Posts Tagged ‘Muslime’

Die Vorhut für die Vorhaut

September 10, 2012

Juden und Muslime verstehen die Welt nicht mehr. Was ist plötzlich mit den Deutschen los? Aus heiterem Himmel trifft die Anhänger beider Religionen das Beschneidungsverbot eines bis dahin unauffälligen Landgerichts in Köln und wirft so ziemlich alles über den Haufen, was im Verhältnis von Deutschen, Muslimen und Juden bislang gegolten hat.

Die Wucht, mit der sich Juden und Muslime im Kern ihres Selbstverständnisses auf einmal angegangen sehen, hat einen einfachen Grund: Über Nacht sind sie mit der rabiaten deutschen Areligiosität, mit konsequenter Verweltlichung, gnadenlosem Materialismus und offensiver Gottlosigkeit konfrontiert worden. Ein Erlebnis, das bislang hierzulande vor allem Christen kannten: Vom berühmten Kruzifix-Urteil bis zur Verhöhnung von Kreuz, Christus (taz: „Latten-Hugo“) und Papst haben Christen sich längst daran gewöhnt, alles an Schmähungen und Verhöhnungen hinnehmen zu müssen, was die wortführenden Dünnbrettbohrer so austeilen. Dass der Glaube ein für die Person zentrales Identitätsmerkmal sein könnte, erscheint dem frei flottierenden Talk-Schwadron völlig abwegig. Allenfalls unterschwellig als leicht rückständig bemitleideten Gesellschaften (Polen, Latinos und nicht zu vergessen fromme US-Amerikaner) wird eine gewisse exotische Frömmigkeit als zu überwindendes Relikt düsterer Vergangenheit zugestanden.

Juden und Muslime wurden aus unterschiedlichen Gründen von dieser Herabsetzung bislang weitgehend ausgenommen. Während Juden im „Land der Täter“ als verschwindende Minderheit vom Meinungs-Mainstream vor allem als Subjekt der Wiedergutmachung betrachtet und allenfalls durch antiisraelische Reflexe indirekt gepiesackt wurden, stellten Muslime die zentrale und sichtbarste Ikone von Migration und Multikulturalismus dar. Sieht man einmal vom braunen Bodensatz ab, so umgab über alle politischen Lager hinweg die deutschen Juden seit jeher eine Korona des Respekts, der Freude über wiederkehrendes jüdisches Leben und der innenpolitischen Solidarität. Dass sie in der Beschneidung mehr sehen könnten, als eine überflüssige OP, ist deutschen Lautsprechern nicht zu vermitteln. Sorry, ist nicht persönlich gemeint, nur ignorant. Und da es sich um einen rein juristischen Disput über die körperliche Unversehrtheit von Kindern handelt, kann all das mit Antisemitismus ja nichts zu tun haben….

Muslime hinwiederum wurden den Deutschen gerade wegen ihres sichtbaren und gelebten Andersseins als besonders schöne Integrationsherausforderung vorgeführt. Zwar gab es immer wieder Ärger um das Kopftuch muslimischer Frauen, aber die laute Stimme der Multikulturalisten übertönte noch immer die kleine Schar verfemter „Islamkritiker“ (eine Vokabel, die vielen bereits als Schimpfwort gilt). So wurden nicht nur die Kopftuch-Urteile scharf kritisiert, sondern es machte sich sogar Verständnis breit, wenn Muslime wegen der Mohammed-Karikaturen mord-brennend durch arabische und westliche Straßen zogen. Eine bis an die Grenzen der Selbstverleugnung und der Selbstaufgabe westlicher Werte gehende irrationale Nachsicht, die nun unversehens beim Thema Beschneidung hinweggenommen wurde.

Beide Gruppen, Juden und Muslime, kamen im Übrigen vor Jahren schon in den Genuss einer juristischen Sonderbehandlung, die damals kaum Aufsehen erregte: Das Schächten (Ausbluten ohne Betäubung) von Tieren als zentrales religiöses Ritual, wurde 2006 vom Bundesverwaltungsgericht per Ausnahmeregelung aus der Konfliktzone mit dem deutschen Tierschutz geholt und zugelassen. Obwohl Tierschutz inzwischen sogar als Staatsziel (Art. 20a GG) im Grundgesetz verankert ist.

Aus dem Kordon dieser Achtung und des religiösen Respekts werden Juden und Muslime nun unversehens verstoßen. Willkommen in der eindimensionalen Realität der konsequent Intoleranten! Verblüffend ist an dem Vorgang dreierlei:

Erstens gehörte es seit Urzeiten zum ganz alltäglichen Weltwissen jedes Abendländlers, dass Muslime und Juden die Beschneidung pflegen. Warum war es bis zum Juni 2012 nie ein Thema? Wenn es etwas gab, was im Getümmel der Kulturkämpfe beiden Religionen nie vorgeworfen worden ist, dann ist es die Beschneidung. Und nun entdecken die Deutschen urplötzlich, wie unhaltbar dieser Zustand ist und dass allenfalls von deutschen Amtsauskennern zertifizierte Beschneider unter Beibringung schriftlicher Belege der religiösen Unverzichtbarkeit den Eingriff ausnahmsweise noch vornehmen dürfen?!

Zweitens ist auffällig, dass deutscher Multikulturalismus und Inklusionswille offenbar nicht dort an seine Grenzen stößt, wo selbstbewusst eigene, westliche Werte postuliert und hochgehalten werden, sondern dort, wo der eigene Horizont die Nasenspitze streift. Wenn man davon ausgeht, dass das Menschenrecht auf Vorhaut bislang nicht zu den höchsten Rechtsgütern der westlichen Hemisphäre gehörte, könnte man zu dem Schluss kommen, dass hier einfach einem Fremden seine lästigen Marotten ausgetrieben werden sollen. So, wie das landläufige Durchschnitts-Dumpfhirn über Knoblauch und Orientmusik die Nase rümpft, kämpft jetzt die selbsternannte Fortschritts-Vorhut für die Vorhaut.

Drittens schließlich springen beide großen Kirchen in Deutschland Juden und Muslimen bei, weil sie selbst leidvolle Erfahrungen mit der Religionsfeindlichkeit vermeintlicher Eliten gemacht haben. Und vielleicht auch, weil sie (vermutlich vergeblich) auf ein wenig beginnende Selbstreflexion hoffen. Denn den Zwiespalt spüren wohl die meisten Beschneidungsgegner: Niemand will ernsthaft um einer Pimmelspitze willen deutsche Schlagbäume wieder herunterlassen: Das könnte ihr zu Hause machen, nicht bei uns! Irgendwas muss also für Juden und Muslime dran sein, wenn vorne was ab ist.

Und vielleicht spricht ja auch einiges dafür, sich zunächst dringenderen humanitären Problemen zuzuwenden. Ein Vorschlag zur Güte: Wenn Zwangsverheiratungen, Steinigungen und Mädchenverstümmelungen nachhaltig von dieser Welt getilgt sind, kann man die Zirkumzision gern noch einmal auf Wiedervorlage legen.

Beschnittenes Selbstbild

August 3, 2012

Eines muss man den Richtern vom Landgericht Köln, die das jüngste Urteil zur Knabenbeschneidung gefällt haben, lassen: Sie haben wirklich mal echtes Neuland beschritten!

Die Liste der Vorwürfe, die Juden in den vergangenen 2000 Jahren (mehr oder weniger handgreiflich) gemacht wurden, ist weiß Gott lang. Von Brunnenvergiftung bis Kindermord, von Raffgier bis zu geheimbündlerischem Umsturz und der großen Weltverschwörung ist so ziemlich alles dabei gewesen. Dass die Beschneidung ihrer Kinder Körperverletzung sei, hat ihnen noch nie jemand vorgehalten.

Ein erstaunlicher Umstand, wenn man bedenkt, dass doch sonst kein Hirngespinst abwegig genug gewesen ist, um ein neues Pogrom zu begründen oder wenigstens ein wenig übel nachzureden. Vielleicht liegt das daran, dass es die Muslime auch tun? Oder sollte sich tatsächlich Gleichgültigkeit darüber durchgesetzt haben, was „die“ mit ihren Kindern machen?

Oder wurde das Ganze gar als eine Art religiöser Spleen der „anderen“ abgetan? – was ein eher erstaunlicher Ausweis interreligiöser Toleranz wäre. Fakt ist aber auch, dass die Debatte um die Frühbeschneidung von Jungen ein Schlag in die Magengrube der deutschen Selbstwahrnehmung ist. Und das nicht nur für gefühlige Befindlichkeitsfeuilletonisten: Die wirre, verwirrte Weltsicht ist längst auch in deutsches Recht gegossen.

Kruzifix-Urteil: Die „negative Religionsfreiheit“ (Freiheit, von Religion nicht behelligt zu werden) ist den Deutschen ein so hohes Gut, dass der Blick auf ein Kruzifix im Klassenzimmer für Nichtchristen unzumutbar ist. Kruzifixe müssen abgehängt werden, aber Beschneidungen an Minderjährigen, die nicht nur optisch ärgern, sondern mit der körperlichen Unversehrtheit von Kindern kollidieren, müssen (laut Kanzlerin, Außenminister & Co.) möglich sein?

Abtreibung: Ein neues Menschlein im Mutterleib zu töten, ist nach deutschem Recht illegal, wird aber im Konsens aller Parteien nicht verfolgt. Warum also so ein Geschrei um ein paar Millimeter Vorhaut, ohne die man zweifellos in den allermeisten Fällen trotzdem ganz gut durchs Leben kommt?

Kinderschutz: Handgreifliche Erziehungsmethoden von der Ohrfeige bis zur Tracht Prügel sind nach deutschem Recht belang- und strafbar. Aber das irreparable Entfernen einer Körperpartie kurz nach der Geburt soll als Ausweis religiöser Weltoffenheit gesetzlich ausdrücklich gestattet werden?

Kosmetische Operationen: Will Chantalle (16) aus Delitzsch ein Pfund Brust (darf ruhig ein bisschen mehr sein) am eigenen Balkon anbauen, plant der Gesetzgeber einen Riegel vorzuschieben – selbst wenn Mutti mitspielt. Sogar der Solariumsbesuch soll Minderjährigen untersagt werden. All das passt schlecht zusammen mit einer ausdrücklichen Freigabe von Beschneidungen.

Kopftuch-Urteil: Warum ist das für alle Beteiligten schmerzlose Tragen eines Kopftuches als Zeichen der religiösen Identität im öffentlichen Dienst nicht hinnehmbar, während sich nun fast alle Parteien im Bundestag dafür einsetzen, dass ein verkürztes Pimmelchen möglich sein müsse, damit Deutschland nicht als „Komikernation“ (O-Ton Merkel) dasteht?

Kann es sein, dass die Deutschen

a)  mit Religion grundsätzlich ein Problem haben

b)  mit der eigenen (christlichen) noch viel mehr und

c)   von dem seltsamen paternalistischen Wahn getrieben sind, jeden Menschen vor allem auch vor sich sich selbst zu schützen?

Die Antwort lautet: Ja.

Islamische Kritik an der Islamkritik

März 7, 2012

Es gibt im politischen und sonstigen Leben immer wieder Situationen, in denen die Wahrheit einfach kontraproduktiv ist. „Nicht hilfreich“, wie es die Kanzlerin zu formulieren pflegt. Das ist schade für die Wahrheit, aber nun mal nicht zu ändern.

Jüngstes Beispiel: Die Debatte um die Studie zu muslimischen Einwanderern, die Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) unlängst vorstellte. Mehr als 20 Prozent der muslimischen Migranten verweigerten sich mehr oder weniger aggressiv und offen der Integration in die westliche Gesellschaft oder blickten gar verächtlich auf diese herab.

Daraufhin meldeten sich zahlreiche Vertreter mit muslimischem Migrationshintergrund zu Wort und führten Beschwerde. Was ihr gutes Recht ist. Verblüffend allerdings war, dass nahezu alle Beiträge empört waren, dass Friedrich diese Studie veröffentlich, dass die anderen 80 Prozent gut integrierter Islam-Einwanderer nicht gewürdigt würden, dass Muslime unter Generalverdacht gestellt würden und die Deutschen offener sein müssten. Von der Moderatorin Hadnet Tesfai bis zur Jung-Autorin Melda Akbas – ein ähnlicher Tenor.

Nun mögen all die Einwände richtig oder falsch sein, die eigentliche Antwort hätte aber lauten müssen: ,Diese 20 Prozent Integrationsverweigerer sind kein Problem“ oder „die Zahlen stimmen nicht“ oder „es wird in Zukunft weniger werden“… Tatsächlich aber hat – aus eigener Erfahrung? – niemand die Tatsachen der Studie in Zweifel gezogen oder widerlegt. Selbst Peter Holtz, einer der Autoren, der sich auf Spiegel-Online in einem Gastbeitrag beschwerte, führte lediglich Beispiele von sehr sympathischen Muslimen an, die sich nun vor den Kopf gestoßen fühlten.

Das ist traurig aber kein sonderlich taugliches Argument. Wie wäre es, wenn die sich von unliebsamen Befunden dieser Art betroffen fühlenden Mitmenschen sich beim nächsten Mal nicht mit Vorwürfen an die Öffentlichkeit wendeten, dass diese Tatsachen ausgesprochen wurden, sondern wenn sie statt dessen Vorschläge zur Abhilfe machten. Oder Erklärungen lieferten, die nicht darauf hinauslaufen, dass die Einwanderungsgesellschaft irgendwelche Voraussetzungen schaffen oder ausbauen müsse, damit die Einwanderer dieses Land schön finden und annehmen. Gern genommen werden auch Beiträge, wie sich Vereine und Gemeinden darum bemühen könnten, ihren Mitgliedern die Aversionen vor dem Westen zu nehmen.

Das wäre doch immerhin ein Anfang.

Broder, Biedermänner und die Brandstifter

August 7, 2011

Es ist höchste Zeit, dass die verheerende Rolle der Gebrüder Grimm bei der Vertreibung des Wolfes aus den europäischen Kulturlandschaften endlich schonungs- und tabulos aufgearbeitet wird. Kampfschriften wie „Rotkäppchen“ oder „Die sieben Geißlein“ haben in ihrer Verherrlichung anti-wölfischer Gewalt-Exzesse viel zu lange unwidersprochen den intellektuellen Nährboden für die nahezu flächendeckende Ausrottung des Wolfes (canis lupus) geliefert…

Die Debatte darüber, ob deutsche Islam-Kritiker wie Henryk M. Broder oder Necla Kelek Stichwortgeber oder gar ideelle Anstifter des Oslo-Attentäters Anders Breivik sind, ist so albern und abwegig, dass Sie eigentlich keiner weiteren Erörterung bedürfte. Schon als vor Jahren bekannt wurde, dass die Attentäter des Schul-Massakers von Beslan Musik der deutschen Gruppe „Rammstein“ auf ihren Mp3-Playern hatten, wurde im Feuilleton diskutiert, ob sich mitschuldig macht, wer gewissermaßen den Soundtrack für kranke Hirne liefert.  Damals wie heute eine abstruse Vertauschung von Ursache und Wirkung, von Täter und Zeitgenossen, auf die im Übrigen keiner gekommen wäre, hätten die Mörder ihre Gewaltphantasien mit brachialer Beethoven-Klangkulisse orchestriert.

Dass es dennoch lohnt, einige Worte zum Thema zu verlieren, liegt daran, dass die Diskussion einige interessante Streiflichter wirft. Da ist zum einen das Denkmuster vor allem linker Publizisten, dass an das Prinzip der Partisanen-Vergeltung erinnert: Ermordeten Partisanen etwa auf dem Balkan einen Soldaten der Wehrmacht, ging diese zur Vergeltung daran, das gesamte Umfeld der mutmaßlichen Täter auszulöschen, Dörfer niederzubrennen und Familien bis zum Kleinkind zu massakrieren.

Mit ähnlicher Blindwütigkeit erklären einige Multikulturalisten die argumentative Auseinandersetzung mit dem Islam zur Tat-Beihilfe, unterstellen dem Islamkritiker eine fies verschwiegene aber im Grunde zwangsläufige Weiterdenke hin zum Mordgelüst und plädieren damit in der Konsequenz für ein präventives, radikales Denkverbot in von ihnen selbst abgesteckten Bezirken. Wer nach Erklärungen dafür sucht, wie es zur Kampagne gegen „entartete Kunst“ kommen konnte, findet sie in diesem Fehlverständnis von Debatte und Verbrechen.

Die mutwillige Umdeklarierung des Mit-Denkers zum Mit-Täter legt freilich gerade in der Islam-Debatte einen heiklen Rückschluss nahe, den die Kritiker der Islam-Kritiker nicht wollen können: Wenn die konsumierte intellektuelle Software von Terroristen grundsätzlich mit auf die Anklagebank gehört, muss der Koran logischerweise neben islamistischen Attentätern auf die Richtstatt. Der gravierende Unterschied ist allerdings: Es ist nicht bekannt, dass Broder, Kelek & Co. jemals zu Kreuzzügen, Flugzeug-Attacken oder dem blutigen Kampf gegen Muslime aufgerufen hätten. Ein Umstand, auf den man eigentlich nicht eigens hinweisen muss. Eigentlich.

Alles beim Alten: Ein Jahr Sarrazin-Debatte

Juli 31, 2011

Das Papier hat scheinbar überhaupt nichts mit Thilo Sarrazin zu tun. „Bildungsrepublik Deutschland“ steht auf der bedruckten Blattsammlung, die Leitantrag des CDU-Bundesparteitags im November in Leipzig werden soll. Hauptstreitpunkt: die Abschaffung der Hauptschule und Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems aus Gymnasium und neu zu schaffender „Oberschule“. Bildungspolitischer Sprengstoff innerhalb der Union, heftige Reaktionen von der Schwester CSU aus Bayern und etlichen CDU-Landesverbänden.

Mindestens ebenso so explosiv und doch weitgehend ignoriert: die Begründung für die Bildungsreform. Der dramatische Rückgang der Bevölkerung und das damit verbundene Einbrechen der Schülerzahlen – in einigen Regionen um dreißig bis fünfzig Prozent – erzwinge die Zusammenlegung der Schulen, wenn man sie in stadtfernen Gebieten erhalten wolle. Und der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den Klassenräumen, der schon in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren gebietsweise bis auf 75 Prozent steigen werde, mache neue, intensive, integrative Formen der Beschulung nötig.

Letzteres sind keine Prognosen oder Hochrechnungen, die man glauben oder bezweifeln kann: Die betreffenden Kinder sind schon geboren (oder eben nicht geboren) und lassen sich zu harten Schulstatistiken zusammenzählen. In Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ konnte man das in allen Details schon vor einem Jahr nachlesen. 40 Prozent der jungen Mütter haben heute einen Migrationshintergrund. Während der Anteil von Zuzüglern an der Gesamtbevölkerung etwa 17 Prozent ausmacht, haben schon jetzt 30 Prozent der unter 15-Jährigen eine Einwanderer-Geschichte.

Während sich die Politik an technischen Korrektur-Details wie den Schulformen abarbeitet (und Sarrazin damit stillschweigend bestätigt), blendet sie bewusst oder unbewusst die wahre Dimension des heraufziehenden Wandlungsprozesses in Deutschland aus: Die Mehrheitsverhältnisse in den Klassenzimmern von morgen sind die Gesellschaftsverhältnisse von übermorgen. Und genau das macht die Bedeutung des Sarrazin-Buches auch ein Jahr nach seinem Erscheinen aus. Nie zuvor in der Geschichte ist eine hoch entwickelte Gesellschaft sehenden Auges in Zuwanderung aufgegangen und von dieser absehbar kulturell übernommen worden. Vollzogen sich derartige Prozesse bislang über mehrere Generationen hinweg, so wird dies nun innerhalb einer und sehr viel intensiver geschehen als beim bisher bekannten Einsickern von Zuwanderern in anderen Epochen.

Sarrazin protokolliert eher nüchtern und mit contra-guttenbergscher Fußnoten-Disziplin die Trends und Ursachen. Vom Geburtenmangel und dem Wegbrechen naturwissenschaftlich-technischer Hochschulabsolventen über sich verfestigende Migranten-Milieus bis hin zu einer Sozialpolitik, die durch gut gemeinte Fürsorge Menschen mehr und mehr ihrer Selbstverantwortung entwöhnt. Da sich all das klassischem politi-technokratischem Denken und kurzfristiger Steuerung im Legislaturperioden-Turnus entzieht, sind ernstzunehmende Reaktionen bislang ausgeblieben. Dass die sich verschiebenden Mehrheitsverhältnisse gesellschaftspolitisch folgenlos bleiben, ist dagegen mehr als unwahrscheinlich.

Die wachsende Zahl von Migrationsdeutschen in Kommunal-, Landes- und Bundesparlamenten wird in einer funktionierenden Demokratie Auswirkungen auf die politische Agenda und die Entscheidungen haben und hergebrachten „ur-deutschen“ Vorstellungen zwangsläufig Konkurrenz machen. Ob und wie eine immer inhomogenere Gesellschaft solche Brüche verkraftet, ist völlig offen. Den Finger in diese Wunde gelegt zu haben, ist nach wie vor das große Verdienst Sarrazins. Es geht hier nämlich nicht um Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit, sondern um den Identitätsverlust einer Gesellschaft, die in dem viel gescholtenen Bild des „Kopftuchmädchens“ (Sarrazin) äußerst präzise beschrieben ist. Niemand hegt irgendeinen Groll gegen eine individuelle verschleierte Muslima. Was zum gesellschaftlichen Sprengstoff werden kann, ist das Gefühl von Fremdheit im eigenen Land, das viele beschleicht, wenn sie in Teilen Kölns die Ladeninschriften nicht mehr verstehen oder sich wundern, warum man kaum noch Taxi-Fahrer erwischt, die normal deutsch sprechen.

Dieses Fremdeln gegenüber Fremdem mag nicht korrekt oder progressiv sein und auch nicht ins Konzept einer modernen „Melting-Pot“-Welt passen, es ist aber in den meisten Regionen dieser Erde eher die Regel als die Ausnahme. Die Konflikte, die aus solchen Verwerfungen entstehen, sind oft alles andere als friedlich. Eine Debatte über gesellschaftspolitische Zukunftstrends in Deutschland ist deshalb so verdienstvoll und dringlich, wie ihr allgemeines Abwürgen absehbar war.

Thema verfehlt: Pamphlete wider die Islamkritik

Februar 18, 2011

Was haben Sahra Wagenknecht und Mohamed Atta gemeinsam? Nichts, außer dass sie beide Weltbildern anhängen (anhingen), die Terror und Tod über die Menschen gebracht haben. Dabei spielt es so gut wie keine Rolle, dass Attas Wahn politisch instrumentalisierter Religion und Wagenknechts Kommunismus einer ins Religiöse gesteigerten vermeintlich wissenschaftlichen Weltanschauung entspringt. Und genauso, wie es Milliarden friedlicher, braver, frommer Muslime auf dieser Welt gibt, gibt es vermutlich einige Millionen Kommunisten, die ihre Überzeugungen völlig ungefährlich ausleben. Berechtigt all das zu der Feststellung, dass Islamismus und Kommunismus harmlose Doktrinen seien?

Patrick Bahners, Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bringt an diesem Wochenende sein Buch „Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam“ (Verlag C.H. Beck) in die Buchläden, und sein Kollege Thomas Steinfeld vom Feuilleton der Süddeutschen Zeitung hat ihm dazu schonmal vorab gratuliert. Im Visier: Die „Islamkritiker“ wie Necla Kelek, Henryk M. Broder oder die Holländerin Ayaan Hirsi Ali, die als “ vebale Eingreiftruppe“ im Dienste eines vermeintlichen antiislamischen McCarthyismus gesehen werden. Vor allem der Furor, mit dem hier gegen „die Islamkritik“ und den dahinter vermuteten Rassismus zu Felde gezogen wird, verstört einigermaßen.

Bahners versucht dabei zunächst in seinem Essay jeglichen Verweis auf mögliche textliche Quellen von Hass, Aggression, Autoritarismus und Alleinvertretungsanspruch des Islam in Koran und Hadithen mit theologischer Einordnung zu widerlegen. Das ist scharfsinnig, wenn auch nicht immer lesefreundlich aufgeschrieben, geht aber am Kern der Debatte vorbei. Theologische Texte sind kryptisch und widersprüchlich und entfalten ihre konstruktive oder destruktive Wirkung vor allem durch die Katalyse der Zeit, in der sie stehen und gelesen werden. Christi Liebesbotschaft und der „Neue Bund“ in den Evangelien haben das Christentum nicht vor Kreuzzügen und Inquisition bewahrt, und all die Manifeste zur Befreiung der werktätigen Massen haben praktizierende Sozialisten/Kommunisten nicht davon abgehalten, gerade auch jene Massen zu meucheln und auszuhungern.

Nachdem im Namen des Islam in relevanter Qualität und Quantität gemordet und Terror gesät wurde, ist offensichtlich, dass diese tödliche und Drangsalieruns-Potenz auch diesem Denkgebäude innewohnen kann, wenn es im richtigen Zeitgeist-Kontext angespielt wird. Es ist also „nicht sehr hilfreich“ – um einen Terminus der Kanzlerin zu verwenden – wenn Bahners und Steinfeld nun viel Energie an den Nachweisversuch verwenden, dass der Islam auf gar keinen Fall Hintergrund und Ursache des islamistischen Terrors sein könne. Er kann, wie man gesehen hat, und die spannende, wichtige Frage ist, unter welchen Bedingungen er es tut. Anstatt den Islam als rein und unschuldig gegen Leute zu verteidigen, die den Autoren ganz offensichtlich in vielerlei Hinsicht nicht passen, wäre es produktiver darüber nachzudenken, ob und wie man Exzesse, diesmal im Namen des Islam, verhindern kann.

Die politische Stellung der islamischen Welt gegen den Westen ist hier ebenso mit Sorge zu betrachten, wie die Tatsache, dass sich reformatorische Strömungen mit namhaften Vordenkern im Islam derzeit nicht ausmachen lassen. Hinzu kommt, dass die Einordnung von Religion in eine säkulare Welt zwangläufig einen Verlust an Verbindlichkeit mit sich bringt, den viele Muslime in der westlichen Welt mit einer gewissen Verachtung beobachten und mithin aus der Hermetik ihres eigenen Glaubens eine gefühlte Überlegenheit ziehen, die ihnen im weltlichen Alltag bitter fehlt.

Kurz: Kommunismus, Christentum, Islam und etliche andere –ismen haben längst ihre Unschuld verloren, und es ist genauso demagogisch, in Talkshows zu behaupten, der bisherige Kommunismus sei gar nicht der richtige gewesen, wie es fahrlässig ist, den Islam leichthin aus der aktuellen Problemzone wegzuloben. Islamkritik, Kritik am Islam und Auseinandersetzung mit ihm ist heute wichtiger denn je. Auch, um den braven Gemüsehändler von den Attas und den gutwilligen Gewerkschafter vor den Wagenknechts zu bewahren.

Thilo und die Sarrazinen – Eine Bilanz

Dezember 31, 2010

Manchmal ist es hilfreich, die Gedanken ein wenig zu ordnen. Niemand hat 2010 in Deutschland so polarisiert, hat Öffentlichkeit, Politik und Medienmenschen in so unversöhnliche Lager gespalten wie Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Der Ex-Senator und inzwischen Ex-Banker hat das gute Gretchen bei der Frage endlich abgelöst: Wie hälst du’s mit dem Sarrazin? – ist für die gesellschaftspolitische Standortbestimmung, was die Beringung für den Vogelfreund ist. Was aber hat einen ehedem als rationalen Denker bekannten Politiker in die Lage gebracht, den einen als schändlicher Hetzer und den anderen als unkonventioneller Integrationsmessias zu erscheinen. Eine Analyse.

Integration: Sarrazin hat mit Hilfe verfügbarer, amtlicher und im Grunde bis heute nicht angezweifelter Statistiken (Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Schulbildung und –Abschlüsse, Sozialtransfers etc.) dargestellt, dass die Integration von Muslimen innerhalb der deutschen Gesellschaft große Probleme bereitet. Dies zu widerlegen, hätte es lediglich anderer Statistiken oder Untersuchungen bedurft, die einen höheren Prozentsatz gut integrierter Muslime ausweisen oder zumindest eine hoffnungsvollere Prognose stellen. Statt dessen wurden immer wieder Einzelbeispiele gelungener Einfindung in hiesige Verhältnisse präsentiert, was aber der logischen Beweisführung im Sinne einer Widerlegung nicht wirklich dient, so erfreulich jede Erfolgsvita auch sein mag. Ein vierblättriges Kleeblatt widerlegt nicht die Mehrheit der Dreier.

Abgelehnt wurde Sarrazins Analyse offen oder unterschwellig vor allem, weil gerade großstädtische Intellektuellen-Milieus sich dagegen verwahren, einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe ein schlechtes Zeugnis auszustellen. In einer konsensorientierten Gesellschaft, die etwa in Zeugnissen eine Pflicht zum positiven Urteil vorschreibt oder pädagogische Grenzziehungen stets durch positive Anreize, nie durch harte Konfrontation geben will, kann das nicht erstaunen. Die hermetische Unantastbarkeit des gefühlten Weltbildes durch Fakten war am Ende das wirklich Erstaunliche am Casus Sarrazin. Nicht einmal der investigative Eifer zur Widerlegung des Anstößigen durch Fakten, der bei anderen Gelegenheiten ein verlässlicher Medien-Reflex ist, wurde hier geweckt.

Vererbung von Intelligenz: Die Koppelung beider Themen machte die Abschiebung des Autors Sarrazin ins nazinahe Eugeniker-Ghetto besonders leicht. Bei näherem Hinsehen sind die Fakten freilich weit weniger skandalös. Sarrazin beschreibt – mit Rückendeckung der jeweiligen Forschungsgrößen auf diesem Gebiet – dass fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz auf Vererbung beruhen. Das sollte nicht weiter verblüffen, wenn man in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wie etwa bestimmte Veranlagungen von Händigkeit, Lese-Rechtschreibschwäche (prominentes Beispiel ist das schwedische Königshaus), Neigung zu Krebsleiden etc. durch genetische Prägungen wissenschaftlich nachgewiesen wurden. Dennoch ist Intelligenz mehr als die programmierte Vernetzungspotenz der Neuronen und wird maßgeblich auch vom Milieu geprägt, in dem sich das Aufwachsen vollzieht. Von intellektuellen Anregungen, Förderung und anderem.

Deutschland schafft sich ab: Wenn sich also Soziotope bilden, in denen wegen mangelnden sozialen und integrativen Erfolgs, auch derjenige Teil der Nachkommenschaft mit den Anlagen zu hoher Intelligenz nicht genug Stimulanz und Futter fürs Hirn bekommt, dann ist eine Niveauregulierung unterhalb der Möglichkeiten sehr wohl nachvollziehbar. Allerdings auch in Milieus ohne Migrationshintergrund. Und genau das beschreibt Sarrazin im ersten Teil des Buches auf mehr als einhundert Seiten. Das dramatische Untergangsszenario im Titel wird eben nicht einfach fremdenfeindlich an den Migranten hergeleitet, sondern aus einer fehlgeleiteten Sozialpolitik insgesamt begründet.

Sozialpolitik: Das hätte Sarrazins ausschlusswilligen Genossen der eigentliche Sprengstoff des Buches sein müssen: In seinen Augen muss das Fordern deutlich über das Fördern gestellt werden. Seine ebenfalls nicht sonderlich skandalöse, wohl aber unpopuläre These: Versorgung macht träge, das Packen der Betroffenen am Existenziellen setzt in Bewegung. Hier dürfte in der Tat ein fundamentaler Widerspruch zum sozialpolitischen Verständnis der SPD vorliegen.

Der Katalog der Gegenmaßnahmen: Bei seinen Vorschlägen ist Sarrazin viel radikaler und dann doch durchaus auch „linker“ als viele seiner Parteifreunde. Wenn man ihm etwas zum Vorwurf machen will, gibt die Liste der verpflichtenden Maßnahmen für Bildungsferne (Ganztagsschule, Hort, konditionierte Kindergeldkürzung etc.) für Freunde elterlicher Erziehungshoheit viel mehr her als der Rest des Buches. Im Grunde findet hier – von Einzelmaßnahmen einmal abgesehen – der Schulterschluss mit Sarrazin-Großkritikern wie etwa Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) statt, der immer wieder gern staatliche „Schicksalskorrektur“ für Unterschichtler und erfolglose Migranten fordert. Genau das schlägt Sarrazin mit der ihm eigenen Brachialität vor, nur merken es die lektüreverweigernden Kritiker halt nicht.

Die Politik: Thilo Sarrazin 2010 – gut, dass wir drüber geredet haben. Und jetzt weiter wie bisher.

Exzellent geclustert: Die Deutschen und der Islam

Dezember 3, 2010

Das mit dem Islam ist eine seltsame Sache. Man kann ihn mögen oder nicht oder einfach hinnehmen dass er da ist. Die Deutschen, so hat es eine jetzt veröffentlichte Studie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster herausgefunden, sehen den Islam kritischer als die meisten Nachbarländer. Daran, so der Tenor, sei der mangelnde Kontakt von Deutschen zu Muslimen schuld. Mag sein. Wenn aber ein „Exzellenzcluster“ nicht eine Meisterröstung von Dallmayr Prodomo mit Frühstücksflocken und knackigen Haselnüssen ist, wonach es klingt, sondern eine wissenschaftliche Instanz, dann gibt diese Erhebung mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Die durchscheinende Unterstellung der Autoren wie auch in der medialen Wiedergabe, die Deutschen seien islamophober, hysterischer, ja fremdenfeindlicher als ihre Nachbarn lässt sich zumindest auf dieser Datenlage nicht begründen. Erst einmal müsste geklärt werden, um es einmal plump auszudrücken, wer Recht hat. Die Deutschen interessieren sich (siehe Autorin Petra Reski) nicht für die Mafia. Spinnen also die Ermittler? Hätte das Münsteraner Exzellenzcluster Mitte der 30er Jahre die Furcht vor den Deutschen in Polen erhoben, hätte es mutmaßlich auch leicht erhöhte Werte im Vergleich zu den Nachbarländern herausbekommen. Intensiverer Kontakt zu den Deutschen hat später daran übrigens nur wenig geändert…

Man kann die Studie als Augenblicksbild des relativen Verhältnisses verschiedener Gesellschaften zum Islam so stehen lassen. Mehr lässt sich daraus nicht ableiten. Das liegt schon daran, dass die Begrifflichkeiten zu schwammig sind. Interessanterweise merken die Autoren an, dass die geringen Kontakte von Deutschen zu Muslimen sich auch auf die Arbeitswelt beziehen, der kritische Blick also nicht von beruflichen Verdrängungsängsten gespeist sein kann. Da müssten sich die Deutschen eher Sorge machen, wenn ihnen ein neuer asiatischer Kollege vorgestellt wird. Das Verhältnis zu diesen und anderen Religionen und Kulturkreisen ist aber unproblematisch – obwohl die Kontakte dort nicht häufiger sind. Und warum in Deutschland Synagogen geschützt werden müssen und nicht folgerichtigerweise Moscheen, klärt die Studie auch nicht auf.

Und ganz nebenbei: Ich persönlich bin in meinem zivilisatorischen Grundgerüst soweit gefestigt, dass ich nicht erst durch persönliche Kontakte davon überzeugt werden muss, dass der Nächste vielleicht doch kein Schurke ist. Dass er es nicht ist, ist die zentrale Arbeitsthese des Abendlands, und solange mich keiner davon überzeugt, dass er mein Vertrauen nicht verdient, hat er es. Wenn man diesen Ansatz einmal als breiten Konsens – weit über Deutschland hinaus – annimmt und mit dem verbreiteten Desinteresse an Fremdem addiert, machen die Ergebnisse der Studie doch einigermaßen ratlos. Denn der Islam – darin sind sich Autoren wie Kommentatoren mehr oder weniger explizit einig – kann keine Schuld daran tragen, dass man ihn kritisch sieht. Und wie sehr.

Oder um es mit dem hannoveraner Kriminologen Christian Pfeiffer zu sagen: „Wir haben ein Imam-Problem, kein Islam-Problem.“ Er sagt das zur Kommentierung seiner jüngsten Studie, die ergeben hat, dass die Gewlattätigkeit junger Muslime mit dem Grad ihrer Religiosität steigt. Und daran, sagt Pfeiffer, sind die Imame schuld, nicht der Islam. Mag sein. Womit beschäftigen sich eigentliche diese Imame den ganzen Tag so?

Wulffs wunder Punkt

Oktober 19, 2010

Wir wollen an dieser Stelle nicht respektlos sein und das Amt des Bundespräsidenten auch nicht beschädigen, wie es so schön heißt. Christian Wulff hat auch in der Tat über weite Strecken eine passable Rede hingelegt in Ankara, hat Zypern angesprochen, Armenien diplomatisch umschifft, mehr Rechte für Christen eingefordert und das Land ermutigt, weiter auf dem Weg der Annäherung auf Europa zuzugehen (auch wenn seine eigene Partei dort kein Empfangskomitee bereithält).

In einem offenbart Wulff aber völlige Ahnungslosigkeit: Den Türken zu sagen, das Christentum gehöre zu ihnen, war der Bundespräsident sich wohl konsequenterweise schuldig, aber es ist noch absurder als der Ursprungssatz. 99 Prozent der Türken sind Muslime, Rechtssystem und Kultur sind muslimisch geprägt und eben nicht durch Aufklärung und Reformation gegangen. Auch Atatürks säkularer Staat sitz noch immer eher locker und mit militärischer Hilfe im Sattel. In weiten Teilen der Türkei gibt es genau deshalb (gern geduldet von Erdogans Partei) einen religiösen Roll Back. Wulff zeigt mit dieser plumpen Allegorie auf seine Einheitsrede lediglich, dass er die Tiefenprägung religiöser Denkwelten überhaupt nicht verstanden hat. (Der Link führt zu einem weiteren Missverständnis, das an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann.)

Er hat auch nicht gesagt, „Christen“ gehören zweifelsfrei zur Türkei, sondern er hat „Christentum“ gesagt und damit den gesamten Glaubenskosmos zu einer oberflächlichen Nettigkeit herabgewürdigt. Getreu dem nicht minder schlichten Slogan: Familie ist, wo Kinder sind. Christentum ist, wo Christen sind. Das ist einfach völliger Blödsinn und deklassiert Religion zur bloßen Folklore mit beliebiger Exportierbarkeit. Nach dieser Maxime ist Island, wo Trolle sind und Nirwana, wo einer Krishna singt.

Wulffs Zugehörigkeitsthesen haben nur einen Sinn, wenn man eine tiefere gesellschaftliche Prägung damit meint. Die gibt es schlichtweg in der Türkei nicht – aller christlicher Vorgeschichte zum Trotz. Man mag auf den Geburtsort von Johannes dem Täufer verweisen, auf Konstantinopel, Byzanz und die Hagia Sophia – der Mongolen-Sturm (Attila-Mythos) hat mit der Selbstsicht der Ungarn mehr zu tun als das Christentum mit der Selbstwahrnehmung der Türken heute. All das ist übrigens auch nicht schlimm – solange man die Unterschiede nicht in einer ahistorischen Harmoniesucht zu beschönigen sucht und sein Handeln auf gut gemeinten Wünschen aufbaut.

Beifall hat Christian Wulff übrigens nur mäßig bekommen für seine Rede. Dass er der Präsident der deutschen Türken sei, fanden wohl nicht alle Mandatsträger in Ankara plausibel.

Klarer kann man es nicht sagen

Oktober 8, 2010

Einer der renomiertesten Sozialforscher Deutschlands, der gewiss nicht im Verdacht und schon gar nicht in der konservativen Ecke steht, äußert sich im Tagesspiegel zu Wulffs Islam-Bonmot. Mehr gibt es zu dem Thema eigentlich nicht zu sagen. Klarheit ohne ideologischen Ballast.