Gewissen…
Und so sieht sich auch der US-Kleinschuldner, der Haus, Auto und Konsum auf Pump finanzierte, ausschließlich als Opfer der Immobilien- und Bankenkrise. Selbstverständlich ist unverantwortliche Bankenpolitik und Bankenberatung hier im Spiel gewesen, dies aber willenlos zu akzeptieren, ist auch eine seltsame Vorstellung vom mündigen Verbraucher.
Noch schräger ist alledings die Motivationslage der hiesigen Frankfurt-, Berlin-, Deutsche-Bank-Okkupierer. Dafür, dass ausufernde Sozial- und Versorgungsstaaten sich bis über beide Ohren verschulden, können die Protestierer selbstverständlich nichts. Die Spirale aus Engagierten, die permanent mehr Staatsgeld für Bildung, Infrastruktur, Soziales, Innere Sicherheit oder Entwicklungshilfe fordern und einer Politik, die dieses Geld dann auch tatsächlich um der Wiederwahl willen locker macht, obwohl es gar nicht im Etat vorhanden ist – diese Spirale hat mit dem „kleinen Mann“ nichts zu tun. Müsste die Forderung nicht eigentlich lauten: Hört endlich auf, uns nach dem Munde zu reden, sondern werdet eurer Verantwortung als Regierende gerecht?
Weil aber auch die Okkupierer keine Sado-Maso-Bewegung sind, müssen Banken und Politik als Sündenböcke herhalten, was freilich einfacher ist, als das mühselige Herumschlagen mit den wahren Ursachen. Nun sind beide – Banken und Politik – nicht unschuldig, aber dass es bei der Bankenrettung auch um Einlagen, Lebensversicherungen, Riester-Gelder und Liquidität für die deutsche Wirtschaft geht, von der alle leben, interessiert niemanden wirklich. Schon erklärt der Herausgeber des Massenblattes „Freitag“, Jakob Augstein, die Anschläge auf Bahnanlagen in Berlin und die Londoner Plünderungen vom Frühjahr zum Menetekel kapitalistischen Systemscheiterns und zum Fanal einer chancenlosen Generation.
Die nur dürftig mit ideologischen Spinnweben bedeckte Kriminalität stellt Augstein in eine Reihe mit den Armuts- und Knechtschaftsrevolten der Arabischen Welt. Es muss wohl ein besonderes Gen geben, mit dessen Hilfe Gesellschaftskritik zum chronischen Reflex wird. Was auch geschieht, der Einzelne, so er denn arm und machtlos ist, kann im Grunde keine Schuld auf sich laden oder in Mithaftung genommen werden. Noch der letzte Kinderschänder kann darauf rechnen, dass die Eigenverantwortung für seine Tat zumindest ein wenig dadurch reduziert wird, dass er als Produkt des gemeinschaftlichen Versagens ringsum kaum anders konnte.
So fällt es denn auch nicht weiter auf, dass die Okkupation des Frankfurter Bankenviertels zwar gegen die Gier der Banker gerichtet ist, gleichzeitig aber dem nicht ganz egoismusfreien Motto folgt: Wir zahlen nicht für eure Krise, ihr Pleite-Griechen!. Hatten sich die meisten sozialen Bewegungen bislang eher Mitmenschlichkeit und Solidarität verschrieben, so ist in diesem Falle unüberhörbar auch der Ruf: Wir wollen unser Geld nicht für Rettungsschirme verpulvern. Das ist völlig in Ordnung. Nur haben fast alle Europäer seit Jahrzehnten Milliarden Euro mehr ausgegeben als sie hatten. Wer sich jetzt ehrlich machen will, wird nach bösem Erwachen festellen müssen, dass ein Schuldenschnitt auch an jedem Einzelnen von uns nicht spurlos vorüber gehen wird. Genau vor dieser schmerzhaften Offenbarung versucht die Politik sich derzeit noch zu drücken. Aber harte Ehrlichkeit fordern auch die Okkupierer nicht.
Noch ist nicht klar, wie weit PR-(Re)Volte der „Occupy“-Bewegung tragen wird. Blickt man in die Geschichte, so muss man feststellen, dass Revolutionen immer Elitenprojekte waren, die sich als Verstärker und Lautsprecher populärer Strömungen bedienten. Die realen Probleme wurden auf der Straße meistens nicht behoben, nur führten hinterher andere Leute die Geschäfte. Warum also nicht diesmal die Ahnungslosen?