Soviel steht mal fest: Am chinesischen Wesen wird die Welt ganz gewiss nicht genesen. Seit die ersten Berichte über das Buch von Amy Chua („Die Mutter des Erfolgs“) in Deutschland zu lesen waren, herrscht breite Einigkeit im Land, dass mit erzieherischem Drill und autoritärem Durchgriff im Elternhaus nichts zu gewinnen sei. Von völlig verfehlt bis „Kindesmisshandlung“ reichen die Urteile in Leitartikeln und Talkshows. Dabei erstaunt weniger die Tatsache, wie leichtfüßig die ansonsten Pisa-gläubige Nation über die weltweiten Erfolge chinesischer Schüler, Studenten und Wissenschaftler hinweg geht, sondern es verblüfft vor allem, wie hartnäckig sich die eingefleischten Verfechter des progressiven Infragestellens aller Gegebenheiten nun ihrerseits selbst hermetisch gegen jeden Hauch des Selbstzweifels durch Chuas Provokation wappnen.
Hält man einen Augenblick inne, so lässt sich der Report aus dem chinesischen Erziehungs-Boot-Camp durchaus auch produktiv machen. Nicht in den Details und Methoden, die in der Tat wohl zu guten Teilen zum Schocken der Öffentlichkeit gedacht sind, sondern vielmehr in der Grundhaltung: Chuas Ansatz geht von einer Welt aus, der Erfolg und Wohlstand mit Disziplin und Kampf gegen die eigene Bequemlichkeit abgerungen werden muss. Setzt nicht darauf, dass ihr etwas vorfinden werdet oder dass man euch etwas wohlfeil überlässt – jeder selbst muss das Erz aus dem Bergwerk des Lebens herausmeißeln oder unwürdig durch den Tag schleichen, lautet ihre Botschaft.
Es ist eine Weltsicht, die dem Menschen keine Gnade, keine Rast, kein Pflichterbe gönnt. Jeder ist, was er sich selbst schafft. Ein Leistungsethos, dass frontal kollidiert mit dem hiesigen Anspruchsprofil. Während Deutsche und Europäer mit Vorliebe Grundrechte formulieren und in Verfassungschartas schreiben, mit bedingungslosem Grundeinkommen liebäugeln und die Gesellschaft in umfassender Bringschuld gegenüber dem Individuum sehen, geht Chua genau andersherum davon aus, dass zuerst das Individuum seinen Teil zur Gemeinschaft beizutragen habe, bevor es Anspruch auf irgendeine Dividende erheben kann. Auf wünschenswerte Mindeststandards und ideell fixierte Wohlstandszusagen verlässt man sich in ihren Augen besser nicht. Sie können funktionieren, müssen es aber nicht. Was man selbst kann, hat man sicher. Kurz: Während der Europäer sein Recht einfordert, erst nach einer stärkenden Mahlzeit auf die Jagd zu gehen, hält es der Chinese sicherheitshalber andersherum. Und wird dafür gescholten.
Die „Kampfhymne der Tigermutter“ (so der amerikanische Originaltitel) ist in der Tat kaum tauglich, als praktischer Erziehungsratgeber zu dienen. Zum einen sind in Chuas Augen Pauken und Drill Selbstzweck und werden dadurch uneffektiv, weil die Analyse fehlt, auf welchen Gebieten das Kind tatsächlich sinnvollerweise gefördert und gefordert werden sollte und wo man effizienterweise mit Mittelmaß zufrieden sein kann. Zum anderen – und das ist das viel größere Manko – geht diese Methode grundsätzlich von einem Erfolg als Funktionieren im vorgefundenen System aus. Nur das wird trainiert. Gerade wer an die Spitze will, muss aber über bestehende Grenzen hinaus und weiter denken und das Selbstbewusstsein haben, das Undenkbare zu denken und sich über das umgebende Mittelmaß hinwegzusetzen. Besser sein im Anpassen, heißt Chuas Rezept. Es trägt vermutlich eine Weile, aber nicht an die Spitze. Wer etwa Kinderzeichnungen nach dem Grad der Kopierpräzision betrachtet, leitet viel kindliche Energie fehl in das Ab- und Nachbilden, anstatt die Vertiefung des Realitätsblicks gerade durch Überzeichnung, Steigerung, Verzerrung etc. zu fördern. Auch waren viele große Komponisten keine guten Instrumentalisten. Das ordentliche Beherrschen eines Instruments ist gewiss eine Tugend, aber nicht deren Gipfel.
Und doch ist das Buch eine spannende Selbsthinterfragung einer Gesellschaft, die das Anrecht auf positive Beurteilungen verbrieft hat, in der immer mehr Kinder zur logopädischen Behandlung müssen, weil sich Eltern selbst das Korrigieren falscher Aussprache als vermeintlich autoritäre Attitüde verbieten. Die erzieherische Verunsicherung zwischen Kinds-Kumpel und Zuchtmeister geht hierzulande so weit, dass notorische Regelverletzer am liebsten in einem exotischen Camp in der texanischen Wüste über den Umweg der gnadenlosen Natur damit konfrontiert werden, dass sie sich in ein gesellschaftliches Umfeld einfügen müssen. Eine klare Ansage zu Hause ist als unmoderne Erziehungsmethode verpönt.
Und noch etwas fällt in Chuas Welt auf: Die Familie – so karriereorientiert ihre Mitglieder auch sein mögen – ist in der Pflicht beim Nachwuchs. Könnte es sein, dass unser Konzept, auf das Versagen von Familien mit deren Entlastung zu reagieren, am Ende womöglich nicht aufgeht? Gerade wird in Berlin und anderen Ländern über Programme diskutiert, mit denen Sozialpädagogen in sechsstelliger Zahl an die Schulen gebracht werden sollen, um die Lehrer bei Wissensvermittlung, Trainieren von Sprache, Kulturtechniken und allgemeiner Lebensertüchtigung zu unterstützen. Ein so umfassendes Unterfangen, möglichst große Teile der Kindesenwicklung familienersatzweise in Einrichtungen zu bewältigen, kann im Grunde nur scheitern: an den nötigen menschlichen und finanziellen Kapazitäten. Und kommende Generationen werden absehbar immer größere Teile der Kinder-Familien-Arbeit verlernt haben, weil sie selbst nichts davon erlebten.