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Auf Sand gebaut

August 16, 2012

Mit viel Brimborium hat die Kanzlerin zu Jahresbeginn ihren „Bürgerdialog“ gestartet, bei dem Hinz und Kunz, Kreti und Pleti, Plitsch und Plum ihr mal die Meinung sagen konnten. Auf der Web-Seite gab’s ein munteres Themen-Casting, und wie’s die Klickzahlen wollten, belegten Hanf-Liebhaber und Waffen-Freunde die Spitzenplätze. Sie werden nun zum Kanzlerinnen-Plausch ins Amt eingeladen. Bei den vier „Townhall-Meetings“ im Lande war Merkel schon im Frühjahr live dabei.

Als unlängst bei Sekt und Schnittchen im Kanzleramt die erste Auswertung der fröhlichen Volksbefragung gefeiert wurde, gab es vor allem eine Botschaft, die eigentlich niemand hören wollte: Die Deutschen sind sich der Grundlagen ihres Lebens, ihres Wohlstands und ihres Wirtschaftens nicht bewusst, wie die Kanzlerin sekundiert von etlichen Professoren anmerkte. Sie nehmen all dies als gegeben und selbstverständlich hin.

Eine beängstigende Analyse.

Wirtschaftlich sehen die Deutschen ausweislich der Befragungen und Untersuchungen der betreffenden Arbeitsgruppe weder eine Abhängigkeit des inländischen Wohlstands von der Energieversorgung, noch vom Zugang zu Rohstoffen oder dem Rahmen-Reglement für die Arbeit. Im Gegenteil: Energie wird schon da sein, lautete mehrheitlich die Aussage der Bürgerdialog-Bürger. Statt dessen gab es viele gute Ideen, wie deutsche Firmen klimaneutral wirtschaften, soziale Verpflichtungen übernehmen und ihren internationalen Handel nach „Fairtrade“-Regeln ausrichten sollten.

Finanziell sieht die Mehrheit der Dialog-Teilnehmer ebenfalls keine Notwendigkeit für Rücksichten bei politischen Entscheidungen. Standardwendung: „Ein reiches Land wie Deutschland wird doch….“ Dann folgen viele schöne, wünschenswerte Projekte von Atomausstieg bis zur Integration von Migranten. Wie oft das gleiche Geld des „reichen Deutschland“ da für visionäre Unternehmungen ausgegeben wurde, haben die Dialog-Experten allerdings nicht gezählt.

 Politisch muss sich einiges ändern – darüber sind sich die hauptamtlichen Mitsprachler ebenfalls einig. Sorgen, ob und wie das Gemeinwesen funktioniert, treiben die meisten Deutschen nicht um. Dafür sehen alle reichlich Reformbedarf. Entscheidungen müssen nicht nur transparent sein, sie sollen auch klar und schnell getroffen werden, aber unter Einbeziehung der Bürger – am besten per Volksentscheid, -abstimmung, -befragung. Dass all dies möglicherweise nicht gleichzeitig zu haben ist, wird als kleinliche Verhinderungsrhetorik zurückgewiesen. Grundsätzlich Schuld: „die etablierten Parteien“, „die Politiker“, „die Wirtschaft“…

Gesellschaftlich ist vor allem wichtig, dass die individuellen Lebensentwürfe nicht durch gesamtgesellschaftliche Verantwortlichkeiten beeinträchtigt oder eingeengt werden. Vor allem sieht sich jeder, der nicht im gleichen Maße gefördert wird wie andere als Opfer von Diskriminierung. Motto: Was ich nicht bekomme, soll keiner haben oder alle.  Dabei ist das gesellschaftliche Selbstbild der Deutschen kein egozentrisches. Es soll allen gut gehen, Migranten sollen alle nötigen Hilfen bekommen, sexuelle Identitäten sollen völlig gleichgestellt sein, Familien gefördert werden und Sozialschwache unterstützt. Maximale Solidarität bei maximaler Freizügigkeit.

Das Fazit ist ernüchternd. Die Deutschen – eine Horde wohlstandsverwöhnter Flausenköpfe? Träume von der schönen neuen Welt, obwohl man die alte noch gar nicht verstanden hat? Und vor allem: Welche Schlussfolgerungen wird die Kanzlerin aus ihrem Bürgerdialog ziehen? Eine unscheinbare, aber bezeichnende hat sie schon gezogen: Es werden nicht nur die bestplatzierten und meistunterstützten Wortmeldungen des Online-Forums zum Date ins Kanzleramt eingeladen, sondern auch noch zehn Einreicher von Vorschlägen, die Experten als besonders wichtig und sinnvoll taxiert haben. Im Grunde ein schönes Plädoyer für die repräsentative statt der TED-Umfrage-Demokratie…