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Konsequenter Unsinn

Mai 18, 2014

Es ist ein faszinierendes und gleichzeitig bizarres Schaustück über das Versagen einer funktionierenden Demokratie: Voraussichtlich am 23. Mai wird Deutschland ein „Rentenpaket“ beschließen, das bis zum Jahr 2030 zwischen 160 und 200 Milliarden Euro kostet – ein Betrag, der den jährlichen Staatshaushalt Belgiens übersteigt. Im „Paket“ befinden sich die Anrechnung eines zusätzlichen Rentenpunkts für Mütter, die ihre Kinder vor 1992 großgezogen haben (Mütterrente), dazu die Möglichkeit, bereits mit 63 Jahren in Rente zu gehen, wenn man 45 Jahre Rentenbeiträge gezahlt hat (Arbeitslosenzeiten inklusive) und eine Erwerbsminderungsrente.

Schon das Zustandekommen des Rentenpaketes ist kurios. Im Sommer 2013 lieferten sich die Parteien in Deutschland einen Wahlkampf ohne Wechselstimmung. Die alles überstrahlende Beliebtheit von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte jedes Wahlprogramm in den Schatten. Um den absehbaren Erfolg dennoch abzusichern, versprach die Union die Mütterrente, die SPD hielt aus Gründen der Selbstachtung im aussichtslosen Bieterverfahren mit dem vorfristigen Renteneintritt ab 63 dagegen. Das Kuriose daran: Beides waren schon 2013 Versprechen, nach denen niemand wirklich verlangt hatte. Weder schleppten sich vom harten Arbeitsleben gezeichnete Heerscharen von Endfünfzigern qualvoll dem Ruhestand entgegen, noch drohten Deutschland Mütter wegen der Stichtagsregelung von 1992 in den Gebärstreik zu treten. Deutschland erlebte und erlebt einen Zustand, der an Vollbeschäftigung grenzt und mit immer neuen Rekorden bei den Einnahmen aus Steuern und Abgaben garniert wird.

Das Rentenpaket der deutschen Bundesregierung ist der Phantomschmerz einer zufriedenen Gesellschaft.

Phantome sind die Probleme, die mit der Rentenreform vermeintlich behoben werden sollen. Schmerzen werden künftige Generationen leiden, wenn sie die Zeche für den 2013er Wahlkampf der Windstille zahlen müssen. Denn der Gipfel des Absurden besteht nun darin, dass Union und SPD es heute nach der Wahl als Ehrensache und geradezu heilige Konsequenz ansehen, die Geschenke, die niemand gefordert hatte, um jeden Preis zu überbringen. Eine Konsequenz im Unsinn, die Milliarden volkswirtschaftlichen Vermögens verschleudert und wider besseres Wissen noch einmal gewaltige Summen in die Sozialsysteme pumpt, die ohne gesellschaftliche Verwerfungen nicht wieder herauszuholen sind, wenn die deutsche Boom-Konjunktur sich wieder abkühlt.

Bizarr ist an all dem nicht so sehr die Tatsache, dass Parteien im Wahlkampf mit Lockangeboten Wähler ködern, sondern vielmehr der Umstand, dass die Große Koalition zu einem Konstrukt sich gegenseitig stützender Unvernunftsprojekte wird. Statt des kleinsten gemeinsamen Nennerns, der größte anzunehmende Unfug. Der ebenfalls im lauen und lustlosen Wahlkampf 2013 von Grünen geforderte „Veggie-Day“ in öffentlichen Kantinen wäre volkswirtschaftlich und gesellschaftspolitisch dagegen das kleinere Übel gewesen.

Das Rentenpaket der Bundesregierung wird als teurer Treppenwitz in die Politikgeschichte eingehen und als ein Paradebeispiel für die Dysfunktion einer westlichen Wohlstandsdemokratie.

Exempel Nummer eins: Die Mütterrente als „Schach-matt“-Projekt im Wahlkampf. Tatsächlich erhalten Mütter für vor 1992 geborene Kinder einen Rentenpunkt gutgeschrieben, für Kinder danach jedoch drei. Eine Ungerechtigkeit, die auf der Hand liegt. Und wer könnte ernsthaft dagegen sein, Müttern mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen! Eine geniale Wahlkampf-Forderung. Die nötigen 6,7 Milliarden Euro jährlich sollen aus den Rücklagen der Rentenversicherung kommen, scheinbar aufkommensneutral für den Steuerzahler. Scheinbar: Dass ab 2017 die Rentenbeiträge wegen der Mütterrente steigen müssen, wird schon jetzt eingeräumt. Ein Problem nur für die nächste Regierung.

Exempel Nummer zwei: Die Ehrlichkeitsfalle gegenüber dem Wähler. Weil versprochen nun mal versprochen ist, kommen weder Union noch SPD wider besseres Wissen von ihren Lockangeboten herunter. Es ist ein fast schon entwürdigendes Schauspiel, dem man dieser Tage in Deutschland immer wieder beiwohnen kann: Ernsthafte, scharf- und sonst meist auch weitsichtige Politiker rechtfertigen entgegen ihren bekannten Überzeugungen den milliardenteuren Rentenunsinn, weil regelkonform zustande gekommen ist.

Exempel Nummer drei: Die hermetische Statik des politischen Systems. Weder durch massiven Widerstand innerhalb der Parteien selbst, noch durch vielfältigste Expertisen und öffentliches Auftreten von Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen lässt sich das sozialpolitische Großprojekt der Großen Koalition stoppen oder zumindest entschärfend korrigieren, weil das Polit-Mikado („Wer sich zuerst bewegt, hat verloren“) dem gesunden Menschenverstand jeden Spielraum nimmt. Es dringt weder durch, dass nur wenige von Rente mit 63 profitieren, dafür aber ein verheerendes Signal zur Frühverrentung gesetzt wird, noch zieht etwa bei der Mütterrente der Verweis, dass Stichtagsregelungen wie jene von 1992 immer Brüche nach sich ziehen und zur wirklichen Gerechtigkeit ja immer noch ein Rentenpunkt für ältere Mütter fehlt. Alles in den Wind gesprochen, kraftlose Einwände gegen Regierungsparteien, die schon jetzt ihre Erbsen für den kommenden Wahlkampf zählen.

Und das bitterste Fazit: Den Wähler juckt all der parteipolitische Mummenschanz nicht die Bohne. Die Union schwebt mit ihrer beliebten Kanzlerin in den Umfragen weiter bei sagenhaften 40 plus X Prozent, die SPD kommt trotz sozialpolitischer Hyperaktivität aus dem 25-Prozent-Keller nicht heraus. Vielleicht sollte man den Menschen endlich sagen, dass es ihr Geld ist, das da verpulvert wird.