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Aber gepflegt: Spahn, Islam und lange Haare

April 7, 2018

Mit gesellschaftlichen Debatten ist es wie mit Nietenhosen, Beat-Musik und langen Haaren: Wer Protest-Posen mit gönnerhafter Herablassung die bürgerliche Blümchen-Kittelschürze wohlmeinender Einhegung überstreifen will, macht sich lächerlich. Ich habe ja nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein…

Müssen sie nicht.

Und Debatten über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland, die Politik und die Zukunft des Landes dürfen auch das sein, was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), „folgenlos“ nennt. Denn erstens stimmt es nicht, dass dieser Diskurs „folgenlos“ wäre, weil er klärt und erklärt, und seien es die Fronten. Zweitens sind Debatten das täglich‘ Brot der Demokratie. Drittens sind wir nicht mehr in der DDR, wo Diskussionen – wenn es denn überhaupt zu den Weisungen von Partei- und Staatsführung noch weitere (Wider)Worte geben musste – ausschließlich im realsozialistischen Sinne „konstruktiv“ zu sein hatten oder gar nicht. Und viertens schließlich wären allen Disputanden nichts lieber, als dass ihr Beitrag Folgen hätte: Die einen wollen, dass sich was ändert, die anderen nicht.

Das gilt auch für Kommentatoren, die dem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorwerfen, mit seinen Wortmeldungen zu Hartz-IV oder dem Gefühl vieler Bürger, der Staat könne oder wolle sie nicht mehr schützen, illegal über die Grenzen seines Ressorts gewandert zu sein. Besonders drollig wirkt dieses Argument, wenn es von uns Journalisten kommt, die wir uns ja per se allzuständig fühlen und gern überall mitreden. Nicht auszudenken, da wollte sich wer erdreisten, Fachkundeprüfungen einzuführen oder Berechtigungsscheine auszuteilen! So frustrierend es mitunter sein mag: Wir dürfen das, und Jens Spahn darf es auch. Als Bürger, Politiker und Mensch.

Wenn dieses Land freiheitlich und demokratisch bleiben soll, braucht es vermeintlich „folgenlose“ Debatten ebenso, wie vermeintlich „nicht hilfreiche“ Bücher und streitbare Politiker. Denn in Wahrheit sorgen sich die Einwender nicht um das Ressortprinzip innerhalb der Bundesregierung, sondern ihnen passt schlicht die vorgebrachte Meinung nicht. Am schönsten ist in diesem Zusammenhang der beliebte Hinweis, das nütze doch alles nur der AfD. Motto: Wenn Wahrheit dem Falschen nützt, bleibt sie besser unausgesprochen. Ansonsten ist Widerlegung des Gesagten die bessere und eigentlich naheliegende Gegenwehr. Seltsam nur, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, Debatten abwürgen zu wollen, weil sie vermeintlich FDP, Linken oder Grünen nützten.

Ein gutes Beispiel für das Umgehen nicht mit dem Diskurs, sondern um ihn herum, sind die Einlassungen zur „Erklärung 2018“, die sich häufig um die Unterzeichner, die „neue Rechte“ aber nur selten um den im besten Sinne inklusiv überschaubaren Inhalt drehen. In dem nur 33 Worte umfassenden Text wird ein Ende der „illegalen Masseneinwanderung“ gefordert, was eigentlich niemanden aufregen dürfte, weil Illegales zu unterbinden in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Der einzige argumentative Versuch, mit der Erklärung umzugehen, ist regelmäßig der Verweis darauf, dass die Migrantenzahlen ja schon deutlich zurückgegangen seien. Das stimmt. Doch noch immer kommen rund 15 000 Menschen monatlich nach Deutschland, ein großer Teil davon illegal (z.B. über sichere Drittstaaten). Mehr als 20 000 Illegale wurden 2017 bei der widerrechtlichen Einreise an Deutschlands südlichen Grenzen aufgegriffen, rund 3000 (auf Grund der verschärften Grenzsicherung in Skandinavien) im Norden. Die Logik, man solle sich nicht so haben, schließlich werde inzwischen ja deutlich seltener Recht gebrochen, wird aber niemand ernsthaft akzeptieren wollen. Die Autoren der Erklärung mahnen mithin Selbstverständliches an. Dass sie das müssen, ist der Skandal!

Eine ganz andere Frage, an die sich derzeit freilich niemand heranwagt, lautet: Ist die von der GroKo vereinbarte jährliche Migrationsquote (puh, nur nicht „Obergrenze“ sagen!) auch dann noch verkraftbar, wenn schon mehr als 1,5 Mio. Migranten aus 2015/2016 im Land sind? Die 200 000 Zuwanderer pro Jahr sind eine Erfahrungsgröße aus der Nachwendezeit, die nur sechs Mal erreicht wurde und sich dabei bislang als unproblematisch erwies. Zum Vergleich: 1,5 Mio. Menschen leben in Köln und Essen zusammen, eine Stadt wie Kassel (rd. 200 000 Einwohner) käme jährlich hinzu. Die Metapher einer Stadt ist dabei durchaus passend, denn der allgemein geltende Anspruch besteht ja darin, jeden mit Job, Wohnung, sozialem Umfeld, Schulen, medizinischer Betreuung etc. zu versorgen.

Illusion Integration

Und weil wir gerade dabei sind: Die schönen Reden über die Anstrengungen für mehr Integration sollten wir uns dabei ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Wer gezählt hat, wie oft die neue, in Berlin-Neukölln erprobte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) bei Maybrit Illner die Wendungen „ich wünsche mir“, „wir brauchen mehr“ oder „wir müssen dafür sorgen, dass“ verwendet hat, der ahnt zumindest den Grund: Integration wird auch in Zukunft in Deutschland Glückssache bleiben und vom individuellen Willen des einzelnen Migranten abhängen. Integrations- und Deutschkurse sind ein rührender Versuch des Verwaltungsstaats, mit seinen Mitteln zu befördern, was er in Wahrheit nicht befördern kann. Unser freiheitliches Staats- und Rechtswesen ist bis in die letzte Ecke mit Abwehrrechten der Bürger gegen die Bevormundung durch den Staat ausgestattet. Jeder einzelne von uns würde sich dagegen verwahren, wollten ihm Behörden in die persönliche Lebensweise hineinreden. Mit welchem Recht wären an Migranten andere Maßstäbe anzulegen?

So kommt es zu der absurden Konstellation, dass Aktivisten alljährlich gegen das aus christlicher Kulturgeschichte hervorgegangene Tanzverbot an Karfreitag aufbegehren, aber sich in jede Bresche werfen würden, um verhüllende Kleidungsgebote des Islam als individuelles Recht und gelebte Religionsfreiheit zu verteidigen. Unter libertären Gesichtspunkten ein konsequenter, sympathischer Zug: Die einen wollen tanzen, die anderen Kopftücher und archaische Geschlechterrollen, beide sollen es bekommen. Für das organische Einwachsen von Migranten in unsere Gesellschaft freilich ist das schlicht kontraproduktiv. Das Ausleben einer antiwestlichen, islamischen Gegenkultur mit Ablehnung von Säkularität und autoritärem Verständnis von Staat und Religion wird so geradezu unter den Schutz unserer freiheitlichen Ordnung gestellt.

Die einzige gangbare Alternative dazu findet bei uns in Deutschland allerdings ebenfalls politisch weder Akzeptanz noch Mehrheiten: Klassische Einwanderungsländer wie USA, Kanada oder Australien verfügen über ein deutlich „schlankeres“ Sozialsystem und erzwingen einen großen Teil der Integration durch materielle Interessiertheit. Die Greencard ist die Chance, wenn du sie nicht nutzt, dich nicht jobdienlich anpasst, winken Armut, Heimreise oder letzter Halt in landsmannschaftlicher Seilschaft, nicht selten kriminell. Aber Migranten integrativ „aushungern“? Der Aufschrei wäre in Deutschland programmiert. Der stetige Zulauf zu schon jetzt oft prekären Migranten-Milieus wird das integrative Scheitern weiter beschleunigen.

Grund und Gegenstand genug für jede Menge Debatten. Nie waren sie so wertvoll wie heute.

Denkzettel als Regierungsauftrag – ein Missverständnis

Februar 7, 2018

Es gibt Anfänge, denen wohnt gar nichts inne. Das nächtelange GroKo-Gewürge ist so einer. Das könnte daran liegen, dass es gar kein Anfang ist, sondern der dritte Neuaufguss. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass den Beteiligten das Gespür für die politische Wetterlage völlig abhanden gekommen ist. Und das gleich in vielfacher Hinsicht.

+++ Schulz: Ein gescheiterter Parteichef, der einen desaströsen Wahlkampf hingelegt hat und sich das sogar vom „Spiegel“ protokollieren ließ, die Wahl mit Allzeit-Tief verlor, die SPD nicht in eine neue Koalition führen und unter Angela Merkel kein Minister werden wollte, soll jetzt in einer neuen GroKo Außenminister werden. Absurd. Angesichts seiner bisherigen Wut-Kommentare zu Orbán, Polen, Briten, Trump, Putin, Kurz und Österreich wird er das Amt allerdings besser in Homeoffice führen.

+++ Das Beängstigende daran ist, dass hier offenbar alle gängigen Wettbewerbsregeln des politischen Betriebs nicht mehr gelten und die parteiinterne Konkurrenz auch keine Lust hat, die fällige Quittung für offensichtliches Versagen auszustellen. Bei der Union sieht es nicht besser aus. Der langjährige CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach brachte es am Dienstagabend (6. Feb) bei Markus Lanz auf den Punkt: „Wenn sich die Unionsführung hinstellt und sagt: Das ist das Ergebnis, dann sagt die Basis: Ok. Bei der SPD fängt dann das Theater erst an.“ Bei welcher von beiden Parteien angesichts dessen mehr im Argen liegt, fragte Lanz nicht.

+++ Es soll kein „weiter so“ geben, sagen die drei Wahlverlierer und machen weiter. Das Signal ist verheerend. Zeigten die letzten Umfragen bereits den Trend zum Schrumpfen der ehemals Großen zu einer eher kleinen Koalition, so dürfte sich dieser Vertrauensverlust noch verstärken. Der Denkzettel der Wähler wird zum Regierungsauftrag umdeklariert. Die vermeintlich mit der Regierungsbildung gewonnene Stabilität bedroht so mittelfristig den Akzeptanz-Kern des politischen Systems insgesamt, stärkt die Ränder, treibt Polarisierung und Aggression voran.

+++ Inhaltlich ist der Koalitionsvertrag ein Dokument der Erschöpfung. Kleinteilige Sozialstaatsreparatur, die nichts schadet aber viel kostet. Völlig schräg wird es bei den von der SPD zu Knackpunkten hochgejazzten Schlagworten „sachgrundlose Befristung“, Bürgerversicherung und Familiennachzug. Auf die tiefe und anhaltende Vertrauenskrise durch die unkontrollierte Massenmigration im Jahr 2015 mit 1000er Kontingenten nachziehender Familien zu reagieren, ist schon aberwitzig. Noch absurder mutet es an, wenn man sich klar macht, dass es diesen Familiennachzug für Migranten mit geringem Schutzstatus faktisch noch nie gab (lediglich einigen Monate im Jahr 2015) und die Integration von Menschen befördern soll, die offiziell nicht in Deutschland bleiben können und sollen. Während das Thema „Flüchtlinge“ noch immer in nahezu allen Befragungen über die Problemwahrnehmung der Menschen ganz oben steht, wird also neuer Zuzug geregelt, während das Wort „Obergrenze“ ausdrücklich mit Tabu belegt wird, obwohl selbst die avisierten 200 000 Migranten pro Jahr die Aufnahme einer Stadt wie Kassel bedeuten. Bevölkerung hör‘ die Signale.

+++ Besonderen Charme hat auch das Europa-Kapitel. Legt man es zusammen mit der Ankündigung von Schulz, das „Spardiktat“ in Europa habe jetzt ein Ende und hat nicht vergessen, dass Deutschland selbst höhere Beitragszahlungen an Brüssel angeboten hat, dann kann sich auch der Rest Europas über die neue GroKo freuen.

+++ Dass die Union die beiden wichtigen Ministerien Außen und Finanzen weggibt, macht nur noch ratlos und folgt offenbar dem alten Spruch: Wer regieren will, muss fühlen. Immerhin konnte die Union 100 Prozent ihres Programmes durchsetzen: Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Manchmal bleibt halt nur Sarkasmus.

Natürlich kann die SPD-Basis all das ganz anders sehen, sich couragiert für die Erneuerung ihrer Partei in der Regierung aussprechen und die nun verteilten Minister widerlegen jegliche Miesepetrigkeit durch überzeugende, zupackende Arbeit. Es kann aber auch sein, dass der politische Aschermittwoch künftig auf einen Donnerstag fällt.

Angst fressen Debatte auf

Mai 13, 2016

Ich habe gar keine Angst.

Man muss das betonen, weil in Talk und Diskurs heute überall Therapeuten unterwegs sind, die sich leider nicht darauf beschränken, an der eigenen Seele zu klempnern. Kein Migrations-AfD-Populisten-Integrations-Talk kommt dieser Tage ohne Verweis auf „Ängste“ aus. Mal sind es die „Abstiegsängste“ der Mittelschicht, mal „Überfremdungsängste“ oder „Ängste“ ganz allgemein. Mag sein, dass es so ist, vielleicht aber auch nicht.

Ich zumindest habe keine Angst. Aber ich habe eine Meinung und verwahre mich dagegen, dass mich Debattengegner zum therapiebedürftigen Phobiker deklarieren. Ich verstehe, dass es sich von der wohligen Warte des Durchschauer-Hochsitzes angenehmer debattiert, aber mit Verlaub: Ob und welche Ängste andere Menschen heimsuchen, kann niemand wissen, und es tut auch nichts zur Sache. In Diskussionen geht es darum, Meinungen und Weltsichten auszutauschen oder zu widerlegen. Es geht nicht darum, die vermeintlichen Motive des anderen zu analysieren und abzuqualifizieren.

Besonders beliebt ist die Methode der Veropferung bemitleidenswerter Gegenredner in der Debatte um die Stellung homosexueller Partnerschaften. Im Begriff „Homophobie“ ist eine präjudizierende Rundum-Diagnose zum allgemeingebräuchlichen Schlagwort geworden: Die Angst vor den eigenen gleichgeschlechtlichen Neigungen führt nach gängiger Theorie zur kompensierenden Abwehr. Wer etwas gegen die Ehe für alle hat, kann demnach nichts anderes sein, als ein untherapierter Psycho.

Noch penetranter ist allerdings der ebenfalls sehr beliebte Umerziehungsansatz, wonach Fremdenfeindlichkeit dort besonders hoch sei, wo es wenig Fremde gibt. Nun darf sich auch zur Zuwanderung äußern, wer keine türkischen Freunde hat. Genauso, wie man Windkraft debattieren kann, ohne ein Windrad vor dem Haus zu haben. Gern wird beim Thema Zuwanderung dann noch nachgeschoben, dass häufigere Alltagskontakte mit Migranten die Ablehnung beheben könnten. Mit anderen Worten: Wir wissen, was zu tun ist, damit ihr endlich unserer Meinung seid.

Die Botschaft all dieser gepflegten Stanzen ist immer dieselbe: Herablassung.

Alles beim Alten: Ein Jahr Sarrazin-Debatte

Juli 31, 2011

Das Papier hat scheinbar überhaupt nichts mit Thilo Sarrazin zu tun. „Bildungsrepublik Deutschland“ steht auf der bedruckten Blattsammlung, die Leitantrag des CDU-Bundesparteitags im November in Leipzig werden soll. Hauptstreitpunkt: die Abschaffung der Hauptschule und Einführung eines zweigliedrigen Schulsystems aus Gymnasium und neu zu schaffender „Oberschule“. Bildungspolitischer Sprengstoff innerhalb der Union, heftige Reaktionen von der Schwester CSU aus Bayern und etlichen CDU-Landesverbänden.

Mindestens ebenso so explosiv und doch weitgehend ignoriert: die Begründung für die Bildungsreform. Der dramatische Rückgang der Bevölkerung und das damit verbundene Einbrechen der Schülerzahlen – in einigen Regionen um dreißig bis fünfzig Prozent – erzwinge die Zusammenlegung der Schulen, wenn man sie in stadtfernen Gebieten erhalten wolle. Und der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den Klassenräumen, der schon in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren gebietsweise bis auf 75 Prozent steigen werde, mache neue, intensive, integrative Formen der Beschulung nötig.

Letzteres sind keine Prognosen oder Hochrechnungen, die man glauben oder bezweifeln kann: Die betreffenden Kinder sind schon geboren (oder eben nicht geboren) und lassen sich zu harten Schulstatistiken zusammenzählen. In Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ konnte man das in allen Details schon vor einem Jahr nachlesen. 40 Prozent der jungen Mütter haben heute einen Migrationshintergrund. Während der Anteil von Zuzüglern an der Gesamtbevölkerung etwa 17 Prozent ausmacht, haben schon jetzt 30 Prozent der unter 15-Jährigen eine Einwanderer-Geschichte.

Während sich die Politik an technischen Korrektur-Details wie den Schulformen abarbeitet (und Sarrazin damit stillschweigend bestätigt), blendet sie bewusst oder unbewusst die wahre Dimension des heraufziehenden Wandlungsprozesses in Deutschland aus: Die Mehrheitsverhältnisse in den Klassenzimmern von morgen sind die Gesellschaftsverhältnisse von übermorgen. Und genau das macht die Bedeutung des Sarrazin-Buches auch ein Jahr nach seinem Erscheinen aus. Nie zuvor in der Geschichte ist eine hoch entwickelte Gesellschaft sehenden Auges in Zuwanderung aufgegangen und von dieser absehbar kulturell übernommen worden. Vollzogen sich derartige Prozesse bislang über mehrere Generationen hinweg, so wird dies nun innerhalb einer und sehr viel intensiver geschehen als beim bisher bekannten Einsickern von Zuwanderern in anderen Epochen.

Sarrazin protokolliert eher nüchtern und mit contra-guttenbergscher Fußnoten-Disziplin die Trends und Ursachen. Vom Geburtenmangel und dem Wegbrechen naturwissenschaftlich-technischer Hochschulabsolventen über sich verfestigende Migranten-Milieus bis hin zu einer Sozialpolitik, die durch gut gemeinte Fürsorge Menschen mehr und mehr ihrer Selbstverantwortung entwöhnt. Da sich all das klassischem politi-technokratischem Denken und kurzfristiger Steuerung im Legislaturperioden-Turnus entzieht, sind ernstzunehmende Reaktionen bislang ausgeblieben. Dass die sich verschiebenden Mehrheitsverhältnisse gesellschaftspolitisch folgenlos bleiben, ist dagegen mehr als unwahrscheinlich.

Die wachsende Zahl von Migrationsdeutschen in Kommunal-, Landes- und Bundesparlamenten wird in einer funktionierenden Demokratie Auswirkungen auf die politische Agenda und die Entscheidungen haben und hergebrachten „ur-deutschen“ Vorstellungen zwangsläufig Konkurrenz machen. Ob und wie eine immer inhomogenere Gesellschaft solche Brüche verkraftet, ist völlig offen. Den Finger in diese Wunde gelegt zu haben, ist nach wie vor das große Verdienst Sarrazins. Es geht hier nämlich nicht um Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit, sondern um den Identitätsverlust einer Gesellschaft, die in dem viel gescholtenen Bild des „Kopftuchmädchens“ (Sarrazin) äußerst präzise beschrieben ist. Niemand hegt irgendeinen Groll gegen eine individuelle verschleierte Muslima. Was zum gesellschaftlichen Sprengstoff werden kann, ist das Gefühl von Fremdheit im eigenen Land, das viele beschleicht, wenn sie in Teilen Kölns die Ladeninschriften nicht mehr verstehen oder sich wundern, warum man kaum noch Taxi-Fahrer erwischt, die normal deutsch sprechen.

Dieses Fremdeln gegenüber Fremdem mag nicht korrekt oder progressiv sein und auch nicht ins Konzept einer modernen „Melting-Pot“-Welt passen, es ist aber in den meisten Regionen dieser Erde eher die Regel als die Ausnahme. Die Konflikte, die aus solchen Verwerfungen entstehen, sind oft alles andere als friedlich. Eine Debatte über gesellschaftspolitische Zukunftstrends in Deutschland ist deshalb so verdienstvoll und dringlich, wie ihr allgemeines Abwürgen absehbar war.

Thilo und die Sarrazinen – Eine Bilanz

Dezember 31, 2010

Manchmal ist es hilfreich, die Gedanken ein wenig zu ordnen. Niemand hat 2010 in Deutschland so polarisiert, hat Öffentlichkeit, Politik und Medienmenschen in so unversöhnliche Lager gespalten wie Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Der Ex-Senator und inzwischen Ex-Banker hat das gute Gretchen bei der Frage endlich abgelöst: Wie hälst du’s mit dem Sarrazin? – ist für die gesellschaftspolitische Standortbestimmung, was die Beringung für den Vogelfreund ist. Was aber hat einen ehedem als rationalen Denker bekannten Politiker in die Lage gebracht, den einen als schändlicher Hetzer und den anderen als unkonventioneller Integrationsmessias zu erscheinen. Eine Analyse.

Integration: Sarrazin hat mit Hilfe verfügbarer, amtlicher und im Grunde bis heute nicht angezweifelter Statistiken (Spracherwerb, Arbeitsmarkt, Schulbildung und –Abschlüsse, Sozialtransfers etc.) dargestellt, dass die Integration von Muslimen innerhalb der deutschen Gesellschaft große Probleme bereitet. Dies zu widerlegen, hätte es lediglich anderer Statistiken oder Untersuchungen bedurft, die einen höheren Prozentsatz gut integrierter Muslime ausweisen oder zumindest eine hoffnungsvollere Prognose stellen. Statt dessen wurden immer wieder Einzelbeispiele gelungener Einfindung in hiesige Verhältnisse präsentiert, was aber der logischen Beweisführung im Sinne einer Widerlegung nicht wirklich dient, so erfreulich jede Erfolgsvita auch sein mag. Ein vierblättriges Kleeblatt widerlegt nicht die Mehrheit der Dreier.

Abgelehnt wurde Sarrazins Analyse offen oder unterschwellig vor allem, weil gerade großstädtische Intellektuellen-Milieus sich dagegen verwahren, einer konkreten gesellschaftlichen Gruppe ein schlechtes Zeugnis auszustellen. In einer konsensorientierten Gesellschaft, die etwa in Zeugnissen eine Pflicht zum positiven Urteil vorschreibt oder pädagogische Grenzziehungen stets durch positive Anreize, nie durch harte Konfrontation geben will, kann das nicht erstaunen. Die hermetische Unantastbarkeit des gefühlten Weltbildes durch Fakten war am Ende das wirklich Erstaunliche am Casus Sarrazin. Nicht einmal der investigative Eifer zur Widerlegung des Anstößigen durch Fakten, der bei anderen Gelegenheiten ein verlässlicher Medien-Reflex ist, wurde hier geweckt.

Vererbung von Intelligenz: Die Koppelung beider Themen machte die Abschiebung des Autors Sarrazin ins nazinahe Eugeniker-Ghetto besonders leicht. Bei näherem Hinsehen sind die Fakten freilich weit weniger skandalös. Sarrazin beschreibt – mit Rückendeckung der jeweiligen Forschungsgrößen auf diesem Gebiet – dass fünfzig bis achtzig Prozent der Intelligenz auf Vererbung beruhen. Das sollte nicht weiter verblüffen, wenn man in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wie etwa bestimmte Veranlagungen von Händigkeit, Lese-Rechtschreibschwäche (prominentes Beispiel ist das schwedische Königshaus), Neigung zu Krebsleiden etc. durch genetische Prägungen wissenschaftlich nachgewiesen wurden. Dennoch ist Intelligenz mehr als die programmierte Vernetzungspotenz der Neuronen und wird maßgeblich auch vom Milieu geprägt, in dem sich das Aufwachsen vollzieht. Von intellektuellen Anregungen, Förderung und anderem.

Deutschland schafft sich ab: Wenn sich also Soziotope bilden, in denen wegen mangelnden sozialen und integrativen Erfolgs, auch derjenige Teil der Nachkommenschaft mit den Anlagen zu hoher Intelligenz nicht genug Stimulanz und Futter fürs Hirn bekommt, dann ist eine Niveauregulierung unterhalb der Möglichkeiten sehr wohl nachvollziehbar. Allerdings auch in Milieus ohne Migrationshintergrund. Und genau das beschreibt Sarrazin im ersten Teil des Buches auf mehr als einhundert Seiten. Das dramatische Untergangsszenario im Titel wird eben nicht einfach fremdenfeindlich an den Migranten hergeleitet, sondern aus einer fehlgeleiteten Sozialpolitik insgesamt begründet.

Sozialpolitik: Das hätte Sarrazins ausschlusswilligen Genossen der eigentliche Sprengstoff des Buches sein müssen: In seinen Augen muss das Fordern deutlich über das Fördern gestellt werden. Seine ebenfalls nicht sonderlich skandalöse, wohl aber unpopuläre These: Versorgung macht träge, das Packen der Betroffenen am Existenziellen setzt in Bewegung. Hier dürfte in der Tat ein fundamentaler Widerspruch zum sozialpolitischen Verständnis der SPD vorliegen.

Der Katalog der Gegenmaßnahmen: Bei seinen Vorschlägen ist Sarrazin viel radikaler und dann doch durchaus auch „linker“ als viele seiner Parteifreunde. Wenn man ihm etwas zum Vorwurf machen will, gibt die Liste der verpflichtenden Maßnahmen für Bildungsferne (Ganztagsschule, Hort, konditionierte Kindergeldkürzung etc.) für Freunde elterlicher Erziehungshoheit viel mehr her als der Rest des Buches. Im Grunde findet hier – von Einzelmaßnahmen einmal abgesehen – der Schulterschluss mit Sarrazin-Großkritikern wie etwa Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) statt, der immer wieder gern staatliche „Schicksalskorrektur“ für Unterschichtler und erfolglose Migranten fordert. Genau das schlägt Sarrazin mit der ihm eigenen Brachialität vor, nur merken es die lektüreverweigernden Kritiker halt nicht.

Die Politik: Thilo Sarrazin 2010 – gut, dass wir drüber geredet haben. Und jetzt weiter wie bisher.

Klarer kann man es nicht sagen

Oktober 8, 2010

Einer der renomiertesten Sozialforscher Deutschlands, der gewiss nicht im Verdacht und schon gar nicht in der konservativen Ecke steht, äußert sich im Tagesspiegel zu Wulffs Islam-Bonmot. Mehr gibt es zu dem Thema eigentlich nicht zu sagen. Klarheit ohne ideologischen Ballast.

Christian Wulff und das Elend der deutschen Konservativen

Oktober 5, 2010

Unversehens ist Bundespräsident Christian Wulff (CDU) zur Gallionsfigur für das gerade in diesen Tagen viel beschworene Elend der deutschen Konservativen geworden. Mit seiner mundgerechten Sentenz „der Islam gehört zu Deutschland“ steht er geradezu beispielhaft für jene Strömung im bürgerlichen Lager, die aus der traditionsreichen bewahrenden Nachdenklichkeit von einst einen wohlfeilen Mitschwimmer-Zirkel gemacht hat.

Konservative zeichneten sich einst dadurch aus, dass sie nicht eilfertig dem Zeitgeist nachstrebten, sondern skeptisch innehielten. Hätte Wulff diese Methode angewandt, so hätte ihm auffallen müssen, dass nicht der Islam zu Deutschland gehört, sondern die eingewanderten Muslime. Ihnen, den kritischen, wie den frommen, nicht den militanten, soll, kann und muss Deutschland Heimstatt sein, wenn sie denn hier leben wollen. „Der Islam gehört zu Deutschland“ ist so falsch wie der Satz „Das Christentum gehört zu Afghanistan“. Das tut es ganz offensichtlich nicht.

Die Illustration der ganzen Absurdheit dieses multikulturell und integrationswilig wohlklingenden Wulff-Satzes hat der Bundespräsident allerdings gleich mitgeliefert: Der Islam gehöre inzwischen zu Deutschland wie das Christentum und das Judentum. Nach 1500 Jahren Christentum und noch längerer jüdischer Tradition (ca. 1700 Jahre) auf germanischem Boden dem Islam eine Zugehörigkeit auszusprechen, weil vor 50 Jahren Gastarbeiter nach Deutschland kamen, ist eine so grandiose Ahistorizität, dass sie eines christlich-konservativen Politikers eigentlich unwürdig sein müsste.

Der Islam, der im Wulffschen Sinne allenfalls zu Deutschland gehören könnte, ist ein selektiver. Es ist der Islam der Kreuzberger Minirock-Mädchen und netten Opas aus Anatolien von nebenan. Es ist ein Teil-Islam, der hier vorkommt. Diesen Ausschnitt in irregeleiteter Harmoniesucht für den Islam als Ganzes zu nehmen, ist realitätsfern und im Grunde eine entmündigende Bevormundung der islamischen Welt, die sich in großen Teilen dagegen verwahren wird, von Wulff vereinnahmt zu werden. Wer die Kulturkonflikte unserer Zeit so naiv trivialisiert, sollte auch die nordischen Trolle und afrikanischen Voodoo-Geister zu Deutschland zugehörig zählen. Das friedliche Miteinander der Kulturen zu beschwören, wird das Ziel in der Realität nicht befördern. Bislang war dieses Missverständnis meist linksalternativen Schwarmgeistern vorbehalten. Es ist in den Reihen der Konservativen angekommen.

Es ist eben genau diese Spanne zwischen gedankenlos-zweckdienlicher gesellschaftspolitischer Nettigkeit und bildungsbürgerlicher Kenntnis, zwischen gut gemeinter Handreichungsgeste an die Muslime und weniger gefälliger aber doch wahrhaftigerer Ansprache an die deutsche Nation, was den Niedergang der Konservativen ausmacht. Im Grunde aber muss man von jedem verantwortlichen Politiker – ganz gleich, welcher Parteiung –  erwarten können, dass er nicht über eintausend Jahre abendländischer Geschichte, über Renaissance, Reformation und Aufklärung einfach aus tagespolitischer Opportunität hinwegschreitet und im integrativen Überschwange eine ganze Religion in diesen Kulturkanon aufnimmt, die all das nun für jeden sichtbar nicht durchschritten und genau deshalb Probleme mit der westlichen Gesellschaft hat.

All das bedeutet nicht, dass man Muslime vor den Kopf stoßen müsste. Man kann und muss ihnen die Hand reichen, weil ganz ohne jede Diskussion die Würde des Menschen selbstverständlich für sie gilt. Man kann und muss aber auch nicht die Deutschen und Europäer vor den Kopf stoßen, deren Ringen um Säkularisierung, Demokratie und Geistesfreiheit zur wohlfeilen Handelsware für Feiertagsredner wird, die einfach mal nett zu Zuwanderern sein wollen.

Unreflektierte Reflexe

September 22, 2010

In der Sarrazin-Debatte treffen wir einen altbekannten Reflex wieder: Die Welt soll so nicht sein, wie Sarrazin sie beschreibt. Man kann aber auch nicht ausschließen, dass sie so ist und weigert sich sicherheitshalber, darüber nachzudenken.

Ein Gutes hat die Sache immerhin: Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der bislang als Migrationsrambo galt und in seiner Partei durchaus auch angefochten war, hat nun den ehrenden Ritterschlag des allseits akzeptierten Fachmanns bekommen. Schließlich lässt sich das Problem ja nicht leugnen, nur möchte der Mainstream eben nicht auf Seiten Sarrazins stehen. Noch vor einem Jahr wusste Berlins Regierender Bürgermeister zu verhindern, dass Buschkowsky vor dem Innenausschuss des Abgeordnetenhauses gehört wurde, nun wird er Gast-Redner beim SPD-Parteitag. Es gilt das Vorletzten-Prinzip: Nieder mit Sarrazin, es lebe Buschkowsky. Bis der Nächste kommt.

Sarrazins Irrtum

September 2, 2010

Warum sich Thilo Sarrazin auf den Abweg genetischer Expertisen begeben hat, ist nicht ganz klar. Die verheerenden Milieuprägungen von Migrantenkindern in Problemkiezen hätten völlig ausgereicht, um seinen Alarmruf hinreichend zu motivieren. Das zentrale Missverständnis, dem Sarrazin offenbar aufgesesen ist, ist die Verwechslung von erblicher „Veranlagung“ und „Vererbung“. Das legen zumindest diverse Interviews der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern nahe, auf die sich Sarrazin im Buch bezieht.

Demnach ist die Entfaltung von Intelligenz (ganz gleich, ob man sie nun mit einem IQ-Test misst oder anders bestimmen will) tatsächlich von genetischen Anlagen zu großen Teilen abhängig. Da man Gene gemeinhin auch als Erbanlagen bezeichnet, nimmt Sarrazin offenbar an, diese Anlagen würde ebenso weitergegeben wie etwa Wuchsgröße oder Augenfarbe etc. Stern weist nun darauf hin, dass diese Vererbung von Intelligenz nach Mendelschem Gesetz so nicht nachweisbar ist. So könnten selbstverständlich hochintelligente Eltern weniger begabte Kinder haben und bildungsferne Paare Kinder, deren Anlagen zu Höchstem befähigen.

Vor diesem Hintergrund ist auch Sarrazins Stern-Zitat zu verstehen, dass gute Schulen nicht Gleichheit hervorbringen, sondern die Unterschiede vergrößern: Zwar könne man mit einer guten Schulbildung Kinder mit geringerer Veranlagung bis an das Optimum ihrer Möglichkeiten führen, Kinder mit angelegter Hochbegabung gingen dann gewissermaßen durch die Decke. All dies sei aber nicht mechanisch zu verstehen, da auch Bildungsangebote, Fleiß und andere Faktoren eine Rolle spielten. Dass aber Anlagen zur Hochbegabung in negativem Milieu meistens verschüttet werden und sich nicht von selbst entfalten, gehört zur Wahrheit dazu. Womit wir wieder bei Sarrazin und den Problemkiezen wären.

Der Casus-Sarrazin: Psychologie eines Skandals

September 1, 2010

Die Sarrazin-Debatte ist in ihre Milieu-Phase getreten: Die gesellschaftlichen Disputanden scheiden sich je nach Milieuverhaftung und konzentrieren sich auf die jeweils dienlichen Aspekte des Buches. Sarrazin-Gegner greifen sich vor allem die Verdummungs- und Vererbungsthesen heraus und geißeln – wie etwa FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher – Sarrazins Sozialdarwinismus und überholten Biologismus. Das hat den Vorteil, dass man sich mit dem in der Tat gewichtigeren Komplex muslimischer Integration oder eben Nicht-Integration nicht auseinandersetzen muss.

Sarrazin-Unterstützer konzentrieren sich dagegen gerade auf diesen Teil seiner Ausführungen, weil er mit vergleichsweise verlässlichen Zahlen untersetzt ist und das Problem von einer Mehrheit der Deutschen ähnlich gesehen wird. Die Aufspaltung der Debatte entlang der Milieu-Linien folgt dabei einem klassischen Schema. Schirrmacher etwa, der sich als aufgeklärter, progressiver Konservativer versteht, kann und will es sich nicht leisten, auf der Seite der „Sarrazinen“ zu stehen und von den „fortschrittlichen“ Multikulturalisten scheel angesehen zu werden.

Interessant an den Sarrazin-Kritikern ist übrigens, dass auf der jeweiligen Windung der Empörungsspirale stets die Fakten der vorherigen Kurve als „olle Kamellen“, alte Hüte und längst bekannt abgetan werden, obwohl die meisten selbst ehedem heftigst dagegen polemisierten. Galt vor Jahren allein die Erwähnung erhöhter Delinquenz im jugendlichen Migranten-Milieu schon als rassistische Ausgrenzung, so wischt man Sarrazins Verweis auf verstärkte Einwanderung in die Sozialsysteme heute mit gelangweilter Beiläufigkeit vom Tisch, als habe man das schon immer gesagt und der Spätversteher Sarrazin komme gewissermaßen mit Verstaubtem Skandal-Material daher.

Die Sarrazin-Unterstützer wiederum wollen nicht mit den Naiv-Integrationisten in einem Boot sitzen, die die Welt eher als freundliche Vision und gemütliche Fortschreibung von „1001 Nacht“ sehen wollen, und denen Vorwürfe an das Migranten-Milieu vor allem peinlich sind. Auf dieser Seite der Barrikade nimmt man die Sarrazinsche Vererbungs- und Verdummungslehre als marottenhafte Ausschmückung des eigentlichen Themas und geht rasch darüber hinweg.

Nach der Milieu-Phase folgt freilich regelmäßig die Beilegungs-, Abkling- und Vergessensphase. Beide Seiten werden sich resigniert in ihren Positionen bestätigt sehen: Die einen darin, dass Sarrazin ein schlimmer Provokateur, Rassist und Störer des gesellschaftlichen Friedens ist, die anderen darin, dass der Mainstream der veröffentlichten Meinung und der angstgetriebenen Politik lieber den Mantel des Schweigens über migrationspolitische Brüche und Unverträglichkeiten breitet. Und bis zum nächsten „Skandal“ ist dann erstmal wieder Ruhe im Lande.