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Eliten-Dämmerung: Galopp der neuen Herrenreiter

September 12, 2011

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Ein Standardsatz, den der engagierte Hobby-Soziologe und Kämpfer für soziale Gerechtigkeit von heute einfach drauf haben muss. Pawlows Hunde schnappten, Gesellschaftskritiker von heute sagen diesen Satz. Der Wahrheitsgehalt spielt dabei keine Rolle. In der Tat nimmt die Gruppe der Geringverdiener zahlenmäßig zu, die der Spitzenverdiener auch. Man könnte also sagen, die gesellschaftliche Mitte schrumpft. Klingt aber weniger dramatisch. Ist aber auch egal, auf jeden Fall ist es schlimm.

Eine andere Schere macht den hauptamtlichen Mahnern dagegen weniger Sorge: Die wachsende Eliten-Dominanz in der Gesellschaftspolitik. Jüngstes Beispiel: der beträchtliche Erfolg der Piratenpartei in Berlin. Eine Partei, die mit dem Spartenthema „Netzfreiheit“ vermutlich den Sprung ins Abgeordnetenhaus der Hauptstadt schafft. Schmalspur-libertäre Computerfreaks, die auf ihren Plakaten ausdrücklich der Religion im öffentlichen Raum den Kampf angesagt haben und Innenminister genauso gefährlich finden wie Terroristen: „Zehn Jahre nach den Terroranschlägen am 11. September in den USA warnt die Piratenpartei Deutschland vor einer neuen Koalition der Willigen aus Terroristen und Innenpolitikern, die weltweit Freiheitsrechte bedrohen.“

Während sich der kleine Mann vorzugsweise beim Online-Shopping vor Abzocke fürchtet, sorgen sich die Piraten um die Recherchierbarkeit ihrer Browserverläufe und können offenbar gut damit leben, das Verbreiter von Kinderpornos im Netz kaum noch belangbar sind, weil die Server im Ausland stehen. Die mediale Präsenz dieser Partei steht ebensowenig in einem realistischen Verhältnis zur eigenen Bedeutung, wie die inflationären Wasserstandsmeldungen  zur Gefühlswelt von Wikileaks-Gründer Julian Assange, die man täglich lesen muss. Assanges  Treiben ist  für den durchschnittlichen Gebrauchsbürger mindestens so bedeutsam wie die inzwischen belegte Promiskuität von Kreuzottern.

Die Lebens- und Wertewelt großstädtischer Elite-Milieus prägt heute über weite Strecken den Meinungsmainstream. So gelten etwa Vegetariertum und Elektromobilität als nahezu unumstrittene Zukunftstrends, obwohl beides im bodenständigen Kleinverdienerhaushalt weder finanzierbar noch praktikabel ist. Auch die Anti-Atomkraft-Bewegung wird getragen von Multiplikatoren, denen die soziale Dimension dieses volkswirtschaftlichen Radikalschwenks entweder egal ist oder verkraftbar erscheint. 40 Euro Erhöhung der Stromrechnung pro Jahr – was ist das schon, hieß es unisono im Kreise der „Nein-Danke“-Sager, obwohl man seit der LKW-Maut eigentlich besser wissen kann, dass die Verteuerung ökonomischer „Grundnahrungsmittel“ (Transport, Energie etc.) sich in voller Breite bei Dienstleistungen und Produkten preistreibend niederschlägt.

Sowohl bei ökologischer Ernährung (mit dem Hybrid-Auto zum Bio-Markt), bei energetischer Sanierung (vs. Mieterschutz) oder Windparks (gibt es in Städten nicht) als auch etwa in der Integrationsdebatte, gibt die obere Mittelschicht den Ton der gesellschaftlichen Debatte an und setzt sich eher ungerührt über die Lebenswirklichkeit des „kleinen Mannes“ hinweg. Die sie allerdings meistens auch gar nicht zur Kenntnis nimmt, da es weder im Beruf Konkurrenz durch ungelernte Zuwanderer gibt, noch im Wohnumfeld soziale Brennpunkte. Und zur Not kann man unerwünschten Aspekten des harmonischen Zuwanderer-Panoramas geschickt ausweichen: Etwa indem Berlin-Kreuzberger Links-Öko-Bürger ihre Kinder in konfessionelle Schulen mit geringer Migranten-Quote in Mitte schicken. Sogar bei der Debatte um die Vereinigten Staaten von Europa und den Euro lässt sich konstatieren, dass nationale Bindungen und die durchaus bekannte Euro-Skepsis der einfachen Menschen auf der Straße im medial verstärkten Oberschichten-Kanon zum Tabu erklärt werden und einfach nicht vorkommen dürfen.

Es ist schon einigermaßen auffällig, dass die selbst ernannten progressiven Vor- und Herrenreiter den Blick immer seltener zum Fußvolke zurück schweifen lassen, in dessen Namen sie nicht selten zu sprechen vorgeben.