Willkommen in der stammbaumlosen Gesellschaft

April 18, 2021

Die Große sexuelle Oktoberrevolution

Von RALF SCHULER

(Der Text ist leicht gekürzt als Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen)

Diese Revolution kommt ohne Sturm auf Palais und Schüsse aus Panzerkreuzern daher, und sie will doch die bürgerliche Ordnung, wie wir sie kennen, umstürzen. Was der „Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ nicht gelang und ihre späteren osteuropäischen Wiedergänger nicht vermochten, wird die sexuelle Gender-Revolution mittelfristig erledigen. Die Welt wird danach eine andere sein.

In der polit-ökonomischen Welt ist das Privateigentum der systementscheidende Kernbegriff. Gibt es privates Eigentum, lohnt sich Wettbewerb, entwickelt sich weltweiter Austausch und der Wunsch nach demokratischer Entfaltung, wie man selbst in China beim Vorgehen der KP gegen allzu eigensinnige Unternehmer sehen kann. Die Abwesenheit von Privateigentum wiederum wandelt Gesellschaften zwingend ins Unfreie, weil selbst Ansätze von Aufbruch und Wettbewerb unter Kontrolle gehalten werden müssen.

Im gesellschaftlichen Bereich liegt dieser systemrelevante DNA-Kern in der Frage der Fortpflanzung und den beiden biologischen Geschlechtern, wenngleich sich Umbrüche hier weniger schnell und eher schleichend vollziehen. Die Einführung der „Ehe für alle“ ist bereits eine solche Systemrevolution: Aus der Ehe als Fortpflanzungsgemeinschaft, wie sie in allen Kulturen der Welt ausweislich der flankierenden Fruchtbarkeitskulte gesehen wurde, ist ein Personenbündnis geworden, dessen „besonderer Schutz“ durch die staatliche Ordnung (Art 6 Grundgesetz) erst noch neu definiert und tariert werden muss. „Ehe für alle“ bedeutet folglich „besonderer Schutz“ für alle. Was alle bekommen, ist nicht besonders. Eine Neudefinition dieses „besonderen Schutzes“, der gezielt Kinder in den Blick nimmt, ist deshalb unabdingbar. Die Ehe verliert damit ihren besonderen Schutz, weil sie nicht mehr besonders ist. Das Ehegattensplitting im Steuerrecht hat keinen Sinn bei Beziehungen, die nicht auf Nachwuchs ausgelegt sind, was bei der klassischen Ehe lediglich ausnahmsweise der Fall war.

Auch die Zahl Zwei bei der Anzahl der Partner steht bei der „Ehe für alle“ zur Disposition, weil sie sich aus der Zahl der biologischen Geschlechter ableitet, die inzwischen selbst vom deutschen Bundesverfassungsgericht durch die Einführung des „dritten Geschlechts“ (Divers) nicht mehr für verbindlich gehalten wird. Hier verbirgt sich der nächste Systemwechsel: Von den beiden biologischen Geschlechtern hin zu gefühlten Identitäten. Die Überwindung der Natur eröffnet ganz neue Freiheiten der subjektiven Selbstdefinition. Dass gleichzeitig die Fridays-for-Future-Bewegung fordert, der Wissenschaft zu folgen, während die Biologie in der Geschlechterfrage gewissermaßen entfolgt wird, gehört zu den kuriosen Zeiterscheinungen. Erste Dreier-Ehen wurden in Kolumbien und Brasilien bereits offiziell anerkannt. Juristisch gibt es nüchtern betrachtet wenig Einwände gegen weitere Kombinationen, da kulturübliche Tradition kaum als Argument anerkannt werden dürfte und juristischer Überprüfung nicht standhält.

Letzteres trifft auch auf das Inzestverbot (§173 StGB) zu, welches der grüne Rechtspolitiker Jerzy Montag schon 2007 streichen wollte. In Frankreich wurde es bereits nach der Französischen Revolution abgeschafft. Der Hinweis auf vermehrte Gendefekte und Missbildungen bei Kindern direkter Verwandter greift hier nicht, weil er den Einstieg in eugenische Logik bedeuten würde. Auch das Überschreiten der Generationenschranke (z.B. Vater-Tochter-Beziehungen) könnte hier ein Argument sein, wird allerdings mehr unter dem Gesichtspunkt selbstbestimmt gelebter Sexualität gesehen, sofern keine Minderjährigen beteiligt sind.

Man kann diese Revolution in Partnerschaft und Geschlecht in vielfacher Hinsicht als einen grundlegenden Eingriff in das bürgerliche Erbgut der Gesellschaft bezeichnen. Neben den beschriebenen Effekten gibt es eine rechtliche Konsequenzen-Rutschbahn. Diese beginnt mit dem Adoptionsrecht für sämtliche Partnerschaftsformen und einer dafür nötigen „Anpassung“ der Kindswohl-Definition. Derzeit (außer bei Sukzessiv-Adoptionen sich umorientierender Partner) werden Vater und Mutter (neben sozialen und materiellen Aspekten) als günstig bewertet, was alle anderen Partnerschaften aber strukturell benachteiligen würde. Das Kindswohl wird also den geänderten Partnerschaftsformen der Erwachsenen angepasst werden müssen.

Konsequenterweise ist auch die Änderung des Familienstandsrechts in verschiedenen Ländern bereits in Angriff genommen worden, damit künftig keine Unterscheidung zwischen sozialen und leiblichen Eltern mehr möglich sein soll. In der diversen Partnerschaftswelt soll es schließlich keine leibliche Abstammung mehr geben, in deren Schatten die reproduktionsmedizinische und soziale Abstammung stehen könnte. Und auch das in Deutschland bestehende Verbot von Leihmutterschaft wird mittelfristig fallen, weil es nichtklassische Familien in Nachteil setzt. In etlichen Musterprozessen ist das Verbot ohnehin längst ausgehöhlt worden – Überlegungen zur Ausnutzung von Frauen und Bedenken mit Blick auf Kinder, die zwischen ihren Herkünften aufgewühlt werden, müssen da zurücktreten. Willkommen in der stammbaumlosen Gesellschaft.

Und warum sollte all das gleich unsere Gesellschaft auf den Kopf stellen? Weil Fortpflanzung und Familie keine äußerliche Lässlichkeit sind wie die Entscheidung pro oder contra Doppelnamen. Bei der zentralen Rolle von Fortpflanzung und Familie geht es um unsere Existenz und ihre Grundlagen.

Denn in Wahrheit geht es um viel mehr als Natur vs. Gefühl oder soziale Konstrukte: Die klassische Familie ist die elementare Zelle der bürgerlichen Gesellschaft, sie trägt die maßgebliche Verantwortung für gelingendes Leben, am Anfang (Zeugung, Erziehung, Kulturkompetenz) und am Ende (Pflege, Versorgung, Generationenzusammenhalt), sie stellt uns in Traditionslinien, begründet unsere Herkunft und oft genug unsere Zukunft. Die klassische Familie ist das Kleinkraftwerk der Gesellschaft, auf dessen Lebensmodell sich ein großer Teil unserer staatlichen Regeln beziehen vom besonderen Schutz bis zur Familienzusammenführung (die sich weltweit im wesentlichen auf leibliche Abstammung beschränkt) im Visa- und Einwanderungsrecht. Kurz: die klassische Familie prägt unsere Gesellschaftsordnung in ihren Werten und Strukturen. Ganz zu schweigen davon, dass die klassische Ehe mit rund 18 Mio. Paaren (lt. Stat. Bundesamt) die mit weitem Abstand klar vorherrschende Partnerschaftsform gegenüber etwa 70 000 homosexuellen Verbindungen ist, werden auch nach wie vor zwei Drittel aller Kindern ehelich (2019: 519 000 zu 259 000) geboren. Die klassische Vater-Mutter-Kind-Familie mit leiblicher Abstammung aus dem praktischen Denkbetrieb der Gesellschaft zu nehmen und in eine regenbogen-bunte Vielfalt zu stellen, verzerrt nicht nur die Realität, sondern wird die Gesellschaft verändern. Das kann man wollen oder auch nicht. Die von etlichen Aktivisten ausdrücklich bekämpfte „Heteronormativität“ ist kein Unrecht oder Unfall, sondern gelebte Realität. Und das ist auch gut so. Wenn sich das grundlegend ändert, sterben wir aus oder müssen auf technische Reproduktionswege setzen – mit allen Risiken und Nebenwirkungen.

Damit es keine Missverständnisse gibt: Es geht hier nicht darum, ob Menschen anderer sexueller Orientierung oder Identitäten zu achten, zu respektieren und ihnen gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu sichern ist. Das steht außer Frage und ist sowohl aus christlicher, als auch aus humanistischer Sicht eine tiefe Selbstverständlichkeit. Es geht um eine gesellschaftliche und demokratisch-rechtstaatliche Debatte, mit welchen politischen Instrumenten Minderheiten in ihre Rechte eingesetzt werden können. Darum, ob die von den jeweiligen Lobby-Gruppen postulierten Ansprüche der einzige Weg dorthin sind. Eine Entscheidungskette, in der behauptete oder erlebte Benachteiligung zugleich evidenter gesamtgesellschaftlicher Beweis ist und auf die daraus abgeleitete Forderung nur noch mit Ja oder Ja geantwortet werden kann, ist demokratiefremd, wenn nicht gar -widrig.

 Die Beibehaltung der eingetragenen Partnerschaft neben der Ehe etwa hätte Rechtsgleichheit geschaffen und den Systembruch bei der Ehe vermieden: Zwei Rechtsinstitute für zwei verschiedene Partnerschaftstypen, deren Unterschiede durch den gemeinsamen Oberbegriff „Ehe für alle“ ja real trotzdem nicht aufgehoben werden. Jeder soll nach seiner Facon selig werden, nicht alle nach einer.

Auch die in vielen Bereichen erkennbaren Bemühungen, Geschlechter „abzuschaffen“, wie etwa bei dem jüngsten Versuch der Australian National University in Canberra, die Begriffe „Vater“ und „Mutter“ zu streichen oder etwa „Elternmilch“ statt „Muttermilch“ zu sagen, gehen in die gleiche fundamentale Richtung. Der Versuch, Familie und Geschlechter aus dem begrifflichen Denken zu tilgen, ist in letzter Instanz nichts anderes als der Wunsch nach Überwindung von Natur(wissenschaft) mit dem Ziel der Erringung einer homogenen Gesellschaft: Die klassenlose (und geschlechtslose) Gesellschaft mit anderen Mitteln.

 Besonders interessant daran ist, dass die politischen Revolutionen stets Massen und Mehrheiten repräsentierten oder dies zumindest vorgaben. Die sexuelle Gender-Revolution kommt von der genau entgegengesetzten Seite und will mit dem Mittel der Minderheitenrechte die bestehende Mehrheitsgesellschaft verändern. In Demokratien, in denen es eigentlich um Mehrheiten gehen sollte, ein interessantes Phänomen – um es neutral auszudrücken.

Die viel zu früh verstorbene, eher links-liberale „Tagesspiegel“-Journalistin Tissy Bruns schrieb in einem Leitartikel: „Familie, das sind Mama, Papa, ein Teller Spaghetti und ich in der Mitte“. Ein Ideal, dass nichts an Gültigkeit verloren hat und auch dann noch leuchtet, wenn man selbst daran scheitert, es zu leben. Aus welchem Grund auch immer. Wir leben in einer Zeit, in der wir offenbar nicht bereit sind, Ideale über uns zu akzeptieren, sondern die Ideale lieber auf unser irdisches Normalmaß herabstufen. Viele Aktivisten können oder wollen das Anderssein sexueller Identitäten und Lebensformen nicht als gleichberechtigtes Nebeneinander sehen, sondern machen lieber ungleiches gleich. Selbstbetrug mit Methode.

Wohlgemerkt: All diese Vorstöße sind meist legal und legitim. Jede Lobby kann, soll und darf sich in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen, den dann die gesamte Gesellschaft zu führen und am Ende demokratisch zu entscheiden hat. Dieser Diskurs muss offen sein und sämtliche Folgen und Spätfolgen in den Blick nehmen.

Sage niemand, es handle sich hier um krasse, randständige Positionen, weil die Abschaffung der Geschlechter im Alltag von 98 Prozent der Menschen kein Thema sei. Anfang März wurde im Deutschen Bundestag ein Antrag der Linkspartei (Drucksache 19/26980) im Plenum diskutiert, in dem es u.a. heißt: „die Festschreibung, dass Eltern immer nur zwei Personen sein müssen, hat angesichts sich wandelnder Beziehungsmuster und Lebensweisen immer weniger Sinn“ Und: „Eine solche angenommene Austragungspflicht macht gebärfähige Körper, in der überwiegenden Mehrzahl Frauenkörper, zum Objekt dieser Austragungspflicht.“ Der Antrag wurde abgelehnt, erhielt aber auch vereinzelte Stimmen von SPD und Grünen.

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat sich mit seinem Plädoyer gegen aggressive Identitätspolitik einen brachialen Shitstorm zugezogen. Nicht für diese Beleidigungen und Bedrohungen schämten sich seine Parteivorsitzende Saskia Esken und ihr Stellvertreter Kevin Kühnert anschließend, sondern für Thierses angeblich reaktionäre Haltung. Deshalb sei er hier noch einmal zitiert: „Vielleicht sind das unausweichliche Auseinandersetzungen in einer pluralistischer gewordenen Gesellschaft, aber meine Bitte ist einfach, in diesen Auseinandersetzungen das gemeinsame Fundament nicht aus dem Auge zu verlieren, sondern sich um dieses gemeinsame Fundament zu bemühen, also Freiheit und Gerechtigkeit und Solidarität, was wir darunter verstehen, und Solidarität zu begreifen nicht als ein einseitiges Verhältnis, sondern ein Verhältnis von Gegenseitigkeit. Das ist mir das, worum es geht.“ Es sieht nicht danach aus, als stieße dieses Werben im linken Lager auf Verständnis.

Kleines Brevier zu Moria und der Rechtslage

September 11, 2020

EU-Türkei-Deal:

Der Deal hat – zumindest für die Migranten in Griechenland – nicht funktioniert. In den letzten vier Jahren wurde nur etwa 2000 Migranten von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt. Der Grund: Der Deal gilt nur für Migranten auf den Inseln, nicht auf dem griechischen Festland. Voraussetzung für die Rückführung ist ein abgeschlossenes Asylverfahren. Das hat sich ewig verzögert. Erst hat Griechenland die (verfeindete) Türkei ewig nicht als sicherer Drittstaat anerkannt, was die Voraussetzung für Rücküberstellung ist. Dann verzögern sich die Asylverfahren endlos, weil zu wenig Asylrichter da sind und NGOs abgelehnte Asylbewerber durchweg zum Einspruch raten und beim Klageweg begleiten, der sich zum Teil über Jahre hinzieht.

Die Mehrheit der Migranten auf den griechischen Inseln hat nach Auskunft aus BMI-Kreisen von Anfang an keine Chance auf Asyl in der EU, weil sie etwa aus Afghanistan oder Afrika kommen. Abgelehnte Asylbewerber nimmt die Türkei aber nicht auf. Sie müssen in ihre Herkunftsländer zurückgeschoben werden. Deshalb klagen sie bis zur letzten Instanz.

Der EU-Plan von 2018

… war eine Totgeburt, sagt ein Innenpolitiker der Unionsfraktion, um den Streit mit der CSU und Innenminister Seehofer (71) zu befrieden. Die dort geplanten „Ausschiffungsplattformen“ hat es nie gegeben, weil sich kein EU-Nachbarland bereit erklärte, sie einzurichten. Die angekündigten Rückführungsabkommen innerhalb Europas wurden etwa mit Spanien geschlossen, gelten aber nur für Migranten, die von Spanien aus über die bayerische Grenze zu Österreich einreisen. Die meisten anderen EU-Länder unterzeichneten die Abkommen nicht. 

Aufnahme von Insel-Migranten aus Griechenland in Deutschland

Formell kann Deutschland die Migranten nicht aufnehmen, weil laut Dublin-Verordnung das erste EU-Einreiseland für das Asylverfahren zuständig ist. Selbst wenn Seehofer Flüchtlinge offiziell holt, muss das BamF die Leute nach Griechenland zurückschicken, weil sie dort eingereist sind. Das ist die Rechtslage. Einziger Kniff: Deutschland kann den so genannten „Selbsteintritt“ erklären und wird von Griechenland gebeten, die Asylverfahren zu übernehmen. Da in den meisten Fällen am Ende des Verfahrens KEIN Asyl gewährt wird, ist Deutschland dann für die Abschiebung in die Herkunftsländer zuständig, die in der Regel nicht klappt und in eine Duldung umgewandelt wird.

Eine Vorauswahl vor Ort ist nur begrenzt möglich, weil die NGOs und das UNHCR eigene Kriterien haben, und nicht nach der Wahrscheinlichkeit eines Asylstatus‘ auswählen.

Europäische Lösung

Außerdem befürchten die EU-Länder Mitteleuropas, dass die Außen-Staaten das Asylverfahren nachlässig durchführen, um möglichst viele Migranten weiterleiten, verteilen und damit das Problem auslagern zu können.

… ist das Zauberwort – und in weiter, weiter Ferne. Einig sind sich die 27 EU-Staaten inzwischen, dass Länder, die nicht aufnehmen wollen, sich auf andere Weise beteiligen können: durch Zahlungen oder Truppen für Frontex oder ähnliches. Das Problem: Die Verteilung kann nur funktionieren, wenn in Entscheidungszentren an den EU-Außengrenzen Asylverfahren durchgeführt werden, damit nur jene (sehr wenigen) Migranten weiterverteilt werden, die überhaupt auch Aussicht auf Asyl haben. Alle anderen müssten von diesen Zentren sofort wieder in die Herkunftsländer abgeschoben werden. Bislang gibt es unter den EU-Ländern keine Freiwilligen für solchen Zentren. Und: Die Einrichtungen müssten geschlossen sein, damit keine Weiterreise ohne Asylprüfung erfolgt. Ein solches „Transitzentrum“ musste Ungarn kürzlich aber schließen, weil der EUGMH es für nicht zulässig hielt, dass man das Lager nur in eine Richtung (über die Grenze aus der EU heraus) verlassen konnte.

(K)ein Grund zu feiern – der Sozialismus, die Einheit und wir

August 14, 2020

Corona schreibt nicht nur Geschichte, es tilgt sie auch. Mit einem Hilferuf wandte sich unlängst das deutsche Bundesinnenministerium an Abgeordnete und Mitglieder des Festkomitees 30 Jahre Deutsche Einheit: Weil wegen der Pandemie sämtliche öffentliche Großveranstaltungen zum Jubiläum entfallen, wollte man all die vorproduzierten Werbegeschenke loswerden und bot kartonweise Schlüsselbänder, Kugelschreiber, Tassen, Schals, Stirnbänder, Powerbanks und sogar weiße Frotteesocken mit dem offiziellen Logo der nun abgesagten Feierlichkeiten (einem schwarz-rot-goldenen Herz mit Aufschrift) zur freien Mitnahme an.

So skurril die Idee gewesen sein mag, ausgerechnet einen der wenigen historischen Glücksmomente der Deutschen auf Frotteesocken in sommerlichen Schlappen durch die Welt zu tragen, so tragisch ist es, dass wegen der ausfallenden Volksfeste, Foren und Gedenkmomente auch die Reflektion über 30 Jahre Einheit, Erfahrungen, Episoden und Lehren nahezu komplett im Schatten von Corona versinken. Einige seltsam monochrom besetzte Gesprächsrunden im Amtssitz des Bundespräsidenten, bei denen ein schmaler von Verlustschmerzen linksalternativer Protagonisten gezeichneter Erinnerungsstreifen kultiviert wurde, kann da ebenso wenig ein Ersatz für breiten Diskurs sein, wie die gespenstig stillen Staatsakte, die uns das Virus bereits zum 75. Jahrestag des Kriegsendes bescherte: die Vertreter der vier Verfassungsorgane Kanzlerin, Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts auf einsamen Abstands-Stühlen vor der Alten Wache in Berlin dem Bundespräsidenten lauschend.

Dabei drängen sich rückblickende Reflexionen in diesen Tagen nicht nur für mich auf, der ich mein Leben etwa hälftig (plus fünf Bonusjahre) in der DDR und in Freiheit verbracht habe. Es geht da nicht um eigenwillige Deja-vu-Episoden, wie etwa im Falle der 1988 aus der DDR ausgereisten Schriftstellerin Monika Maron, die im Zuge der Corona-Krise eine „Ausreiseverfügung“ für ihr Landhaus in Mecklenburg-Vorpommern erhielt und dies mit der galligen Bemerkung kommentierte, die deutschen Binnengrenzen ließen sich offenbar konsequenter schließen als die deutschen Außengrenzen.

Es geht vielmehr um gesellschaftliche Grundströmungen der Gegenwart, die vor der Folie des versunkenen Staatssozialismus‘ durchaus mit Gewinn zu diskutieren wären und wie schon die 30. Wiederkehr der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen DDR und Bundesrepublik nahezu geräuschlos vor den Fenstern des medialen Alltagszuges am 1. Juli vorbeiflogen.

Angesichts der geradezu dominohaft ins Freie kippenden Ostblock-Länder, kam man damals um die Frage nicht herum, ob dies einfach eine glückhafte Fügung der Geschichte sei und wenn nicht, welche systemischen (Denk)Fehler zum Kollaps des vermeintlichen Realsozialismus‘ geführt hatten.

Aus meiner Sicht besteht die Ursache für den Zusammenbruch östlich des Eisernen Vorhangs nicht in erster Linie in der äußerlichen Repression, der Mangelwirtschaft oder der ideologischen Gängelung. Der Kern des Scheiterns steckt in dem (durchaus gut gemeinten) Versuch, eine Gesellschaft am Reißbrett zu entwerfen und dann mechanisch planvoll herbeiführen zu wollen. Auf dem etwas wackeligen ideologischen Unterbau von Marx und vor allem Lenin sollte die ewige Konkurrenz, die Ellenbogengesellschaft, die Arm und Reich, oben und unten, sprich verschiedene Klassen hervorbringt, überwunden und durch die Herrschaft der Massen (des Proletariats) ersetzt werden. Nicht die Eliten sollten das Sagen haben, sondern der breite, werktätige Unterbau der Gesellschaft, der seine bodenständigen, quasi blaumanntragenden Vertreter in die Regierungskomitees entsendet.

Als Denkexperiment eine immerhin nachvollziehbare Idee, bei der es formal mehr Gewinner als Verlieren geben sollte. Wenn der Mensch ein ideales, solidarisches Kollektivwesen wäre, hätte der Plan vielleicht funktionieren können. Ist er aber nicht. Wer durch Tüchtigkeit seinen Vorteil suchte und in der Masse nicht marschieren mochte, musste zwangsläufig unterdrückt werden, um die große Vision nicht zu gefährden. Die egalitäre Gesellschaft als globales Ziel, dass sich auch bei machtvoller Rahmensetzung nicht einstellen wollte.

Als ich Ende der 70er Jahre in der DDR aufs Gymnasium (Erweiterte Oberschule) wechseln sollte, ging es um die Erfüllung einer Quote von Arbeiter- und Bauernkindern, damit eben nicht wie im Westen Kinder von Beamten und Intelligenz schrittweise wieder zur nichtproduzierenden Elite aufsteigen sollten. Dazu wurde der Proletariernachwuchs im gesamten Bildungszug gezielt gefördert (und die Definition von Arbeiter großzügig auch auf Staatsbedienstete und bewaffnete Organe ausgedehnt). Nur durch glückliche Fügung und freiwilligen Verzicht einer Arbeitertochter gelangte ich auf die höhere Schule. Und genau hier schlägt sich die Brücke zur Gegenwart.

Eine Quote, die damals genauso wenig funktionierte, wie die heute mit Macht angestrebte Frauenquote. Weder auf den Schulen noch beim anschließenden Studium konnten sich die Kinder der einfachen DDR-Malocher in gewünschter Zahl etablieren. Es scheiterte nicht an den materiellen Voraussetzungen – die schuf der sozialistische Staat – , es scheiterte an Elternhäusern und oft auch daran, dass Intelligenzler konsequenterweise im Arbeiter- und Bauernstaat oft schlechter bezahlt wurden als die „herrschende Klasse“.

Mit anderen Worten: Bei beiden Quoten geht es darum, eine gewünschte gesellschaftliche Verteilung sozialer Merkmale herbeizuführen, die sich auch bei massiver Förderung per Selbstorganisation nicht einstellt. Für mich gehört das zu den zentralen Erkenntnissen aus dem Zusammenbruch des Sozialismus‘: Man kann fördern und anreizen, aber man muss nüchtern analysieren, wenn vorgestelltes gesellschaftliches Ideal und Wirklichkeit nicht in Deckung zu bringen sind, ob das Ziel womöglich unrealistisch, ob der Weg dorthin vielleicht einfach nur länger oder ein anderer ist.

Erst nach und nach im Laufe der Nachwendejahre habe ich gemerkt, dass die Überzeugung, Ziele in erster Linie evolutionär zu erreichen, im Westen gar nicht so selbstverständlich und tief verankert ist, wie ich dies immer vermutet hatte. Offenbar sind ehedem viele durchaus zentrale Grundsätze nicht aus freiheitlich-demokratischer Erkenntnis, sondern lediglich aus der Augenblicksopposition zum Realsozialismus abgeleitet worden und stehen deshalb heute (für mich verblüffend) wohlfeil zur zeitgeist-taktischen Preisgabe an.

Es sind diese historischen Linien, die das Einheitsjubiläum durchaus auch für die politische und gesellschaftliche Gegenwart produktiv machen könnten und durch den Wegfall des eigentlich geplanten breiten Veranstaltungsteppichs zwischen Mauerfall und Einheitsfeier am 3. Oktober 2020 nun unbeleuchtet bleiben. So drängt sich der Verdacht auf, dass die egalitäre Gesellschaft ebenso eine Illusion war, wie es die beschworene Geschlechter-Parität heute ist. Dafür spricht zumindest, dass etwa bei der Wahl von Studienfächern nach wie vor starke, von klassischen Rollen geprägte Geschlechterdifferenzen bestehen, also die individuellen Lebensentscheidungen nicht dem gesellschaftlichen Wunschbild angepasst werden.

Wenn das Volk, „der große Lümmel“ (Heinrich Heine), aber trotz alljährlicher „Girls Days“, druckvoll in öffentliche Texte und Medien eingeführten Gender-Sprech und massiver Frauenförderung, schon wieder nicht den Visionen der Vordenker folgen mag, dann muss die gewünschte Realität eben verordnet werden, wie ehedem die nächst höhere Stufe des Sozialismus‘. Das ist viel weniger polemisch gemeint, als analytisch. Auch die Vermutung, dass die Verwendung bestimmter Worte und die Unterdrückung anderer das Denken wunschgemäß in einen angestrebten Zielkorridor lenke, war den Bewohnern des verblichenen Ostblocks nicht fremd.

Ich erinnere mich beispielsweise, wie Ende der 80er Jahre unser Chefredakteur der „Neuen Zeit“ von den wöchentlichen Anleitungen beim Chef des DDR-Presseamts, Kurt Blecha (gestorben 2013) mit der Botschaft zurückkam, das fortan die Vokabel „Volksschwimmhalle“ (nebst anderen Komposita mit „Volk“) nicht mehr zu verwenden sei. Der Grund: Sie insinuiere, dass es außer dem Volk noch etwas anderes oder gar eine Hierarchie geben könnte. Massiven Ärger hatte ich bereits in der Grundschule, als statt des progressiv konnotierten Wortes „Kampuchea“ für die Mörderbanden des Pol Pot, das im West-Rundfunk gebräuchliche „Kambodscha“ verwendet und mich schließlich mit „Rote Khmer“ völlig entlarvt hatte.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob derartigen Erscheinungen von einem repressiven Staatssystem ausgehen oder unter den Bedingungen der Freiheit im Kräftespiel der politischen Ideen hervorgebracht werden. Die auffällige Ähnlichkeit der Erscheinungen und deren offenkundige Erfolglosigkeit beim Hervorbringen gewünschter gesellschaftlicher Verhaltensmuster, darf aber durchaus zu denken geben. Es ist eine Art Rückwärts-Denke: Da das Ziel (weil zweifellos gut), nicht zur Disposition stehen kann, das vertrackte Volk bei freiem Willen sich dem aber nicht annähert, müssen die Zügel administrativ angezogen werden. Offenbar erliegen damals wie heute viele der Vorstellung, dass aus Wunsch zwingend Wirklichkeit werden müsse und kommen nicht auf die Idee, dass eine homogene, nach zahlenmäßigem Anteil sozialer Merkmale repräsentative Gesellschaft nicht nur lebensfremd, sondern sogar gefährlich ist, wenn man sie mit administrativem Furor herbeiführen will.

Dabei sind Parität und Gender-Sprech nur ein kleiner Aspekt, der im Rückblick auf Wende und Einheit nachdenklich macht. Die nachträgliche Säuberung von Geschichte, der Sturz von Denkmalen und die Umbenennung von Straßen und Gebäuden nach heutigen moralischen Reinheitsvorstellungen – all das muss man zwar nicht gleich mit Stalins Gruppenbildern assoziieren, auf denen die Retuscheure mit fortschreitender Raserei des Diktators immer weniger Gruppe übriglassen durften. Aber die zum Teil bis heute sichtbare Inflation an Karl-Marx-Straßen, Lenin-Alleen oder Ernst-Thälmann-Plätzen im Osten zeigt doch, wie zeitgeistgetrieben, untauglich und sinnlos der Versuch ist, alles misstimmige aus dem kollektiven Gedächtnis drängen zu wollen. Das Leben mit und im Wissen um die menschliche Widersprüchlichkeit und moralische Fehlbarkeit ist wichtiger und produktiver für offene Gesellschaften, als das ahistorische Planieren des und der Gewesenen.

Und noch ein Effekt ist vor dem Hintergrund des Jubiläums interessant: Die Verwechslung des Europäischen Ideals mit den Wegen und Mitteln zu seiner Erreichung. Es gehörte zu den Dauerphänomenen im Osten, dass die Kritik an konkreten Alltagsmissständen augenblicklich als Infragestellung des Sozialismus‘ in seiner Existenz und als Ziel gegen einen verwendet werden konnte. Ein Kniff, der selbst (partei)treue Sozialisten rasch zu Feinden und Dissidenten umzuetikettieren erlaubte und heute in vielerlei Bezügen wieder anzutreffen ist: Wer die Quote für untauglich hält, ist Frauenfeind, wer die Homo-Ehe nicht verficht, homophob, und wer auf innereuropäische Bruchlinien und fatale Mechaniken zur Vertiefung der europäischen Integration hinweist, stellt angeblich die Vision des geeinten Kontinents insgesamt in Frage.

Ein Reflexbogen, der mich immer verwundert hat. Je intensiver man ein Ziel anstrebt, desto wichtiger ist doch der nüchterne, ungeschönte Blick auf die Tatsachen, um sich nichts vorzumachen und der Gefahr idealistischer Hohlraumkonservierung zu entgehen.

Und schließlich lohnt im 30. Jahr nach Wende und Einheit ein weiteres Phänomen der Betrachtung: die raffinierten Formen des Entstehens von Konformität unter den Bedingungen der freiheitlichen Gesellschaft. Versuchte der reale Sozialismus ehedem, den mentalen wie gesellschaftlichen Gleichschritt mit Repression, Angst, Bespitzelung, Entzug und Zuteilung von Lebenschancen zu erzwingen, so fügen sich heute relevante Gruppen offenbar einem seltsamen Sog aus Vorteil, Diskursvermeidung und wohl auch gelegentlicher Gedankenlosigkeit.

Als im Zuge von Corona auch politische Spitzengremien notgedrungen zu Videokonferenzen übergingen und damit (ohne ins Detail gehen zu wollen) auch journalistischer Nachverfolgung neue Möglichkeiten des Einblicks in interne Abläufe lieferten, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass sich ein gewisser devoter Gestus offenbar über die Zeiten gerettet hat. Selbst kritische Geister, die in der öffentlichen Wahrnehmung durch ihr beherztes Kontra gegen die eigene Partei- und Regierungsspitze auffallen, leiteten intern ihre Wortbeiträge mit dem Lob etwa der Kanzlerin und deren erfolgreicher Politik ein, um anschließend allenfalls mögliche Fehlentwicklungen zu bedenken zu geben. In der anschließenden Schilderung klang das dann wieder nach Pulver und Aufstand.

Man kann das als lässliche menschliche Schwäche sehen, darf aber doch zur Kenntnis nehmen, dass der Schutz der wärmenden Gruppe offenbar auch ganz ohne Repression gesucht wird, wenn man für die eigene Meinung im Grunde nichts zu fürchten hätte. Abgeordnete, die bei kritischen Beiträgen unter dem Tisch klopfen, um vom Präsidium her nicht ortbar zu sein, unangenehme Shit-Stürme, denen man sich lieber durch Wegducken entzieht, das Vorsortieren von Fakten nach Herkunft und das parteiische Delegitimieren bestimmter Quellen oder Autoren – all das sind Erscheinungen, die das Gefühl des „aufgestoßenen Fensters“ (Stefan Heym) der Wendezeit dreißig Jahre Später mitunter wieder durch ängstliche Muffigkeit ersetzt.

Nun ist Klagen schon traditionell des Ossis liebstes Geschäft. Deshalb sei hier nicht wehleidiger Miesepetrigkeit das Wort geredet, sondern der große Schritt von damals in die Freiheit gewürdigt, der das ungehinderte Referieren eben auch solch seltsamer Analogien erst möglich machte. Denn auch das Einfordern von Optimismus („Wo bleibt das Positive?“) und die Neigung, dass Kritik ausschließlich „konstruktiv“ zu sein habe, sind Reflexe, die sich gut über die Zeiten gerettet haben.

Ralf Schuler (geb. 1965) in Ost-Berlin ist Leiter der Parlamentsredaktion von BILD. Zuletzt erschien sein Buch „Lasst uns Populisten sein“ im Herder Verlag

(Dies ist die ungekürzte Fassung eines Gastbeitrags, der am 11. August 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien.)

Man spricht Deutsch. Irgendwie.

März 4, 2020

Die Ankunft in der globalisierten Welt gestaltet sich zuweilen schwierig. Dass man im Taxi im Grunde keine Deutsch-Muttersprachler mehr trifft und an muslimischen Feiertagen auch keines zu bestellen versuchen sollte, ist seit langem Standard – nicht nur in Großstädten. Und wenn ich es rechtzeitig bemerke, kann ich dem Fahrer auch irgendwie klarmachen, dass wir auf dem Weg nach „Wannsee“ sind, ich aber „Weißensee“ gesagt hatte. Das ist ein phonetisch kleiner, geografisch jedoch recht bedeutsamer Unterschied, wenn man gar nicht in Wannsee wohnt. Obwohl sich die Himmelsrichtungen gewissermaßen direkt gegenüberliegen, bleiben da gute zwanzig Kilometer Zielabweichung, die mit Gepäck etwas beschwerlich werden.

Seit einiger Zeit ist es nun gelungen, offenbar im Sinne einer reibungsloseren Kommunikation zwischen Zentrale und Wagenflotte, auch für die telefonische Taxi-Vermittlung Fremdsprachler zu gewinnen. Als weltgewandter Kunde weiß ich das sehr zu schätzen und konnte mit meinem Street-Standup-Comedy-Programm „Zur Margarete-Steffin-Straße, bitte“ schon schöne Erfolge feiern. Mit dem klassischen Buchstabier-Alphabet (Siegfried-Theodor-Emil…) kommt man hier nicht weiter, und wenn man zwischen Handy-Anschreien, Augenroll, gepresster Geduld und verzweifeltem Kopf-an-Hauswand-Schlagen einen Spenden-Sammelbecher aufstellt, hat man schon nach einer halben Stunde die Mehrwertsteuer für die anschließende Fahrt beisammen und mit etwas Glück eine Mietdroschke auf dem Weg. Ohne Handy-Flatrate rechnet sich dieser Aufwand natürlich nicht.

„Unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich freue mich darauf!“, hat Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt schon 2018 vorausgesagt, und natürlich freue auch ich mich, wenn ich zum Fremdsprachen-Lernen und –Training nicht mehr umständlich ins Ausland reisen muss. In Hotels und Restaurants wird inzwischen flächendeckend geradebrecht, was der Dienstleistungsmarkt hergibt, und selbst bei der Kostümierung lässt die Integration kaum noch zu wünschen übrig. Als ich unlängst endlich einmal dazu kam, dem berühmten Münchner Nockherberg einen Besuch abzustatten, hatte sich das Bedienpersonal mit offenbar nahöstlichen oder nordafrikanischen Wurzeln wacker in Würfel-Hemd, Dirndl, Lederhosen und Bommelstrümpfe geworfen, dass die Festspiele von Bad Segeberg dagegen wie ein Fachschulkurs für naturidentische Ethnostudien daherkommt. Es war aber gar kein feierlicher Starkbier-Anstich, sondern lediglich normaler Gastbetrieb. Keine Veralberung, sondern wochentäglicher Vorabend. Und das regionaltypische Vokabular von „Maß“ bis „Haxe“ saß ebenfalls einigermaßen. Was eine Gaudi!

This land is your land, this land is my land… Auch mein Vorstandsvorsitzender spricht mich seit einiger Zeit in den wöchentlichen Mitarbeiter-Informationen („Paternoster­_pitch“) am Berliner Stammsitz von Axel Springer (äxl spring-gör) auf Englisch an („Current articles by “Berliner Zeitung” claim journalism at Axel Springer could come under pressure…“), und in der Kantine gibt’s das „Jägerschnitzel“ jetzt zweisprachig auch als in der anglo-Version als „Hunter‘s schnitzel with tomato sauce“. Brave new world, right here, right now.

Ein wenig heikel ist der Verzicht auf old-school-analog-Deutsch allerdings bei manchen Alltagsdienstleistungen. Als ich dem zugewanderten Friseur unlängst klarmachen wollte, dass um den zart aufwärts gewanderten Haaransatz auf der Oberstirn keine besonderen „Verrenkungen“ nötig wären, fehlte schlicht die nötige Vokabel, was ja beim Haarschnitt kein Beinbruch ist und ohnehin ohne das Verständnis für den metaphorischen Sinngehalt, nicht weiterhilft. Am Ende ließ sich die gewünschte lockere Zwischenlösung zwischen Kahlschlag und peinlich kaschierendem Langhaar sprachmittlerisch nicht mit letzter Sicherheit an den frisierenden Mann bringen, so dass ich auf eine Bearbeitung der Zentralstelle vorerst verzichtete.

Noch etwas derber geht es bei der fernöstlich geprägten Textilreinigung und Änderungsschneiderei im örtlichen Kaufland zu. Die sehr freundliche Frau von der Annahme kann kein Deutsch. Gar nichts. Zu nähende Nähte zeigt man, dass Kleidungsstücke sauber werden sollen, versteht sich von selbst. Geht irgendwie. Bei einem hartnäckigen Fleck auf einem Jackett hing dieser Tage ein Zettel am Bügel: Man sei die auftragnehmende Großreinigung und habe es binnen zweier Wochen nicht geschafft, vom Personal der Annahme zu erfahren, um was für eine Verschmutzung es sich handle. Deshalb schicke man das Textil zurück und empfehle, eine andere, fachkundige Reinigung aufzusuchen. Freundlich lächelnd hielt mir die Vietnamesin den Zettel zur Lektüre hin, auf dem sie selbst für zu dämlich befunden wurde. Deutsch lesen konnte sie ja auch nicht.

Der Herr aber sprach: „Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des anderen Sprache verstehe!“ (1.Mose 11,7) Am Ende hat das Fremdsein im eigenen Land auch sein Gutes, hilft es doch bei der Umwertung einstiger Werte, vermehrt die Freude an kleinen Dingen und lässt aus vormaliger Grobheit wohlig-warme Heimatgefühle erwachsen, wenn man wieder einmal hektisch ins Taxi springt:

„Sind Sie frei?“

„Gloobste, ick steh‘ hier wehjende Aussicht?“

Seufz. Schön. Zuhause.

 

Nase voll

Januar 17, 2020

Nein, das war wirklich nicht kultursensibel von mir. Man muss Fehler auch zugeben können.

„Ein guter Tag beginnt nach einem guten Kaffee“, stand am Boden der Tasse im Frühstücksbereich des Münchner Flughafenhotels. Für das chinesische Ehepaar am Nachbartisch traf das an diesem Morgen leider nicht zu. Und ich war schuld daran.

Mails und Newsletter lesend, hatte ich mir leichthin nebenbei die Nase geputzt… – und sah im selben Moment das vor Anwiderung und Entsetzen getriebene Zusammenzucken am Nachbartisch. Blicke trafen mich, als hätte ich mitten in der stylisches Lounge provokativ meine Notdurft verrichtet. In diesem Augenblick muss etwas zwischen uns zerbrochen sein, zumindest dürfte die deutsch-chinesische Freundschaft auf die Innigkeit zurückgeworfen sein, mit der die Junge Gruppe der Union im Bundestag einem Huawei-Funkmast begegnet.

Auch im Folgenden hat sich unser Frühstücksverhältnis nicht von meinem Fauxpas erholt. Immer wieder wanderten ängstlich-verächtliche Blicke zu mir und meinem Müsli herüber, ob von dieser groben Langnase wohl noch mehr unziemliche Ekligkeiten zu erwarten seien, und man womöglich besser daran täte, den Tisch zu wechseln.

Obzwar das Naseputzen hierzulande zu den eher beiläufigen Gewohnheiten und weniger als prägendes Element kultureller Identität gilt, war mir doch bewusst, dass es in Japan und China als höchst unschicklich angesehen wird. Dennoch stürzte mich der Vorgang in ein kaum aufzulösendes moralisches Dilemma: Hätte ich in präventiver Rücksichtnahme die Nase lieber geräuschvoll hochziehen und damit mein Manieren-Image bei den europäischen Mit-Essern ruinieren sollen? Oder hätte ich gar dem kultursensiblen Rat folgen sollen, der mir vor jeder der zahlreichen China-Reisen der Kanzlerin immer wieder in Form eines kleinen Breviers ausgehändigt wurde und zum Schnäuzen das nächste WC aufsuchen müssen?

Eine ethische Notlage, die mich den Tag über ziemlich beschäftigte. Zu meiner kosmopolitisch-kompatiblen Entlastung habe ich mir dann allerdings eine andere Rechtfertigung zurechtgelegt, mit der ich mich zumindest in einem trotzig-kulturkämpferischen Gestus eine Weile einrichten konnte.

Ich nahm die Münchner Episode als gerechte Revanche für eine analoge Peinigung während einer Merkel-Reise irgendwo in Mittel-China, die mich in ihrer verstörenden Bildhaftigkeit ebenfalls bis heute verfolgt. Es war einer dieser Termine, bei denen sich Funktionäre von Handelskammern im jeweiligen Top-Hotel der Stadt gemeinsam mit der Kanzlerin einfinden, Höflichkeiten und ganz dezente Anmerkungen zum bilateralen Wirtschaftsverkehr austauschen. Plüschige Stuhlreihen inmitten grellfarbig-goldenen Pomps, erfüllt vom steifen Überschwang protokollarischer Freundlichkeiten.

Während die Kanzlerin und einige Mitstreiter vorn von „Reziprozität“ im Wirtschaftsverkehr und dem „level playing field“ im Wettbewerb sprachen, bekämpfte mein Sitznachbar seinen offenbar in guter Blüte stehenden Infekt mit vollendeter Höflichkeit: Er zog mit einer Intensität und Inbrunst den inneren Ausfluss seiner Nasenschleimhäute hoch, dass man ein zähes, gelbes Sekret gleichsam blasenschlagend auf seinem Weg durch die Stirnhöhle hinauf und hernach wieder in allen klanglichen Facetten gurgelnd hinab in der Speiseröhre verfolgen konnte. 

ES WAR WIDERLICH!

Innersekretorisches Audible einfach horrible. Und die Veranstaltung zog sich. Dem Einheimischen hatte man natürlich kein Brevier über die kulturellen Sensibilitäten der Gäste überreicht, und ich konnte mich von der Saalmitte auch unmöglich durch die gesamte Stuhlreihe nach draußen drängeln. Zu meinem Unglück wollte der muntere Quell sämigen Sputums auch nicht ansatzweise versiegen, so dass der gewiss politisch wichtige Chinese sich mit der ausdauernden Regelmäßigkeit eines Pumpspeicherwerks im Fördern und Verklappen seiner inneren Werte übte. 

Natürlich ist es nicht fair, das Trauma von damals nun an den Münchner Frühstücksgästen ab- und aufzuarbeiten. Aber dafür hatte es nach einmaligem Schnäuzen dann in meinem Falle auch sein Bewenden, während ich weiland eine knappe Stunde litt. Auge um Auge, Nase um Nase. 

Es lebe die Sturzgeburt

Januar 17, 2020

Gabor Steingart in seinem Morning Briefing: „Erfahrungsschatz ist in dieser historischen Situation, wo sich die Herausforderungen von Digitalisierung, Globalisierung und Klimawandel gegen das Bestehende verschworen haben, nur ein anderes Wort für Sondermüll. Der Traditionalist ist der Idiot unserer Zeit.“

Ich finde, die Menschheit hat es mit dem Setzen auf Erfahrung und Nachdenken recht weit gebracht. Warum Kopflosigkeit und technologische Sturzgeburt Zukunftsmodelle sein sollten, erschließt sich mir nicht.

Aber wahrscheinlich bin ich auch nur ein Traditionalist…

Ausempört: Warum der BER ein Phantom ohne Schmerzen ist

April 13, 2019

Der Berliner Flughafen BER ist Deutschlands Statussymbol. Ein Symbol für den Status längst akzeptierten Staatsversagens. Zu hoch gegriffen? Mitnichten! Es ist das Versagen des Staates (Bund und zwei Länder, darunter die Hauptstadt), ein überschaubares Bauprojekt in der gebotenen Verantwortung für die Bürger umzusetzen. Inzwischen drücken sich die Regierungschefs von Berlin und Brandenburg davor, im Aufsichtsrat die eigentlich zwingende Mitverantwortung für die verschwendeten Steuer-Milliarden zu übernehmen, und der Bund lässt in Gestalt des Bundesverkehrsministeriums klar durchblicken, dass man sich die verhunzte Fliegerjacke ebenfalls nicht anziehen wolle.

Mit anderen Worten: Die Politik verweigert die Arbeit. Viel schlimmer aber ist: Der BER ist ausempört. Das milliardenschwere Versagen wird hingenommen, wie die endlosen Folgen einer schmierengemimten Dauerserie am Vorabend. Es ist ein Running Gag für Comedians, der längst zu fad und wohlfeil geworden ist und seinen Rang an die klapprige Flotte der Regierungsflieger abgegeben hat. Selbst in der Kombination von beidem erntet kaum mehr als resigniertes Abwinken: Flieger, die nicht fliegen auf einem Airport, der nicht öffnet. Haha.

Es gibt keine Eskalationsstufen mehr. Der Autor dieser Zeilen mag sich ereifern, bis der Blutdruck die Messmanschette bersten lässt, und schreibt doch ins Leere. Der Leser wird zustimmen und alsbald zum gewohnten Tagwerk übergehen. Muss ja weitergehen. Längst juxen die Hauptstadtzeitungen mit den gezählten Tagen seit der geplatzten Ersteröffnung des BER im Jahre 2012, haben Rubriken eingerichtet, um den täglichen Irrsinn geordnet abzulegen. Korrespondenten aus aller Welt haben sämtlich über das BERsagen Berlins und der Deutschen berichtet und finden in der Schönefelder Flugunfähigkeit ein stets verfügbares Reportage-Element, um das aktuelle Deutschland-Panorama zu zeichnen.

Der BER ist in die deutsche Alltagsfolklore eingewachsen, wie der Hamburger Fischmarkt, von dem man ebenfalls immer gewiss sein kann, dass er da ist, auch wenn man gerade nichts von seinen Marktschreiern hört: „Korruption, Unfähigkeit, völliges Chaos! Nennt mich verrückt, aber heute lege ich noch einen drauf! Hochdotierte und gescheiterte Top-Manager im halben Dutzend, Dübel, die nicht brandschutztauglich sind und einen noch frisch blutenden Steuerzahler… Und das Ganze nicht für eine Milliarde, nicht für zwei Milliarden oder drei – erzählen Sie es nicht weiter, es wird Ihnen sowieso niemand glauben: Dieses randvolle Paket voll Nichts heute und nur heute für Sie zum einmaligen Mitnahmepreis von sage und schreibe sechs Milliarden Euro! Das können Sie nicht fassen, die Dame dort in der ersten Reihe! Nicht gucken, zugreifen! Greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht und die nächste Verschiebung des Eröffnungstermins noch nicht spruchreif ist…“

Der BER ist ein Phantom, das schon lange nicht mehr schmerzt. Er ist ein eingewachsener Tumor, mit dem man sich abgefunden hat, und der höchstens noch zum geräuschvollen Fitness-Programm reicht. KOPFSCHÜTTELN über Züge, die auf Geistergleisen mehrfach am Tag durch tote Tunnel fahren, damit kein Pilz in den leeren Schächten wächst. SCHENKELKLOPFEN über Rolltreppen, die zu Ende sind, bevor das nächste Stockwerk da ist. Der BRÜLLER über Architekten, die auf die Physik PFEIFEN und im Brandfalle aufsteigendes Rauchgas nach unten absaugen wollen, damit zu Haupten der Passanten keine Rohr das Hallenwerk verunziert.

Der BER ist ein Exempel-Tempel für die Selbstüberhebung, die inzwischen selbst dem deutschen Ingenieur so schwör geworden ist, dass der Hosenbund vom Blaumann platzt. Erst greift man für eine simple Lkw-Maut zu den Satelliten und bringt über Jahre nur milliardenschwere Anschubkosten zustande, dann lässt man sich ausgerechnet beim Schummeln am deutschen Volkswagen erwischen und scheitert nun eine knappe Dekade am Errichten von Hallen, Hangar & Co.

Nur juckt all das im Falle des BER niemanden mehr. Dass sich die Kosten für den Abfertigungskomplex auf mindestens sechs Milliarden Euro nahezu verdreifachen – geschenkt. Dass die Skandale um Baufirmen und Fehlkonstrukteure kaum noch zu entwirren, geschweige denn zu ahnden sind – tja. Dass niemand die politische Verantwortung für das Desaster übernehmen will – bekannt und abgehakt.

Bürger-Ohnmacht hat einen Namen: BER!

 

PS: Wer mehr von Ralf Schuler lesen möchte, kann auch zum aktuellen Buch greifen: „Lasst uns Populisten sein. Zehn Thesen für eine neue Streitkultur“, Herder Verlag.

Aber gepflegt: Spahn, Islam und lange Haare

April 7, 2018

Mit gesellschaftlichen Debatten ist es wie mit Nietenhosen, Beat-Musik und langen Haaren: Wer Protest-Posen mit gönnerhafter Herablassung die bürgerliche Blümchen-Kittelschürze wohlmeinender Einhegung überstreifen will, macht sich lächerlich. Ich habe ja nichts gegen lange Haare, aber gepflegt müssen sie sein…

Müssen sie nicht.

Und Debatten über die Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland, die Politik und die Zukunft des Landes dürfen auch das sein, was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), „folgenlos“ nennt. Denn erstens stimmt es nicht, dass dieser Diskurs „folgenlos“ wäre, weil er klärt und erklärt, und seien es die Fronten. Zweitens sind Debatten das täglich‘ Brot der Demokratie. Drittens sind wir nicht mehr in der DDR, wo Diskussionen – wenn es denn überhaupt zu den Weisungen von Partei- und Staatsführung noch weitere (Wider)Worte geben musste – ausschließlich im realsozialistischen Sinne „konstruktiv“ zu sein hatten oder gar nicht. Und viertens schließlich wären allen Disputanden nichts lieber, als dass ihr Beitrag Folgen hätte: Die einen wollen, dass sich was ändert, die anderen nicht.

Das gilt auch für Kommentatoren, die dem Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorwerfen, mit seinen Wortmeldungen zu Hartz-IV oder dem Gefühl vieler Bürger, der Staat könne oder wolle sie nicht mehr schützen, illegal über die Grenzen seines Ressorts gewandert zu sein. Besonders drollig wirkt dieses Argument, wenn es von uns Journalisten kommt, die wir uns ja per se allzuständig fühlen und gern überall mitreden. Nicht auszudenken, da wollte sich wer erdreisten, Fachkundeprüfungen einzuführen oder Berechtigungsscheine auszuteilen! So frustrierend es mitunter sein mag: Wir dürfen das, und Jens Spahn darf es auch. Als Bürger, Politiker und Mensch.

Wenn dieses Land freiheitlich und demokratisch bleiben soll, braucht es vermeintlich „folgenlose“ Debatten ebenso, wie vermeintlich „nicht hilfreiche“ Bücher und streitbare Politiker. Denn in Wahrheit sorgen sich die Einwender nicht um das Ressortprinzip innerhalb der Bundesregierung, sondern ihnen passt schlicht die vorgebrachte Meinung nicht. Am schönsten ist in diesem Zusammenhang der beliebte Hinweis, das nütze doch alles nur der AfD. Motto: Wenn Wahrheit dem Falschen nützt, bleibt sie besser unausgesprochen. Ansonsten ist Widerlegung des Gesagten die bessere und eigentlich naheliegende Gegenwehr. Seltsam nur, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, Debatten abwürgen zu wollen, weil sie vermeintlich FDP, Linken oder Grünen nützten.

Ein gutes Beispiel für das Umgehen nicht mit dem Diskurs, sondern um ihn herum, sind die Einlassungen zur „Erklärung 2018“, die sich häufig um die Unterzeichner, die „neue Rechte“ aber nur selten um den im besten Sinne inklusiv überschaubaren Inhalt drehen. In dem nur 33 Worte umfassenden Text wird ein Ende der „illegalen Masseneinwanderung“ gefordert, was eigentlich niemanden aufregen dürfte, weil Illegales zu unterbinden in einem Rechtsstaat selbstverständlich sein sollte. Der einzige argumentative Versuch, mit der Erklärung umzugehen, ist regelmäßig der Verweis darauf, dass die Migrantenzahlen ja schon deutlich zurückgegangen seien. Das stimmt. Doch noch immer kommen rund 15 000 Menschen monatlich nach Deutschland, ein großer Teil davon illegal (z.B. über sichere Drittstaaten). Mehr als 20 000 Illegale wurden 2017 bei der widerrechtlichen Einreise an Deutschlands südlichen Grenzen aufgegriffen, rund 3000 (auf Grund der verschärften Grenzsicherung in Skandinavien) im Norden. Die Logik, man solle sich nicht so haben, schließlich werde inzwischen ja deutlich seltener Recht gebrochen, wird aber niemand ernsthaft akzeptieren wollen. Die Autoren der Erklärung mahnen mithin Selbstverständliches an. Dass sie das müssen, ist der Skandal!

Eine ganz andere Frage, an die sich derzeit freilich niemand heranwagt, lautet: Ist die von der GroKo vereinbarte jährliche Migrationsquote (puh, nur nicht „Obergrenze“ sagen!) auch dann noch verkraftbar, wenn schon mehr als 1,5 Mio. Migranten aus 2015/2016 im Land sind? Die 200 000 Zuwanderer pro Jahr sind eine Erfahrungsgröße aus der Nachwendezeit, die nur sechs Mal erreicht wurde und sich dabei bislang als unproblematisch erwies. Zum Vergleich: 1,5 Mio. Menschen leben in Köln und Essen zusammen, eine Stadt wie Kassel (rd. 200 000 Einwohner) käme jährlich hinzu. Die Metapher einer Stadt ist dabei durchaus passend, denn der allgemein geltende Anspruch besteht ja darin, jeden mit Job, Wohnung, sozialem Umfeld, Schulen, medizinischer Betreuung etc. zu versorgen.

Illusion Integration

Und weil wir gerade dabei sind: Die schönen Reden über die Anstrengungen für mehr Integration sollten wir uns dabei ganz schnell aus dem Kopf schlagen. Wer gezählt hat, wie oft die neue, in Berlin-Neukölln erprobte Familienministerin Franziska Giffey (SPD) bei Maybrit Illner die Wendungen „ich wünsche mir“, „wir brauchen mehr“ oder „wir müssen dafür sorgen, dass“ verwendet hat, der ahnt zumindest den Grund: Integration wird auch in Zukunft in Deutschland Glückssache bleiben und vom individuellen Willen des einzelnen Migranten abhängen. Integrations- und Deutschkurse sind ein rührender Versuch des Verwaltungsstaats, mit seinen Mitteln zu befördern, was er in Wahrheit nicht befördern kann. Unser freiheitliches Staats- und Rechtswesen ist bis in die letzte Ecke mit Abwehrrechten der Bürger gegen die Bevormundung durch den Staat ausgestattet. Jeder einzelne von uns würde sich dagegen verwahren, wollten ihm Behörden in die persönliche Lebensweise hineinreden. Mit welchem Recht wären an Migranten andere Maßstäbe anzulegen?

So kommt es zu der absurden Konstellation, dass Aktivisten alljährlich gegen das aus christlicher Kulturgeschichte hervorgegangene Tanzverbot an Karfreitag aufbegehren, aber sich in jede Bresche werfen würden, um verhüllende Kleidungsgebote des Islam als individuelles Recht und gelebte Religionsfreiheit zu verteidigen. Unter libertären Gesichtspunkten ein konsequenter, sympathischer Zug: Die einen wollen tanzen, die anderen Kopftücher und archaische Geschlechterrollen, beide sollen es bekommen. Für das organische Einwachsen von Migranten in unsere Gesellschaft freilich ist das schlicht kontraproduktiv. Das Ausleben einer antiwestlichen, islamischen Gegenkultur mit Ablehnung von Säkularität und autoritärem Verständnis von Staat und Religion wird so geradezu unter den Schutz unserer freiheitlichen Ordnung gestellt.

Die einzige gangbare Alternative dazu findet bei uns in Deutschland allerdings ebenfalls politisch weder Akzeptanz noch Mehrheiten: Klassische Einwanderungsländer wie USA, Kanada oder Australien verfügen über ein deutlich „schlankeres“ Sozialsystem und erzwingen einen großen Teil der Integration durch materielle Interessiertheit. Die Greencard ist die Chance, wenn du sie nicht nutzt, dich nicht jobdienlich anpasst, winken Armut, Heimreise oder letzter Halt in landsmannschaftlicher Seilschaft, nicht selten kriminell. Aber Migranten integrativ „aushungern“? Der Aufschrei wäre in Deutschland programmiert. Der stetige Zulauf zu schon jetzt oft prekären Migranten-Milieus wird das integrative Scheitern weiter beschleunigen.

Grund und Gegenstand genug für jede Menge Debatten. Nie waren sie so wertvoll wie heute.

Denkzettel als Regierungsauftrag – ein Missverständnis

Februar 7, 2018

Es gibt Anfänge, denen wohnt gar nichts inne. Das nächtelange GroKo-Gewürge ist so einer. Das könnte daran liegen, dass es gar kein Anfang ist, sondern der dritte Neuaufguss. Es könnte aber auch damit zu tun haben, dass den Beteiligten das Gespür für die politische Wetterlage völlig abhanden gekommen ist. Und das gleich in vielfacher Hinsicht.

+++ Schulz: Ein gescheiterter Parteichef, der einen desaströsen Wahlkampf hingelegt hat und sich das sogar vom „Spiegel“ protokollieren ließ, die Wahl mit Allzeit-Tief verlor, die SPD nicht in eine neue Koalition führen und unter Angela Merkel kein Minister werden wollte, soll jetzt in einer neuen GroKo Außenminister werden. Absurd. Angesichts seiner bisherigen Wut-Kommentare zu Orbán, Polen, Briten, Trump, Putin, Kurz und Österreich wird er das Amt allerdings besser in Homeoffice führen.

+++ Das Beängstigende daran ist, dass hier offenbar alle gängigen Wettbewerbsregeln des politischen Betriebs nicht mehr gelten und die parteiinterne Konkurrenz auch keine Lust hat, die fällige Quittung für offensichtliches Versagen auszustellen. Bei der Union sieht es nicht besser aus. Der langjährige CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach brachte es am Dienstagabend (6. Feb) bei Markus Lanz auf den Punkt: „Wenn sich die Unionsführung hinstellt und sagt: Das ist das Ergebnis, dann sagt die Basis: Ok. Bei der SPD fängt dann das Theater erst an.“ Bei welcher von beiden Parteien angesichts dessen mehr im Argen liegt, fragte Lanz nicht.

+++ Es soll kein „weiter so“ geben, sagen die drei Wahlverlierer und machen weiter. Das Signal ist verheerend. Zeigten die letzten Umfragen bereits den Trend zum Schrumpfen der ehemals Großen zu einer eher kleinen Koalition, so dürfte sich dieser Vertrauensverlust noch verstärken. Der Denkzettel der Wähler wird zum Regierungsauftrag umdeklariert. Die vermeintlich mit der Regierungsbildung gewonnene Stabilität bedroht so mittelfristig den Akzeptanz-Kern des politischen Systems insgesamt, stärkt die Ränder, treibt Polarisierung und Aggression voran.

+++ Inhaltlich ist der Koalitionsvertrag ein Dokument der Erschöpfung. Kleinteilige Sozialstaatsreparatur, die nichts schadet aber viel kostet. Völlig schräg wird es bei den von der SPD zu Knackpunkten hochgejazzten Schlagworten „sachgrundlose Befristung“, Bürgerversicherung und Familiennachzug. Auf die tiefe und anhaltende Vertrauenskrise durch die unkontrollierte Massenmigration im Jahr 2015 mit 1000er Kontingenten nachziehender Familien zu reagieren, ist schon aberwitzig. Noch absurder mutet es an, wenn man sich klar macht, dass es diesen Familiennachzug für Migranten mit geringem Schutzstatus faktisch noch nie gab (lediglich einigen Monate im Jahr 2015) und die Integration von Menschen befördern soll, die offiziell nicht in Deutschland bleiben können und sollen. Während das Thema „Flüchtlinge“ noch immer in nahezu allen Befragungen über die Problemwahrnehmung der Menschen ganz oben steht, wird also neuer Zuzug geregelt, während das Wort „Obergrenze“ ausdrücklich mit Tabu belegt wird, obwohl selbst die avisierten 200 000 Migranten pro Jahr die Aufnahme einer Stadt wie Kassel bedeuten. Bevölkerung hör‘ die Signale.

+++ Besonderen Charme hat auch das Europa-Kapitel. Legt man es zusammen mit der Ankündigung von Schulz, das „Spardiktat“ in Europa habe jetzt ein Ende und hat nicht vergessen, dass Deutschland selbst höhere Beitragszahlungen an Brüssel angeboten hat, dann kann sich auch der Rest Europas über die neue GroKo freuen.

+++ Dass die Union die beiden wichtigen Ministerien Außen und Finanzen weggibt, macht nur noch ratlos und folgt offenbar dem alten Spruch: Wer regieren will, muss fühlen. Immerhin konnte die Union 100 Prozent ihres Programmes durchsetzen: Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Manchmal bleibt halt nur Sarkasmus.

Natürlich kann die SPD-Basis all das ganz anders sehen, sich couragiert für die Erneuerung ihrer Partei in der Regierung aussprechen und die nun verteilten Minister widerlegen jegliche Miesepetrigkeit durch überzeugende, zupackende Arbeit. Es kann aber auch sein, dass der politische Aschermittwoch künftig auf einen Donnerstag fällt.

Die Besserwissergesellschaft und ihre Freunde

Dezember 5, 2017

Der Unterschied zwischen Wissensgesellschaft und Besserwissergesellschaft ist nicht groß. Eine Winzigkeit Realität lieg dazwischen.

Glyphosat ist krebserregend, wer was anderes behauptet, ist ein Lobbyist der Chemiekonzerne und natürlich ein Umweltschwein. Diesel verpestet die Luft, und wer an den Messwerten und ihrer Erfassung zweifelt, ist verlängerter Arm der Autoindustrie, zumindest aber potentieller Vergifter unserer Kinder. Es macht vieles leichter, wenn man sein Bild von der Welt vom angenommenen Ergebnis rückfolgert, anstatt die Realität zu erkunden.

Weil die Annahme stimmen muss, arrangiere man die Fakten passend. Ein Prinzip, dass gerade in der Politik auch immer beliebter wird. So schreibt der geschätzte Kollege Heribert Prantl in der SZ, in Bayern boome die Wirtschaft „trotz der CSU“ höre er. Das ist schon beachtlich: Obwohl sich die Christsozialen nach Kräften bemühen, es der heimischen Ökonomie schwer zu machen, rappelt die sich wieder hoch. Da kann man nur zurufen: Bleibt tapfer, liebe Unternehmen, in dem Land dass nach Ansicht der SZ seit 70 Jahren falsch regiert wird, in dem die Menschen immer wieder gegen ihre Interessen wählen, sich jetzt in Gestalt von Markus Söder schon wieder (!) ein unfähiger Kandidat durchgesetzt hat und die Menschen in Scharen aus dem ganzen Rest der Republik einwandern.

Völlig richtig macht es dagegen derzeit die SPD. Sie wollte eigentlich nicht wieder in die Große Koalition mit der Union, aber weil Frankreichs Präsident Macron SPD-Chef Martin Schulz mehrfach gedrängt hat, doch wieder mit der Kanzlerin gemeinsame Sache zu machen, hat er die Sache jetzt noch mal überdacht. Schließlich brauchten Macrons Reformpläne für Europa eine stabile Regierung in Berlin.

Das wird SPD-Mitglieder und Wähler sicher überzeugen, dass Macron drängelt. Früher wollten Parteien noch regieren, um sich für die Interessen ihrer Anhänger im Lande einzusetzen, aber wenn Macron ruft, wer wollte sich da verschließen!? Auch Griechenlands Premier Alexis Tsipras habe mehrfach gesimst und zur GroKo ermuntert, ließ Schulz wissen. Wenn das kein Grund ist! Europas größter Polit-Windbeutel sorgt sich um unpünktliche Überweisungen aus der Nord-EU und gibt Tipps für die Regierungen der Nettozahler.

Läuft!