Posts Tagged ‘Thilo Sarrazin’

Der Casus-Sarrazin: Psychologie eines Skandals

September 1, 2010

Die Sarrazin-Debatte ist in ihre Milieu-Phase getreten: Die gesellschaftlichen Disputanden scheiden sich je nach Milieuverhaftung und konzentrieren sich auf die jeweils dienlichen Aspekte des Buches. Sarrazin-Gegner greifen sich vor allem die Verdummungs- und Vererbungsthesen heraus und geißeln – wie etwa FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher – Sarrazins Sozialdarwinismus und überholten Biologismus. Das hat den Vorteil, dass man sich mit dem in der Tat gewichtigeren Komplex muslimischer Integration oder eben Nicht-Integration nicht auseinandersetzen muss.

Sarrazin-Unterstützer konzentrieren sich dagegen gerade auf diesen Teil seiner Ausführungen, weil er mit vergleichsweise verlässlichen Zahlen untersetzt ist und das Problem von einer Mehrheit der Deutschen ähnlich gesehen wird. Die Aufspaltung der Debatte entlang der Milieu-Linien folgt dabei einem klassischen Schema. Schirrmacher etwa, der sich als aufgeklärter, progressiver Konservativer versteht, kann und will es sich nicht leisten, auf der Seite der „Sarrazinen“ zu stehen und von den „fortschrittlichen“ Multikulturalisten scheel angesehen zu werden.

Interessant an den Sarrazin-Kritikern ist übrigens, dass auf der jeweiligen Windung der Empörungsspirale stets die Fakten der vorherigen Kurve als „olle Kamellen“, alte Hüte und längst bekannt abgetan werden, obwohl die meisten selbst ehedem heftigst dagegen polemisierten. Galt vor Jahren allein die Erwähnung erhöhter Delinquenz im jugendlichen Migranten-Milieu schon als rassistische Ausgrenzung, so wischt man Sarrazins Verweis auf verstärkte Einwanderung in die Sozialsysteme heute mit gelangweilter Beiläufigkeit vom Tisch, als habe man das schon immer gesagt und der Spätversteher Sarrazin komme gewissermaßen mit Verstaubtem Skandal-Material daher.

Die Sarrazin-Unterstützer wiederum wollen nicht mit den Naiv-Integrationisten in einem Boot sitzen, die die Welt eher als freundliche Vision und gemütliche Fortschreibung von „1001 Nacht“ sehen wollen, und denen Vorwürfe an das Migranten-Milieu vor allem peinlich sind. Auf dieser Seite der Barrikade nimmt man die Sarrazinsche Vererbungs- und Verdummungslehre als marottenhafte Ausschmückung des eigentlichen Themas und geht rasch darüber hinweg.

Nach der Milieu-Phase folgt freilich regelmäßig die Beilegungs-, Abkling- und Vergessensphase. Beide Seiten werden sich resigniert in ihren Positionen bestätigt sehen: Die einen darin, dass Sarrazin ein schlimmer Provokateur, Rassist und Störer des gesellschaftlichen Friedens ist, die anderen darin, dass der Mainstream der veröffentlichten Meinung und der angstgetriebenen Politik lieber den Mantel des Schweigens über migrationspolitische Brüche und Unverträglichkeiten breitet. Und bis zum nächsten „Skandal“ ist dann erstmal wieder Ruhe im Lande.

Thilo Trotzig

August 27, 2010

Es verspricht das Skandal-Buch des Herbstes zu werden. In „Deutschland schafft sich ab“ spricht Thilo Sarrazin (65) Urängste und Aversionen der Deutschen an. Politik und Verbände reagieren mit alten Reflexen. Nur was genau sie dem politischen Sturkopf vorwerfen, sagen sie nicht.

Inwendig muss es brodeln. Wenn Thilo Sarrazin auf dem Talkshow-Sessel Platz nimmt, wippt er nervös und wartet angespannt auf das Rotlicht. Ein wenig verkniffen blickt er hinter seiner Brille hervor, misstrauisch mal, dann wieder mürrisch und unsicher. Kein Obama aus Gera, wo er geboren ist, kein Feuerwerks-Rhetoriker, der Säle in kämpferischen Gleichklang der Worte zwingt. Und doch muss drinnen ein Wurm namens Ehrgeiz wohnen, der sich von Schelte und Verachtung draußen nährt.
„…vielmehr machte mir die Tatsache zu schaffen, dass ich bei subjektiv gleichem Leistungsvermögen nicht mehr zu den Besten gehörte, sondern unter lauter Besten nur noch Mittelmaß war“, schreibt er mit Blick auf seine Schulzeit. „Diese narzistische Kränkung, die sich mit meinem Selbstbild nicht vertrug, wirkte noch viele Jahre nach.“
Ganz über den Berg ist Sarrazin wohl bis heute nicht. Mit geradezu stoischem Trotz bohrt der Sozialdemokrat und Bundesbankvorstand in den empfindlichen Stellen der Gesellschaft herum, in den allerempfindlichsten, versteht sich, wo es am meisten wehtut. Endlich einmal Bester sein unter lauter Mittelmaß. Wie punktgenau er mit seinem Buch ins eitrige Schwarze getroffen hat, bestätigen ihm seine Kritiker, vom eigenen Parteichef Sigmar Gabriel (legt den SPD-Austritt nahe) bis zur Kanzlerin (Kritik ist wenig hilfreich und verletztend).
Dabei ist Thilo Sarrazins Buch – bislang nur im Vorabdruck auszugsweise in „Spiegel“ und „Bild“ zu lesen – viel weniger skandalös und spektakulär als die Kritiker meinen. Da ist zum einen die gut mit Zahlen untersetzte Abhandlung darüber, dass die Geburtenzahlen der einheimischen Deutschen seit Jahren sinken, diejenigen zugezogener Muslime seit Jahren auf hohem Niveau rangieren. Sarrazin rechnet hoch und kommt zu dem Schluss, dass bei anhaltendem Trend in 90 Jahren nur noch 200000 bis 250000 Kinder in Deutschland geboren werden. Höchstens die Hälfte davon seien Nachkommen ohne Migrationshintergrund. Ein Befund, der seit mindestens 25 Jahren im Umlauf und statistisch belegbar ist. Ist Sarrazin nun ein „brauner Ungeist“, weil schon die Nazis „deutsche Frauen“ zum Gebären aufforderten? Wenn man ihn so sehen will, dann schon.
Sarrazin dekliniert die gängigen und weitgehend unbestrittenen Sozialstatistiken durch, wonach muslimische Einwanderer überdurchschnittlich Sozialtransfers in Anspruch nehmen und deutlich unterdurchschnittlich am Arbeitsmarkt vertreten sind. Die Bildungskarrieren von Muslimen in Deutschland liegen weit unter dem Niveau der Deutschen, aber auch sichtbar unter dem anderer Migrantengruppen. Die Kinder von asiatischen Einwanderern zeigen gar eine höhere Abiturquote als die Deutschen. Muslime sind stattdessen in der Kriminalitätsstatistik überrepräsentiert, auch in der dritten Einwanderergeneration noch wenig integriert und sprechen vergleichsweise schlecht Deutsch. Auch von Sarrazins Kritikern hat diese Zahlen niemand beanstandet oder korrigiert.
Ist also bereits die Erwähnung der Tatsachen tabu? „Nicht hilfreich“ und „verletzend“, umschreibt es die Kanzlerin, nur stellt sich die Frage, ob der verschwiegen-diskrete Umgang mit dem längst erkannten Integrationsproblem der bessere Weg ist. Der Blick in die Nachbarländer, wo von Jörg Haider (Österreich) bis Geert Wilders (Niederlande) deutlich dumpfere Gestalten sich mit erheblichen Wahlerfolgen gesellschaftlicher Blindfelder annahmen, legt eine andere Herangehensweise zumindest nahe.
Der sensible Punkt in Sarrazins Thesen ist wohl, dass er Urängste von Deutschen anspricht, die sich in einer Moderne nicht zurechtfinden, in der die Grenzen zwischen Gastgeber und Gast verwischen. Ein Gast mit deutschem Pass ist keiner mehr, selbst wenn er türkisch spricht, ganze Stadtteile mit seinem fremden Lebenswandel prägt oder Kopftuch trägt. Darf man dieses Unwohlsein artikulieren? Oder ist der einzig statthafte Standpunkt multikulturelles Mutmachen? Ja, darf man überhaupt die massiven Integrationsprobleme so scharf konturiert auf eine Herkunftsgruppe fokussieren? Ist Thilo Sarrazin ein Rassist oder gehört er zur inkriminierten Spezies der „Islamkritiker“? Belastbare belastende Indizien liefert der Autor für beides nicht. Das kann clevere Taktik sein oder schlicht der Tatsache geschuldet, dass der Sozi Sarrazin doch kein Nazi ist. Dass er freilich eine muslimisch geprägte Gesellschaft für sich und seine Enkel nicht will, daraus macht er keinen Hehl: „Wenn ich den Muezzin hören will, buche ich eine Reise ins Morgenland.“ Man kann das auch netter sagen. Oder besser gar nicht?

Eine andere untergründige Angst – wohl nicht nur der Deutschen – liegt in dem diffusen Gefühl, die individualistische, fragmentierte westliche Gesellschaft der Moderne mit ihren Selbstblockaden und Auswüchsen könnte womöglich untergepflügt werden von einer vormodernen, viel dupfer reflexhaften und sich nicht ständig selbst hinterfragenden Kultur. Muslime kriegen einfach Kinder, während wir ein schier ausuferndes Bedingungsgebäude rund um die Nachwuchsentscheidung errichtet haben, das an den Geburtenraten unterhalb der Reproduktionsschwelle auch nichts ändert. Muslime gehen in vielen Fällen einfach davon aus, dass ihre Religion die Wahre ist – im Grunde der einzig logische Umgang mit einer überirdischen Annahme. Wir stellen uns selbst in nahezu allen Lebensbereichen so sehr in Frage, dass wir oft nicht einmal bereit sind, unsere ureigenen Überzeugungen gegen Ungeist zu verteidigen. All dies wird von Sarrazin mit seiner schnörkellosen, zuweilen harten Beschreibung bedient und provoziert. Wohlweislich verschweigt er freilich, welche Konsequenzen aus seiner Bestandsaufnahme zu ziehen wären.
Viele Tabus zum Brechen hat diese Gesellschaft nicht mehr. An einigen rührt Thilo Sarrazin. Da ist der gleichfalls nicht ganz neue Befund, dass die Geburtenzahlen in bildungsfernen und sozial schwachen Schichten steigen, wenn die Sozialsysteme sich am Bedarf orientieren und mit jedem neuen Kind neue Leistungen bezogen werden können. In den USA hat Bill Clinton 1997 unter dem Eindruck rapide steigenden Bevölkerungszuwachses notgedrungen den Bezug von Sozialhilfe auf vier Jahre begrenzt. Danach sank die Fruchtbarkeit in Problem-Milieus wieder. In Deutschland hat der Bremer Sozialstatistiker Gunnar Heinsohn vergleichbare Trends nachgewiesen. Sarrazin greift diese Untersuchungen auf und empfiehlt drastische Einschnitte bei Sozialtransfers, da das Wissen um Verhütung heute Allgemeingut sei. Da mag er recht haben, aber er wird auch wissen, dass gesellschaftspolitischer Druck via Sozialsystem in Deutschland nicht vorgesehen und wohl auch nicht akzeptiert ist.
Gänzlich vermintes Terrain betritt der Ex-Senator allerdings, wenn er beiläuftig genetische Fragen streift. Kritiker werfen ihm ohnehin vor, mit „kulturellen“ Unterschieden tatsächlich „genetische“, sprich: „rassische“ zu meinen. Das ist eine Frage der Interpretation, und in diesem Falle keine gutwillige. Wo Sarrazin auf erhöhte Quoten von Behinderungen und Erbschäden unter Muslimen hinweist, kann er sich ebenfalls auf Studien etwa aus Großbritannien berufen. Die kamen vor einiger Zeit schon zu dem Schluss, dass die verbreitete Cousinen-Ehe innerhalb von Familienclans im Einzelfall kein Problem ist. Wo sie aber über Generationen praktiziert wird, kommt es zu genetischen Fehlbildungen.
Sowas sagt man nicht, sagte man früher zu Kindern. Thilo Trotzig sagt es trotzdem. Gerade weil es die anderen nicht sagen und weil er weiß, dass es stimmt. Inwendig brodelt es. Ganz gleich, was all die anderen sagen, die noch gewählt werden wollen.