Nirgends sind sich die Deutschen so einig, wie beim Thema Steuern: Alle werden zu Unrecht vom Finanzamt ausgenommen, zahlen zu viel, bekommen vom Staat zu wenig Leistung dafür und fühlen sich in der Konsequenz berechtigt, zu tricksen und zu täuschen, was die Anlagen AV bis N der Steuererklärung hergeben. Vom Ändern der zu eng gewordenen Hochzeitshose (Werbungskosten) bis zum letzten Kinderbuch, dass zur Fachliteratur umdeklariert wird, ist Steuer-Poker zum beliebtesten Volkssport noch vor dem Fußball geworden. Und in noch einem Punkt sind sich die meisten Deutschen einig: Wenn Reiche das gleiche tun, ist es verwerflich, eine Sauerei, unsolidarisch und gehört mit allen Mitteln verfolgt – koste es was es wolle.
Nun ist „Alle tun es“ noch kein Argument für Steuerhinterziehung. Aber man darf schon darauf hinweisen, dass jeder, der eine Steuererklärung abgibt, nicht zum Kreis der Ärmsten in der Gesellschaft zählt. Viel spannender ist aber vor allem die Frage, woher diese flächendeckende Illoyalität gegenüber dem Gemeinwesen kommt und wie sie sich so virulent ausbreiten konnte. Die Spur führt ziemlich geradlinig zur Haushaltspolitik.
Nach dem Ende der Wachstumsjahre der alten Bundesrepublik hat sich ein Selbstverständnis in der Politik festgesetzt, dass die Ansprüche der Allgemeinheit von der Haushaltslage abgekoppelt hat. Bestimmte Leistungen müsse der Staat garantieren, ganz gleich, ob er das Geld dazu hat oder nicht. Die alljährliche Neuverschuldung von Bund, Ländern und Kommunen legt Zeugnis davon ab, wie der Anspruchsteil stets hochgehalten wurde, ohne dafür schmerzliche Einschnitte an anderer Stelle verkünden zu müssen. Ganz normales Soll-und-Haben-Management wurde, gestützt auf etliche Theoretiker der Volkswirtschaft, wurde im staatlichen Raum außer Kraft gesetzt und ein Lebensgefühl des „Permanent-Aufwärts“ befördert.
Im Extrem kann man die Folgen übrigens in der „Abschlussbilanz“ der DDR (Schürer-Bericht) nachlesen: Über Jahrzehnte wurde hier so verfahren, als könne man Wirtschaftskraft beschließen – Wohnungen bauen, Bafög für Abiturienten einführen, Rente erhöhen – ohne dass die materielle Deckung dafür vorhanden war. Im Westen entstand vor diesem Hintergrund ein vertracktes Steuersystem, dass immer wieder versuchte die Löcher mit neuen Einnahmen zu stopfen und dabei dem gefühlten Anspruch durch verzwickte Fiskalpflästerchen keine allzu großen Schmerzen zuzufügen: Mobilität mit der „Ökosteuer“ verteuern und gleichzeitig die Pendlerpauschale ausweiten, Kassenbeiträge senken, Beitragsbemessungsgrenze erhöhen…
Konstant geblieben sind in den letzten Jahrzehnten allerdings Anspruchsdenken und Erwartungshaltung der Bürger gegenüber dem Staat. Weil aber trotz der ständigen Erklärungen der Politik über vermeintliche „Entlastungen“ sich auf den Lohnzetteln kaum etwas getan hat – zumindest nicht zum Besseren – sind Staat und Fianzamt mehr und mehr ins Abzocker-Image gerutscht. Ergo ringt jeder auf jede erdenkliche Weise mit dem Fiskus um rauszuholen, was rauszuholen ist. Das Gefühl, „ich habe meine Steuern gezahlt und lebe mit dem Rest“ ist untergegangen in einer Gesellschaft der Quittungsjäger und Belegsammler, der Rechnungsvermeider und Schwarzarbeiter.
Auf schleichende Weise infiltriert sich die verfallende Haushaltsmoral der öffentlichen Hand in die Steuermoral der Bürger. Und hier verhält sich die nötige Moral proportional zum Hinterziehungsbetrag: Mit ein wenig Moral könnte man sich die kleinen Steuertricks verkneifen, aber man braucht einen verdammt massives Ethos, will man der Versuchung widerstehen, Millionen in Sicherheit zu bringen.