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Beschnittenes Selbstbild

August 3, 2012

Eines muss man den Richtern vom Landgericht Köln, die das jüngste Urteil zur Knabenbeschneidung gefällt haben, lassen: Sie haben wirklich mal echtes Neuland beschritten!

Die Liste der Vorwürfe, die Juden in den vergangenen 2000 Jahren (mehr oder weniger handgreiflich) gemacht wurden, ist weiß Gott lang. Von Brunnenvergiftung bis Kindermord, von Raffgier bis zu geheimbündlerischem Umsturz und der großen Weltverschwörung ist so ziemlich alles dabei gewesen. Dass die Beschneidung ihrer Kinder Körperverletzung sei, hat ihnen noch nie jemand vorgehalten.

Ein erstaunlicher Umstand, wenn man bedenkt, dass doch sonst kein Hirngespinst abwegig genug gewesen ist, um ein neues Pogrom zu begründen oder wenigstens ein wenig übel nachzureden. Vielleicht liegt das daran, dass es die Muslime auch tun? Oder sollte sich tatsächlich Gleichgültigkeit darüber durchgesetzt haben, was „die“ mit ihren Kindern machen?

Oder wurde das Ganze gar als eine Art religiöser Spleen der „anderen“ abgetan? – was ein eher erstaunlicher Ausweis interreligiöser Toleranz wäre. Fakt ist aber auch, dass die Debatte um die Frühbeschneidung von Jungen ein Schlag in die Magengrube der deutschen Selbstwahrnehmung ist. Und das nicht nur für gefühlige Befindlichkeitsfeuilletonisten: Die wirre, verwirrte Weltsicht ist längst auch in deutsches Recht gegossen.

Kruzifix-Urteil: Die „negative Religionsfreiheit“ (Freiheit, von Religion nicht behelligt zu werden) ist den Deutschen ein so hohes Gut, dass der Blick auf ein Kruzifix im Klassenzimmer für Nichtchristen unzumutbar ist. Kruzifixe müssen abgehängt werden, aber Beschneidungen an Minderjährigen, die nicht nur optisch ärgern, sondern mit der körperlichen Unversehrtheit von Kindern kollidieren, müssen (laut Kanzlerin, Außenminister & Co.) möglich sein?

Abtreibung: Ein neues Menschlein im Mutterleib zu töten, ist nach deutschem Recht illegal, wird aber im Konsens aller Parteien nicht verfolgt. Warum also so ein Geschrei um ein paar Millimeter Vorhaut, ohne die man zweifellos in den allermeisten Fällen trotzdem ganz gut durchs Leben kommt?

Kinderschutz: Handgreifliche Erziehungsmethoden von der Ohrfeige bis zur Tracht Prügel sind nach deutschem Recht belang- und strafbar. Aber das irreparable Entfernen einer Körperpartie kurz nach der Geburt soll als Ausweis religiöser Weltoffenheit gesetzlich ausdrücklich gestattet werden?

Kosmetische Operationen: Will Chantalle (16) aus Delitzsch ein Pfund Brust (darf ruhig ein bisschen mehr sein) am eigenen Balkon anbauen, plant der Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben – selbst wenn Mutti mitspielt. Sogar der Solariumsbesuch soll Minderjährigen untersagt werden. All das passt schlecht zusammen mit einer ausdrücklichen Freigabe von Beschneidungen.

Kopftuch-Urteil: Warum ist das für alle Beteiligten schmerzlose Tragen eines Kopftuches als Zeichen der religiösen Identität im öffentlichen Dienst nicht hinnehmbar, während sich nun fast alle Parteien im Bundestag dafür einsetzen, dass ein verkürztes Pimmelchen möglich sein müsse, damit Deutschland nicht als „Komikernation“ (O-Ton Merkel) dasteht?

Kann es sein, dass die Deutschen

a)  mit Religion grundsätzlich ein Problem haben

b)  mit der eigenen (christlichen) noch viel mehr und

c)   von dem seltsamen paternalistischen Wahn getrieben sind, jeden Menschen vor allem auch vor sich sich selbst zu schützen?

Die Antwort lautet: Ja.