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Mission Berlin – wie die Kirchen um ungläubige Hauptstädter ringen

Juli 30, 2013

(Der illustrierte Beitrag erschien in der Zeitschrift „Credo“)

Christoph Telschow hat das ganze Trauerspiel in seiner Kladde. „Am 4. Januar waren zwei Leute hier, am 11. Januar schaute einer vorbei, am 18. kam niemand…“ Woche für Woche rutscht sein Finger in den Spalten nach unten durch das Frühjahr 2013. Jeden Freitag von 16 bis 19 Uhr hat die „Eintrittsstelle“ der Evangelischen Kirche im Berliner Dom geöffnet. Wenn sich ein einziges Schäflein in das holzgetäfelte Zimmer der Hohenzollern-Kirche verirrt und wieder offiziell evangelisch werden möchte, dann war es ein guter Tag. Es gibt auch viele andere Tage“.

Dabei könnte es so einfach sein. Vier „Eintrittsstellen“ hat die evangelische Kirche in Berlin. Wer Taufschein, Konfirmationsurkunde und im Falle von Wiedereintritten die Austrittserklärung mitbringt, ist sofort wieder DRIN in der Kirche. One-Stop-Agency nennen Unternehmensberater solche Kinderleicht-Büros, wo man ohne langen Papierkram und Bürokraten-Marathon seine Dinge erledigen kann. Dass sich bei Christoph Telschow trotzdem keine Schlangen vor der Tür bilden, hängt allerdings auch damit zusammen, dass sich viele Neuchristen an die nächste Kirchgemeinde wenden, anstatt die zentralen „Eintrittsstellen“ anzusteuern. Aber bezeichnend für die Situation der beiden großen Kirchen ist die Einsamkeit des pensionierten Superintendenten in seinem Büro schon.

Leise dringt die Orgel aus der kleinen Tauf- und Traukirche des Doms herüber. Eine Hochzeitsgesellschaft blickt verkrampft auf die Gesangbücher, Karpfenmünder mit musikalischer Begleitung: „Freuet euch im Herren allewege“.   Wenn es um die Absicherung einer ungewissen gemeinsamen Zukunft geht, greift man gern auf das Alte zurück. Oder aus praktischen Gründen: „Die meisten kommen, weil sie einen Job in einer kirchlichen Einrichtung antreten und nun wohl oder übel einer Kirche angehören sollten“, sagt Christoph Telschow. Vor ihm auf dem Tisch ein Keramik-Engel, eine Kerze, traurige Tulpen. „Oder es sind Zugezogene aus den alten Bundesländern, die sich in Berlin noch nicht so auskennen und sich an die christlichen Wurzeln ihrer Kindheit erinnern. Bei manchen ist es auch die Heirat mit einem christlichen Partner, Geburt eines Kindes oder ein anderer Einschnitt, der den Glauben wieder belebt.“

Ossis kommen kaum. Während sie draußen Tellermützen von DDR-Grenzern und Rotarmisten aus taiwanesischer Billigproduktion verhökern, blickt Telschow drinnen einsam über die religiöse Trümmerlandschaft, die der leider ehedem reale Sozialismus hinterlassen hat. Vierzig Jahre DDR haben gereicht, um bei vielen die Wurzeln völlig zu kappen. Telschow weiß, wovon er spricht: Im östlichen Plattenbaubezirk Hohenschönhausen gab es zur Wende knapp sechs Prozent Christen, im eher bürgerlichen Weißensee, Telschows früherer Wirkungsstätte, rund zwölf Prozent.

Doch der Sozialismus erklärt nicht alles. Auch in West-Berlin, dem einstigen Mekka bundesdeutscher Kriegsdienstverweigerer, wachsen heute die Revoluzzer-Kids der 68er Eltern mit einem vitalen Desinteresse an Kirche und Glauben heran. Eher finden sie ihre spirituelle Erweckung in einem indischen Ashram als sich mit einem dreifaltigen Gott zu beschweren, der so uncool nach Alt-Deutschland riecht, von konservativen Parteien gepflegt wird und selbst im App-Store von Apple nur mit kreuzlangweiligen Geschichten von vor 2000 Jahren daher kommt. Überhaupt ist das mit dem Glauben heute so eine Sache. Manche glauben, dass Öko-Strom die Lösung und Atomkraft des Teufels sei, andere klappen ihr Laptop auf wie einen Hausaltar, gründen die Piraten und halten das Internet für die Erlösung 2.0. Kein Wunder, dass es irgendwie old-school wirkt, zur Andacht in ein altes Backsteinhaus mit Turm zu gehen, das nicht mal WLAN hat. Existiert ein Gott, der nicht bei Facebook ist? Oder anders gesagt: Ich glaube gern mal, wenn’s passt – aber deshalb gleich Mitglied werden? Auch eingetragene Kegelvereine gibt es immer weniger in Berlin.

„Berlin ist längst keine christliche Stadt mehr“, sagt Ernst Pulsfort, Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie Berlin und Pfarrer in St. Laurentius. „Allenfalls noch auf dem Papier.“ Gehörten nach letzten Erhebungen (2011) bundesweit mehr als 60 Prozent der Deutschen einer der großen Kirchen an, so ist es in Berlin genau umgekehrt: In der Hauptstadt sind 60 Prozent konfessionslos. Christen machen nicht mal ein Drittel aus. Einzig die Zahl der Muslime wächst und dürfte bereits die Zehn-Prozent-Marke der rund 3,4 Mio. Berliner überstiegen haben. Ihre strenge Religiosität wird als multikulturelle Besonderheit besonders geschützt, da ziehen eingefleischte Atheisten auch schon mal gegen „Islamkritiker“ zu Felde.

Doch auch der Berliner Senat unter dem Regierenden Katholiken Klaus Wowereit (SPD) macht es den Kirchen nicht leicht. Als 2009 der Volksentscheid über Religion („Pro Reli“) als Wahlpflichtfach an Desinteresse und Ablehnung der Berliner scheiterte, ging der Senat einfach zur Tagesordnung über, obwohl die von den bürgerlichen Parteien, Kirchen, Prominenten und sogar jüdischen und muslimischen Verbänden unterstützte Bewegung eine beeindruckende Mobilisierung für Glaube und Bekenntnis an den Tag brachte. Seitdem ist es so gekommen, wie die Pro-Reli-Unterstützer damals befürchteten. In den Klassen 7 bis 10 ist Ethik Pflichtfach, wer den Religionsunterricht besuchen will, findet sich irgendwann nachmittags zur achten Stunde als kleine Exoten-Truppe unter der Häme der anderen zusammen, die dann schon frei haben. Hinzu kommt, dass der Übergang zu flächendeckendem Ganztagsschulbetrieb auch den Besuch des Konfirmandenunterrichts immer schwieriger macht. Sohn Julius musste unlängst eine Bestätigung des Pfarrers vorlegen, dass es sich um eine außerschulische Arbeitsgemeinschaft von mindestens zwei Wochenstunden handele, für die er ausnahmsweise von der Nachmittagsbetreuung befreit werden könne. Der Direktor ließ es generös durchgehen.

Diaspora Berlin. Wer durch die Kieze der Hauptstadt reist, durch Szene-Bezirke, Shopping-Meilen und Zonenrand, der trifft auch die anderen: Hauptamtliche, die Glauben und Leidenschaft noch nicht verloren haben, Laien, die einfach anpacken, wo es Not tut und Überzeugungstäter, die eine christliche Navigationssoftware für ein unerlässliches Update halten im Leben.

„Natürlich versuche ich zu missionieren“, sagt Pfarrer Pulsfort. „Hier können Sie katholisch werden. Es ist viel einfacher als sie denken!“ steht auf einem Poster im Aushang seiner Gemeinde in Berlins Mitte, nicht weit vom Kanzleramt. „Ich will den Menschen die Ängste nehmen vor der Institution Kirche. Die Menschen unterscheiden sehr zwischen Kirche und Glauben.“ Damit trifft er wohl den Kern des Problems: Hauptfeind der Kirchen ist häufig die Kirche.

„Die kirchliche Sexualmoral ist meilenweit von der Realität entfernt“, meint Ernst Pulsfort. Kein Einwand, den man noch nirgends so gehört hätte. Doch der Pfarrer und Buchautor sieht auch keine theologisch tragfähige Begründung für viele Dogmen zum Sex-Leben. „Heute ist alles transparent, durchsichtig, auch die Kirche und das Leben ihrer Würdenträger. Überzeugen können wir aber nur mit authentischen Personen und lebensnaher Lehre.“ Wo immer mehr Katholiken ihre Distanz zu Rom als Ausweis persönlicher Glaubwürdigkeit in den Vordergrund stellen, nimmt die Gemeinschaft schaden. „Die beste Kampagne ist jeder Einzelne.“

Dabei weiß er sogar seinen Erzbischof, Rainer Maria Kardinal Woelki, an seiner Seite: „Jede und jeder Einzelne ist durch Taufe und Firmung aufgerufen und befähigt, Zeugnis zu geben von der erlösenden Kraft des Glaubens. Ich sehe meine Aufgabe darin, dazu zu ermutigen: Ich traue Euch das zu, Ihr könnt das und Ihr dürft das!“ Problem erkannt, Herausforderung der weltlichen Konkurrenz angenommen? Woelki: „Schon die Einsicht, dass wir kein Monopol haben für Sinn, Transzendenz und Werte, ist ein wichtiger Schritt. Das Wort ,Konkurrenz‘ würde ich nicht verwenden, aber wenn, dann ,belebt sie das Geschäft‘.“ Soll heißen: Wir müssen besser werden, neue Wege suchen. Eine Einsicht, die nicht überall zu finden ist in den Amtsstuben der Kirche. Denn auch über die Ursachen des negativen Christen-Saldos reden Würdenträger – politikergleich – nicht gern. Wer zugibt, dass er ein Problem hat, bekommt größere. Woelki dagegen spricht Klartext: „Am problematischsten finde ich die, die nicht mehr suchen, die keine Fragen haben, die sich nicht auf den Weg machen. Die können wir überhaupt nicht erreichen.“

 

Cecilia Engels gehört zu denen, die sich damit nicht abfinden wollen. Irgendwo tief drinnen, glaubt sie, weiß jeder, dass wir nicht aus uns selbst heraus leben, dass da eine größere Kraft ist, die uns hält. Mancher ahnt es zumindest. Und um diese Nachdenklichen geht es.  Ausgerechnet in Berlin-Kreuzberg, wo Linke und Muslime längst ihre eigenen Hochämter feiern. Ausgerechnet in einer Samstagnacht, wenn sich die Großstädte des Westens auf der dunklen Seite der Welt ins Vergnügen stürzen. Ausgerechnet hier in St. Bonifatius, wo wummernde Bässe aus tiefergelegten 3er-BMWs die Yorkstraße entlang pumpen und erfolgreich die Abendstille bekämpfen. Ausgerechnet hier hat Cecilia Engels mit einigen Mitstreitern Transparente und Fahnen auf den Gehweg gezogen, um Passanten zum „Night Fever“ in die Kirche einzuladen.

 

Was dem Namen nach wie ein Cover-Musical mit dem flirrenden Glitzersound der Bee Gees klingt, ist in Wahrheit eine Aktion, die 2005 vom katholischen Weltjugendtag in Köln ausging und inzwischen in ganz Deutschland, ganz Europa und sogar schon in Nordamerika junge Leute zu zwanglosen Andachten in die Kirchen zieht. Drinnen in St. Bonifatius stehen kleine Lichter an den Kopfseiten der Bänke zu beiden Seiten des Mittelgangs. Eine warm flackernde Landebahn für die Seele, die vorn am Altar bei der Monstranz mit der geweihten Hostie ausläuft. „Laudate omnes gentes“ singt ein kaum sichtbarer Chor im Seitenschiff. Ein Hauch von Taizé mitten in Kreuzberg. Und das Wunderbare: Es wirkt.

 

Irgendwann schieben sich unsichere Gestalten durch den Mittelgang. Manche mit Rucksäcken, mit dicken Kopfhörern, Taschen und Tüten. „Christus, dein Licht erstrahlt auf der Erde“. Flöte und Gitarre mischen sich mit dem leisen Ächzen der Bänke, steigen auf im Dämmerlicht des Gewölbes, das in dieser Samstagnacht einen Menschenraum im Erdendunkel freilässt. „Es geht nicht in erster Linie um den Eintritt in die Kirche“, sagt Cecilia Engels leise. Ob die nächtliche Laufkundschaft die Gegenwart Christi in der Monstranz selbst erkennt und erlebt, weiß die promovierte Meeresbiologin nicht. „Es geht darum, verschüttete Erinnerungen wieder hervorzuholen, vielleicht einen Faden von Besinnung und Suche wieder aufzunehmen, der bei vielen noch immer lose daliegt.“ Glaube first, wen die Jesus-Geschichte dann nicht mehr loslässt, der kann sich mit Fragen an Priester wenden, die unauffällig am Rande dabei sind.

 

Katharina Hohenstein (Name geändert) ist so eine, die Fragen hatte. Mit Mitte 30 merkte die promovierte Chemikerin, dass etwas fehlte. Familie, Kinder, Erfolg – aber warum das alles und wozu? Mit 36 ging sie in die Christenlehre, ein Jahr später ließ sie sich taufen, trat in die Kirche ein. Wegen einer Sinnkrise? „Nein“, sagt Katharina Hohenstein, „aus Berechnung.“ Einen Augenblick genießt sie die Verblüffung, lacht. „Wenn man in der Geometrie auf einer endlosen Geraden einen Punkt festlegen will, braucht man einen Orientierungspunkt, der nicht auf dieser Geraden liegt, sonst geht es nicht. So ist es auch bei uns Menschen. Es ist ein Unterschied, ob ich IHM gegenüber Rechenschaft ablege oder mir gegenüber. Ich selbst neige mir gegenüber zur Großzügigkeit.“

 

Genau das ist der Punkt, an dem der evangelische Bischof Markus Dröge die Menschen abholen möchte. „In einer Zeit, in der Bindungen mehr und mehr verlorengehen, wächst die Sehnsucht nach Verbindlichkeit.“ Das Problem: Menschen wie Katharina Hohenstein, die sich mit offenem Herzen und wachem Verstand in die großen Kirchen zurückgrübeln, gibt es zu wenig, um den Strom der Kirchensteuervermeider und Wellness-Religiösen auszugleichen, die jeden Monat austreten. Aber Dröge hofft, dass Leute wie Katharina Hohenstein ausstrahlen auf andere. Ehrenamtliche Mission im Schneeballsystem sozusagen: „Wir laufen nicht mit dem Megaphon durch die Straßen. Jeder der selbst überzeugt ist, überzeugt auch andere“, sagt er.

Während bei vielen Katholiken die Freiburger Rede von Benedikt XVI. noch nachhallt, in der er „Entweltlichung“, Rückbesinnung auf Seelsorge und Verkündigung gefordert hatte, gehen Berlins Protestanten geradezu in die Welt hinaus, erklärt Dröge: „Wir setzen da andere Akzente. Wir glauben, dass gerade die ,Treue zur Welt‘, das ,Kirche für andere sein‘ (Dietrich Bonhoeffer) die Hemmschwelle überwindet, die es oft gegenüber der Institution Kirche und ihrer Dogmatik gibt.“ 35 evangelische Schulen gibt es im Bistum inzwischen; vielleicht wächst da eine Generation heran, die wieder ganz selbstverständlich mit Religion umgeht.

Doch Illusionen macht sich auch Bischof Dröge nicht: „Im Ostteil der Stadt gibt es noch immer ein nichtchristliches Milieu, das stark von der Alltagsideologie der DDR geprägt ist. Der Glaube galt damals als wissenschaftlich widerlegt. Hier wollen wir vor allem zeigen, dass der Glaube gesellschaftlich relevant ist. Die religiöse Trümmerlandschaft des SED-Regimes zu beseitigen ist eine Generationenaufgabe.“

Roland Jacob ist dieser Ost-Berliner Trümmerlandschaft auf seine ganz eigene Weise entgegengetreten. Er hat sich kurzerhand seine eigene Kirche gebaut. Gut zehn Jahre hat der langjährige Radiologe und Chefarzt im Klinikum Berlin-Buch in seinem Garten an dem Gotteshaus gewerkelt, hat für 25 000 D-Mark den Korpus eines Holzhauses erstanden, dann nach und nach zwölf historische Bleiglas-Fenster gekauft und aufwändig restaurieren lassen. Zwischen 4000 und 5000 Euro hat das pro Stück gekostet. Ein funkgesteuertes Uhrwerk läuft im Giebel über der Inschrift „Gott ist getreu“ und stimmt morgens um neun Uhr („Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne“), mittags um 13 Uhr („Großer Gott, wir loben dich“) und abends um 18 Uhr („Weißt du, wieviel Sternlein stehen“) ein hell klingendes Glockenspiel an.

„Die Nachbarn mögen das“, sagt Roland Jacob und sieht sehr zufrieden aus. Farbiges Licht fällt durch die Fenster in den kleinen Raum, auf den weißen Marmor-Altar, vor dem der Heiland mit nach oben gefesselten Armen hängt. „Ein Holzbildhauer im südfranzösischen Roquebrune hat ihn aus einem Olivenstamm geschnitzt.“ Jacob macht keine halben Sachen. Nebenan hat er eine Tischlerwerkstatt mit modernsten Abrichten, Fräsen und Werkzeug in ordentlichen Wandkästen. Wenn die Gesundheit mitspielt, soll das Glockenspiel noch einen Apostel-Zug bekommen, wie am Rathaus in Prag.

Wie aber kommt man auf die Idee, im eigenen Garten eine Kirche zu bauen? „Ich habe in Ecuador in einem Hotel mit eigener Kirche gewohnt“, sagt Jacob. Seitdem hat ihn das Projekt nicht mehr losgelassen. 1940 in einem streng christlichen Elternhaus im Vogtland geboren, war der Mediziner später Mitglied der Block-CDU in der DDR und hat mit der Amtskirche seinen eigenen Hader: „Im Osten störten mich die Bischöfe, die mit dicken Mercedes-Karossen vorfuhren. Und wegen Pfarrer Gauck bin ich dann nach der Wende ausgetreten“, sagt Jacob. Der damalige Chef der Stasiunterlagen-Behörde habe ihm eine IM-Täterschaft nachweisen wollen, die er nicht hatte. Darüber gibt es inzwischen ein Gerichtsurteil. Der Frust sitzt noch immer tief. Inzwischen ist Roland Jacob wieder in die evangelische Kirche eingetreten – und hat ein anderes Problem: Die örtliche Kirchengemeinde schickte argwöhnische Emissäre, um die vermeintliche Konkurrenz in Augenschein zu nehmen.

Die Furcht war unbegründet. Roland Jacob ist kein Kampfprediger, Spinner oder gewinnorientierter Glaubensstifter. Er sehe sich und sein Kirchlein eher als Ergänzung, sagt Jacob und hat auch schon eine kleine Reihe mit Lesungen und Musik geplant, die er gemeinsam mit der Gemeinde veranstalten will. Vor gut einem Jahr ist sein Gotteshaus sogar offiziell eingeweiht worden, und eine „Privatkirche“ will er auch nicht gründen. Aber auch er kennt viele Leute „mit christlicher Weltanschauung, die aber mit der Firma Kirche nichts zu tun haben wollen“. Und so ein kleiner Kirchen-Rebell steckt auch in Roland Jacob. Welche Konfession sein Kirchlein eigentlich habe? „Meine!“, sagt er keck.

Und so trifft man beim Streifzug durch das christliche Berlin die kraft- und hoffnungsvollsten Missionare vor allem dort, wo die Amtskirchenstuben etwas weiter weg sind. Pater Heiner Wilmer zum Beispiel ist Provinzial der Herz-Jesu-Priester, die vor wenigen Wochen erst ihr Kloster im Szenebezirk Prenzlauer Berg eingerichtet haben. „Die Leute stellen heute ganz andere Fragen als wir denken“, sagt Wilmer. „Ob es Gott gibt, ist für viele Menschen gar nicht die Frage. Sie wollen wissen: Was bringt mir der Glaube, was bedeutet er für mich.“ In seinem Buch („Gott ist nicht nett“. Herder Verlag) hat Wilmer sich auch kritisch selbst befragt. „Manchmal höre ich mir selbst beim Beten zu und merke, wie ich Floskeln und Palaver irgendwohin, in den Himmel, in die Dunkelheit schicke. Seltsamerweise erträgt Gott das.“ Eine Diagnose, die in seinen Augen auch auf den Zustand der großen Kirchen passt: verflachte Botschaften, abgestoßene Kanten, kein Gesicht.

Sein Fazit: „In den großen Kirchen sind wir abgerutscht und reden viel zu oft über Moral und Strukturen. Zölibat, Frauenpriestertum, Homo-Ehe – das sind alles Nebensätze. Unser Hauptsatz ist in Wahrheit aber das Evangelium Jesu Christi, es ist keine Moral, sondern Erlösung, das Wachsen als Mensch im Glauben.“ Und so ist Pater Wilmer auch im mondänen „Prenzelberg“ mit seinen Öko-Kitas und Bio-Läden als Ersatzreligion nicht verzagt. „Die Menschen wollen nicht belehrt werden, aber sie haben einen natürlichen Sinn für die Tiefenbohrungen des Lebens.“ Deshalb wollen die Herz-Jesu-Priester einfach im Namen Gottes für die Menschen da sein, Begegnungen in der Kirche: „Zusammenkünfte für Schwangere, für Menschen, die gerade Prüfungen ablegen, für Kinder mit ihren Haustieren…“

Er gerät fast ein wenig ins Schwärmen vor lauter Vorfreude auf all die Zusammenkünfte, Andachten, lebensvolle Liturgie. Schwärmen für die Menschen, Schwärmen für den Glauben, Schwärmen für Gott. In einer Stadt wie Berlin nicht das Schlechteste.

Ossi-Peer und die SED

Juli 3, 2013

Man kann ihm nicht vorwerfen, nicht wenigstens alles versucht zu haben. Im Interview mit der „Zeit“ (4. Juli 2013) hat SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück jetzt auch den Verständnis-Ossi gegeben. Zum Beispiel für SED-Mitglieder. Im Grunde, meint Steinbrück, waren Genossen eine Art DDR-Folklore, so ein echtes Stück Gemütlichkeit Ost: „Das geschah oft mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, und zwar derselben, mit der man in Bayern in die CSU eintrat oder im Ruhrgebiet in die SPD.“

Sah das vom Westen aus tatsächlich so aus? Hattet ihr von den Aussichtsplattformen an der Mauer diesen Eindruck vom Funktionieren des SED-Regimes? Waren all die Aufmärsche und Paraden in euren Augen ein ausgelassenes Schuhplattler-Äquivalent mit Fahnen, Fackeln und Fanfaren?

Nun gibt es auch für Interview-Situationen wie diese eine goldene Regel von Dieter Nuhr, die im Zweifelsfalle noch immer weitergeholfen hat: „Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal sie Fresse halten!“ Aber Lila-Laune-Peer, weiß eben auch, wie das so war, damals im Osten. Wie bei der CSU. Nur ohne Lederhosen. Es sind Situationen wie diese, in denen man gern Gernot Hassknecht wäre, Steinbrück gegenüber stehen möchte und den Mundgeruch von Shrek haben: „JA HAT DIR DENN EINER INS GEHIRN GESCH…..!“

Hast Du, bestbestallter Vortragsreisender, eigentlich jemals einem Parteisekretär gegenüber gestanden?! Einem Mental-Zwerg in Polyamid-Anzug mit dem SED-Bonbon am Revers, der dir mit einem dummen Spruch in der Beurteilung oder einer klitzekleinen Weitermeldung das Leben ruinieren konnte? „Diskutiert destruktiv, steht nicht auf dem Standpunkt der Arbeiterklasse…“

Nein, hast Du nicht, also rede auch nicht so einen Klugscheiß daher, den Dir irgendwer mal erzählt hat, der ehedem Bestzeiten im Mitlaufen bei der Bezirksspartakiade in Dessau errungen hat! In die SED gingen die 125%igen, Ideologen, Hetzer und Vordenken-Lasser. Und es gingen mindestens ebenso oft jene hinein, die einfach Angst hatten um ihre Familie, um ihren Job, Angst aufzufliegen mit ihrem geheimen Abkotzen über den Lauer- und Bekenntnisstaat. Nein, lieber Peer, das war nicht witzig, kein fröhliches Brauchtum im Politbüro-Stadl. Keine lässliche Vereinsmeierei, sondern die Indienstnahme der Gedankenlosen und die Erniedrigung der Ängstlichen. Systemparteien war vor 1945 nicht komisch, und sie waren es nach 1945 nicht.

Muss man dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokratie 23 Jahre nach dem Ende der DDR ernsthaft erklären: Dass man aus der CSU noch immer ohne Schaden austreten konnte? Dass sich gar die Freien Wähler von den Christsozialen abgespalten haben und die CSU zu freien Wahlen antritt, theoretisch sogar abwählbar ist (wenn man nicht gerade Christian Ude aufstellt)?! Diese SED-Leute, haben nach 1945 Deine Genossen drangsaliert, Peer, und verhöhnen Euch bis heute, wenn sie es „Elemente von Zwang“ bei der Zwangsvereinigung zur SED nennen. Wer gedankenlos in die SED eintrat, wurde vom System inhaliert, missbraucht, zu einem Rädchen, das andere zermahlte. Wer für die SED „geworben“ wurde und sich aus Vorsicht und wegen des Drucks nicht entziehen wollte/konnte, war kein zechender Bajuwar oder büttenredender Karnevals-Sozi, sondern ein Umstands-Arrangeur, dessen Würde damals durchaus antastbar, formbar war.

Wenn es denn partout der Ossi-Peer sein muss, der sein Wählerstimmen-Schleppnetz über Neufünfland zieht, dann sag‘ es in Herrgottsnamen doch grad heraus: „Es war nicht alles schlecht!“. Trainiere Dir das Sächseln von Katja Kipping an und preise das  „positives Erbe der DDR“ wie im „Zeit“-Interview, dass so viele Frauen im Osten arbeiteten. Ebenso gelte das für die bessere Kinderbetreuung. Es war eine schöne Zeit in der Produktion mit der Betriebs-Kita, wo wir schon „Kleine weiße Friedehhheeenstaube“ und den „Kleinen Trompeter“ (dieses „lustige Rotgardistenblut“!) singen konnten, bevor wir noch richtige Jungpioniere waren. Und Deine Kompetenz-Schattenministerin Manuela Schwesig, die den rhetorischen Charme einer Grundorganisationsleiterin (GOL) nie so ganz wegbekommen hat, will ja auch wieder dahin zurück. Das Leitbild ist die vollbeschäftigte Frau, hat sie kürzlich verkündet. Wir brauchen sowieso viel mehr Leitbilder. Wie gut, dass rund um das „Haus des Lehrers“ in Berlin noch die Mosaike vom SED-Maler Walter Womacka erhalten geblieben sind, und auch am Bundesministerium der Finanzen gibt es noch diesen Wandfries mit den jungen, optimistischen Werktätigerinnen, die in eine lichte Zukunft marschieren. Mit uns zieht die neue Zeit. Lieber Peer, wir danken deer.