Früher, also bis vor etwas zwei Monaten, galt in Deutschland die Übereinkunft, dass man Richter und Gerichte im Allgemeinen und das Bundesverfassungsgericht im Besonderen nicht nötigen, drängen oder schelten solle. Nun, da das Bundesverfassungsgericht unerhörterweise angerufen wurde, über die Vereinbarkeit der Euro-Rettung mit dem Grundgesetz zu urteilen, sind all diese Gepflogenheiten dahin. Seit festeht, dass am 12. September über die Eilanträge gegen den Euro-Rettungsfonds ESM und gegen den Fiskalpakt entschieden wird, fahren Teile der Medien eine Großoffensive gegen das oberste deutsche Gericht. Nicht auszudenken, wenn es ein falsches Urteil sprechen würde!
Man werde sehen, schreibt der ansonsten eher bodenständig-rationale Jan Fleichhauer auf Spiegel-Online mit drohendem Unterton, ob Karlsruhe es wage, den deutschen Beitrag zur Euro-Rettung zu stoppen. Eine solche Entscheidung hätte möglicherweise unumkehrbare Konsequenzen und sei im Grunde „Politikverachtung deluxe“. Nun war die Revidierbarkeit von Rechtsprechung bislang keine Voraussetzung für die Akzeptanz von Urteilen, aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass bei der vermeintlichen Euro-Rettung juristisches Neuland betreten würde. Sofern denn überhaupt noch juristischer Boden unter den Füßen der tapferen Retter ist. Schön auch, dass hier endlich mit der überlebten Vorstellung aufgeräumt wird, die Richter würden entlang von Geist und Buchstaben der Verfassung ihre Urteile fällen. Neu ist allerdings der verächtliche Ton, mit dem Fleischhauer die offenbar überbezahlten Polit-Parvenues in Karlsruhe ganz persönlich angeht.
Woche für Woche hat auch Hans-Ulrich Jörges in jüngster Zeit im „Stern“ immer wieder auf der aus seiner Sicht völlig unangemessenen Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts herumgehackt. Es könne doch nicht sein, so ein ums andere Mal der Tenor, dass ganz Europa am Gägelband von Karlsruhe gehe. Da reibt man sich schon einigermaßen fassungslos die Augen: Da wird ein Vielfaches des Bundeshaushalts für andere Staaten verbürgt, und dafür sollte ein kurzer, nachdenklicher Blick ins Grundgesetz nicht angemessen sein? Ja wann denn dann? Mal ganz abgesehen davon, dass das Bundesverfassungsgericht, dem Souverän Bundestag schon zweimal Prüfung und Mitsprache zugewiesen hat, die man ihm im Rettungsüberschwange gar nicht einräumen wollte. Jeder Demokrat bei Sinnen muss sich da eher bedanken als straffem Durchregieren den Vorzug zu geben.
In der Süddeutschen Zeitung hat Heribert Prantl ebenfalls mehrfach die Verfassungsrichter in Karlsruhe darüber belehrt, dass die weitere, vertiefte Integration Europas mit dem Grundgesetz durchaus vereinbar sei. Es wird die Herren und Damen in den Roten Roben freuen, dass sie im Falle von Überlastung oder Ratslosigkeit jederzeit auf einen freien Mitarbeiter in München zurückgreifen können. Das Verblüffende ist allerdings, wie Prantl im Ernst darauf kommt, dass seine „Herzenssache Europa“ bei einer Zentralregierung in Brüssel in guten Händen sei. Wie naiv oder Europa-beduselt muss man denn sein, um bei Besichtigung des politischen National-Personals die Hoffnung zu hegen, im tiefenintegrierten Europa stünde plötzlich anstelle von vermachteten Bürokraten ein neuer, hehrer und reiner Politiker-Typus zur Vefügung, in dessen Hände man den Kontinent guten Gewissens legen kann! Warum soll Freiheit, weltweiter Einfluss und Wohlstand ein Widerspruch zu verbündeten Nationalstaaten sein? Warum nimmt man nicht zur Kenntnis, dass außer einigen Deutschen kein anderes Land im geeinten Europa aufgehen möchte?
Nico Fried zitiert mit Blick auf das erwartete Urteil zur Euro-Rettung ebenfalls in der SZ den obersten US-Richter John G. Roberts Jr. mit dem Satz: „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Bürger vor den Konsequenzen ihrer politischen Entscheidung zu schützen.“ Ein kluger Satz, der allerdings völlig fehlinterpretiert wäre, wenn man ihn als Hinweis läse, Karlsruhe sollte den Drang der Bürger nach Europa nicht besserwisserisch zu stoppen versuchen. Denn tatsächlich hat die Politik gerade in Deutschland seit Helmut Kohls Zeiten wohlweislich alles daran gesetzt, die Bürger über den Weg nach Europa und in den Euro nicht mitbestimmen zu lassen. Es gibt in Deutschland keine Sehnsucht nach Europa. Das vereinte Bundesstaats-Europa war und ist ein Elitenprojekt. In diesem Sinne wäre es sehr wohl die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Bürger vor der Überrumpelung durch eine Minderheit der Europa-Euphoriker zu schützen, die ausgerechnet auf den Trümmern des Euro das neue Europa aufbauen wollen.